Die Götter spielen Theater – Gedanken zu Stefan Herheims „Ring des Nibelungen“ an der Deutschen Oper Berlin

DEUTSCHE OPER BERLIN GÖTTERDÄMMERUNG Premiere 17.10.2021 Fotograf, Bernd Uhlig

Sehnlich erwartet und coronabedingt besonders hart erarbeitet war dieser „Ring“, der im November 2021 zum ersten Mal als Zyklus an der Deutschen Oper aufgeführt wurde. Mit wenig Begeisterung aufgenommen, stand er doch in der Folge des 33Jahre lang gespielten „Tunnel-Ring“ Von Götz Friedrich, der bis zur letzten Vorstellung Ostern 2017 ausverkauft war. Die Kulissen aber machten nicht mehr mit, die Baupolizei wäre eingeschritten.,

Stefan Herheim, 1970 in Oslo geboren, Schüler von Götz Friedrich und erfolgreicher Opernregisseur an zahlreichen Bühnen, bekannt vor allem wegen seines „Parsifal“ in Bayreuth, erhielt den Auftrag für den Nachfolgering, der jetzt im Mai in drei Zyklen gespielt wurde, Unterstützt wurde er von den Dramaturgen Alexander Meier-Dörzenbach und Jörg Königsdorf.

Bei Herheim spielen die Götter Theater und über 30 Statisten spielen mit. Bevor beim „Rheingold“ die Kontrabässe im Orchestergraben mit dem berühmten Es-Dur einsetzen zieht ein Flüchtlingskollektiv in Begleitung von Licht- und Nachtalben über die leere Bühne. Mit Koffern ausgerüstet ziehen sie auf einen Konzertflügel zu, auf  dem Wotan  den Einsatz des Vorspiels durch einen Tastendruck initiiert. Beim Anschwellen der Musik ziehen sich die Flüchtlinge bis auf die Unterwäsche aus und beginnen sich rhythmisch und gestisch nach der Wellenmusik zu bewegen. Am vorderen Bühnenrand packt eine männliche Figur einen Koffer aus und beginnt sich als Alberich zu schminken.

Das Bühnenbild von Stefan Herheim und Silke Bauer aus hunderten von Koffern, die eine monochrome stufige Felsenlandschaft bilden, oder wie in der „Walküre“ als Hundings Hütte an die Felsformationen der „Toteninsel“ von Arnold Böcklin erinnern, passt in in Herheims Konzept. Der Ring spielt an keinem bestimmten Ort und in keiner bestimmten Zeit, lieber wird an Chereaus Jahrhundertring erinnert, der auch von Böcklins Gemälde inspiriert war. Die Rezeptionsgeschichte des Rings zu zitieren ist nicht unbedingt neu, hat aber doch einen gewissen Reiz, der auch von den Kostümen der Ursprungsinszenierung ausgeht. Bunt gemischt sind Bärenfell und Maßanzug, wallende Kleider und Alltagsschuhwerk. Siegfrieds  Flügelhelm darf nicht fehlen und Wotans Schlapphut als Wanderer im „Siegfried“ (Kostüme von Uta Heiseke). Neu und umstritten dagegen sind die Statisten in Unterwäsche, die immer dann getragen wird, wenn es um Unschuld oder Liebe geht und das Orchester in romantischer Tradition aufblüht. Als Alberich sich gegen die Liebe und für das Gold entscheiden wird, paaren sich die Menschen zum Liebesakt wie auch im „Siegfried“ zu dem finalen Liebesduett der Protagonisten. Nackttrikots statt Unterwäsche? Aber Herheim ist nicht Calixto Bieito!

Spektakulär in dieser Inszenierung ist der Umgang mit der fließenden weißen Gaze, die gezogen, geworfen, umhüllend für Personen und im großen Format auch für ein großflächiges Element des Bühnenbildes werden kann. In der „Götterdämmerung“ dient sie sowohl als opulenter Brautschleier als auch als Totentuch, immer aber als theatralisches Mittel, um die Interaktionen auf der Bühne zu verstärken. Die visuelle Opulenz der Inszenierung, wozu auch die Massen der zerschlissenen Koffer gehören, ist ein Markenzeichen des Regisseurs und verstärkt die dramatischen Vorgänge sicherlich in Richard Wagners Sinn, der die Bühne immer mitgedacht hat.

Kritisch ist das Zusatzpersonal zu sehen, das Herheim auf die Bühne bringt. Die Flüchtlinge werden zu Zuschauern, klatschen auch mal Beifall und sollen in ihren stummen Rollen den Spielcharakter verstärken. Fragwürdig wird es, wenn eine frei erfundene Einzelfigur das gewohnte Opernritual stört. In der „Walküre“, dem ersten Akt mit der wunderbaren Liebesgeschichte zwischen Siegmund und Sieglinde, irritiert ein kindhaftes Wesen, das bedrohlich mit einem Messer herumfuchtelt. Es soll ein Kind mit Behinderung von Sieglinde und Hunding sein, das Siegmund trotz der Bedrohung fürsorglich behandelt. Vor den „Winterstürmen“, dem berühmten Liebesduett, bringt Sieglinde dagegen ihren Sohn um. Solche Regieeinfälle verärgern vor allem ein Publikum, das die romantischen Elemente bei Wagner besonders liebt. Auch nach der Lieblingsmusik vieler Opernbesucher, nach der  letzten Szene der „Walküre“ mit Wotans Abschied von seiner Lieblingstochter Brünnhilde und nach dem hochdramatischen Abschluss aus dem Orchestergraben gibt es einen Publikumsschock. Muss man hier auf Vorbühne noch Mime als Hebamme für Sieglinde  sehen?

