Streit ist der Sauerstoff für die Demokratie

Demokratie  braucht den Streit, die Kontroverse – auf allen Ebenen: privat, kollektiv, institutionell. Widerspruch und Dissens gegenüber dem Ist-Zustand, sind durch unsere Verfassung nicht nur geschützt, sondern konstitutiv verankert. Helmut Ortner über Streitlust und Streitkultur

Hierzulande gilt der gerne und oft beschworene »Grundkonsens der Demokraten« als das stabilisierende Fundament der Nachkriegsrepublik. Gestritten werden soll im Parlament, nicht auf Straßen und Plätzen. Öffentliche Orte gelten als notfalls auch mit (Gesetzes-)Gewalt zu verteidigende »Ruhezonen«. Lauter und widerspenstiger Streit wird von selbsternannten Musterdemokraten als Anomalie des politischen Regelbetriebs gebrandmarkt. Statt Streit und Debatte wünscht man sich Kompromiss und Konsens.

Freilich: Nicht im Konsens, sondern in der Freiheit, diesen Konsens immer wieder infrage zu stellen, liege der normative Kern einer Demokratie. Streit ist gewissermaßen »systemrelevant«.  Zweifel, Aufbegehren, Widerstand sind keine Untugenden in einer freien Gesellschaft, sondern deren Grundlage. Streit ist konstitutiv für die Demokratie – auf allen Ebenen: privat, kollektiv, institutionell. Unsere Demokratie lebt von der Kontroverse. Nur durch ständige öffentliche Debatte können wir erfolgreich die unterschiedlichen Interessen koordinieren. »Nur im Streit klären wir, was uns als Gesellschaft wichtig ist, welche Werte wir grundsätzlich vertreten wollen und welche politischen Entscheidungen wir als Gesellschaft zu tragen bereit sind. Am Ende steht der Kompromiss. Er darf nicht der Anfangspunkt einer streitbaren Diskussion sein, sondern deren Endpunkt«, meint Michel Friedman. Der Jurist, Publizist und Philosoph hat ein kompaktes, kluges Buch über das Streiten geschrieben, dass in die Zeit passt. (Streiten? Unbedingt!, Duden Verlag). Darin verwebt er Gesellschafts- und Kulturkritik mit philosophischen Reflexionen und persönlichen Erfahrungen. Friedman gilt selbst als überaus streitbarer Mensch, der in seinen medialen Auftritten gekonnt Argumente, Polemik und Selbstinszenierung verwebt, um für seine Positionen öffentlichkeitswirksam einzustehen. Kurzum: ein streitbarer Vertreter demokratischer Streitkultur.

Wann aber kann ein produktiver, ein erkenntnisreicher, guter Streit entstehen? »Das Formulieren der eigenen Position, der Haltung, der These, des Gedankens, das Deutlichmachen, wofür man steht, ist der erste Schritt eines produktiven Streits. Wenn all Beteiligten den gleichen Raum und die gleiche Aufmerksamkeit bekommen, kann ein guter Streit beginnen…«, meint Friedman. Und er verweist darauf, dass in den letzten Jahrzehnten unsere  Wohlstands-Demokratie oft davon geprägt war, Konflikte zu vermeiden – und dort, wo sie auftraten eher zu nivellieren und zu befriedigen. Zuviel – vor allem zu leicht und schnell erreichter ­– Konsens begünstigt den Opportunismus, er belohnt Kritiklosigkeit, er bedroht die Individualisierung des Denkens. Konformismus statt Pluralismus.

Eine offene Gesellschaft aber lebt von Vielfalt, von Streit und Widerstreit. Streit ist  Sauerstoff für die  Demokratie.  Er ist gewissermaßen »systemrelevant«. Friedman plädiert dafür, den »Kooperationsgedanken wieder zu stärken, denn Streit schafft nicht nur soziale Beziehungen, selbst dort, wo zuvor keine waren, ja, er ist selbst eine spezielle Art einer sozialen Beziehung«. Freilich: Demokratie ist nicht allein Gemeinschaft. Demokratie ist vor allem Gesellschaft, also das Aufeinandertreffen und die Akzeptanz unterschiedlicher Interessen,  Sichtweisen und Meinungen. Man möchte gerne, aber man kann ( … und muss!) nicht mit jedem streiten. Fanatiker, Extremisten und Populisten hören ohnehin nicht zu. Sie interessieren  sich nicht für andere Meinungen. Sie bewegen sich lieber in ihren abgeschotteten Echoräumen. Sie scheuen den Dialog. Sie sind Autisten.

Die österreichische Autorin und Psychiaterin Heidi Kastner ist der Ansicht, man müsse nicht unbedingt die Mühsal des Streitens auf sich nehmen, vor allem dann nicht, wenn keinerlei Dialog- und Kompromiss-Bereitschaft bei den Beteiligten vorhanden ist. Dann, so Kästner in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung,  verzichte man  besser darauf und benennt es als das, was es ist: „nämlich eine zweckbefreite und absehbar ergebnislose Kombination zweier Monologe, und spart sich Mühe, Ärger und Zeit, mit Menschen zu diskutieren, die das Recht auf eine eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten verwechseln.“ Ich möchte Frau Kastner uneingeschränkt zustimmen. Ansonsten gilt: Streiten ist lebenswichtig für eine offene Gesellschaft, für eine lebendige Demokratie. Wir brauchen nicht weniger, sondern vor allem besseren Streit. Gerade in diesen Zeiten.

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Vom Autor erschien:

WIDERSTREIT

Über Wahn, Macht und Widerstand

Nomen Verlag Frankfurt

248 Seiten,  20 Euro

Über Helmut Ortner 96 Artikel
Geboren 1950 in Gendorf/Oberbayern und aufgewachsen in Frankfurt am Main. Schriftsetzerlehre, anschließend Studium an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, Schwerpunkt Grafik-Design. Es folgt Wehrdienstverweigerung – und Zivildienst. Danach journalistische Lehrjahre: Redakteur, Chefredakteur (u.a. Journal Frankfurt, Prinz). Ab 1998 selbständiger Printmedien-Entwickler mit Büro in Frankfurt. Konzepte und Relaunchs für mehr als 100 nationale und internationale Zeitschriften und Zeitungen, darunter Magazine wie Focus, chrismon, The European und Cicero, sowie Tages- und Wochenzeitungen, u.a. Das Parlament, Jüdische Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Allgemeine Zeitung, Wiesbadener Kurier, Darmstädter Echo, De Lloyd Antwerpen, NT Rotterdam sowie Relaunchs in London, Wien, Sofia, Warschau und Dubai. Zahlreiche Auszeichnungen (u.a. European Newspaper Award, Hall of Fame, CP Award Gold). Daneben journalistische Beiträge zu politischen und gesellschaftlichen Themen, veröffentlicht in div. Tageszeitungen und Magazinen. Erste Buchveröffentlichung 1975, seither mehr als vierzig Veröffentlichungen. Übersetzungen in bislang 14 Sprachen (2018). Zahlreiche Preise und Einladungen: Stadtschreiberpreis der Stadt Kelsterbach, Lesereise Goethe-Institut Südamerika, Teilnahme an Buchmessen in Havanna, Istanbul und Buenos Aires sowie Lit.Col. Köln 2017. Zuletzt Lesereisen nach Lissabon, Turin, Tokyo. Helmut Ortner lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und in Darmstadt. Er ist passionierter Radrennfahrer, Eintracht Frankfurt-Fan und Pat Metheny-Liebhaber.