Auf jeden Fall hat Stefan Herheim seinen Wagner aufmerksam gelesen, denn Mime erzählt im nächsten Teil des Zyklus seinem Ziehsohn Siegfried prahlerisch von seiner Geburtshilfe. Weitgehend lässt der Regisseur nur das spielen, was auch gesungen wird, und eine eigene inhaltliche Ergänzung ist die Ausnahme. Nach Herheims Aussage ist seine Bilderfindung  vom Versuch geprägt, sich von existierenden zu befreien und „unentdeckte Schichten freizulegen“, wozu sicher die der Erotik gehört.

Das Prinzip der Erneuerung prägt im besonderen Maß die Inszenierung des letzten Ring-Teils, die der „Götterdämmerung“. Nach der Nornenszene mit Kofferlandschaft spiegelt die Bühne das Parkettfoyer der Deutschen Oper mit der kinetischen abstrakten Wandskulptur von George Bakers aus dem Jahr 1978. Der reale Zuschauer findet sich in den umher wandelnden Opernbesuchern wieder, aber auch der Bösewicht Hagen, der später aus dem Parkett heraus singt, ist dabei. Die Halle der Gibichungen und das Opernfoyer, wie geht das zusammen? Nach der machtlosen Liebe und der lieblosen Macht der Götter und Halbgötter sind wir jetzt bei den Menschen angekommen. Der mythologische Charakter des Werks, auch der Konzertflügel, der meistens in der Mitte der Bühne stand, ist buchstäblich Nebensache. Wir sind auch in der Gegenwart angekommen mitten im Spiel um den Ring. Und das Böse weilt unter uns?  

Die „Wolken“ des nachgebauten Kunstwerks im Opernfoyer wachsen im Bühnenbild weiter in den Himmel und werden zu Baumwipfeln des Waldes, in dem Siegfried getötet wird. Die Flüchtlinge sind zur letzten Szene auf die Bühne zurückgekehrt und umzüngeln zum Schluss als Flammen mit rhythmischen Bewegungen den Scheiterhaufen sprich den Konzertflügel, von dem Brünnhilde in die Unterbühne entschwindet. Und die komplexe großartige Musik, die nach ihrem Freitod einsetzt, lässt auch den abgeklärtesten Opernbesucher mit Ergriffenheit zurück. Selbst in dieser künstlichen Welt der Oper  könnte „der roheste Mensch anfangen zu empfinden“ (frei nach Schiller).

Ohne die spätromantische und gleichzeitig neuartige Musik von Richard Wagner wäre also ein solches  Opernerlebnis nicht denkbar. 1853, als er mit der Komposition beginnt, schreibt er an Franz Liszt; „Eine neue Welt legt sich mir offen….ich sehe einen Reichtum vor mir , wie ich ihn nie zu ahnen wagte…alles wallt und musiziert in mir…“. Bis zur Vollendung der gesamten Komposition dauerte es  noch mit Unterbrechung bis zum Jahr 1874.  Das Riesenwerk, einmalig in der Geschichte der Oper, erlebte dann seine Uraufführung 1876 in Bayreuth.

Wir wissen nicht, wie damals die Wagner-Musik geklungen hat. Jetzt, mit dem wagnererfahrenen Orchester der Deutschen Oper unter Donald Runnicles klang sie großartig, zumal der Dirigent Rücksicht auf die Sänger nahm und es nur ins gesangsfreinen Passagen  richtig krachen lassen. Der Gesangsstar des Abends war sicher Clay Hilley mit der kräfterzehrenden Rolle des Siegfried. Ein Heldentenor der Extraklasse! Im dritten Zyklus sang Daniela Köhler die Sieglinde statt Elisabeth Teige, die als Brünnhilde im „Siegfried“ wieder auftreten konnte. Zwei Sängerinnen mit reichlich Volumen und Strahlkraft, aber unterschiedlichem Timbre. Die hochdramatische Partie der Brünnhilde in der „Götterdämmerung“ sang Ricarda Merbeth mit anhaltend guter Kondition und starkem Ausdruck. Wotan (Derek Welton) mit wohlklingndem Bassbariton wirkte für seine Vaterrolle in der „Walküre“ etwas zu jugendlich, während Iain Paterson in den anderen Teilen des Rings stimmlich und optisch einen guten Wotan abgab.

Der hawaiianische Bariton Jordan Shanahan als Alberich fiel mit einem besonders biegsamen Bariton und schauspielerischen Fähigkeiten auf. Albert Pesendorfer als Hagen klang stimmlich überzeugend aber nicht böse genug. Es wurde insgesamt gut bis sehr gut gesungen an diesem Abend,  Chor und Extrachor inklusive.

Viele Berliner werden ihren neuen „Ring“, der erst 2026 wieder gespielt wird, lieben lernen. Vielleicht auch die restliche Wagner-Welt.

DEUTSCHE OPER BERLIN
SIEGFRIED
• Sir Donald Runnicles. Nicholas Carter (11.05.2024)

DEUTSCHE OPER BERLIN
SIEGFRIED 2024
Musikalische Leitung
Sir Donald Runnicles
Nicholas Carter (18.05.2024)

DEUTSCHE OPER BERLIN
SIEGFRIED
Regie: Stephan Herheim
Bühne: Silke Bauer
Kostüme: Uta Heiseke
Licht: Ulrich Niepel
Video: Torge Möller
Darsteller: Ya-Chung Huang

Fotograf Bernd Uhlig

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Über Sylvia Hüggelmeier 34 Artikel
Sylvia Hüggelmeier studierte Kunstgeschichte, Germanistik, Publizistik und Pädagogik an den Universitäten Münster/Westfalen und München. Seit 1988 schreibt sie als Freie Journalistin für verschiedene Zeitungen.