Wie würde Europa heute aussehen, hätte Bundeskanzler Helmut Kohl im Spätherbst 1989 nicht die historische Chance ergriffen und das Ziel der Deutschen Einheit verkündet? Er, der überzeugte Europäer, betrachtete die Wiedervereinigung nicht als rein deutsches, sondern immer auch als europäisches Einigungsprojekt. „Meine Damen und Herren, es eröffnen sich Chancen für die Überwindung der Teilung Europas und damit auch unseres Vaterlandes.“ Mit diesen Worten begann er am 28. November 1989 seine historische Rede vor dem Deutschen Bundestag, die unser Land und mit ihm halb Europa verändern sollte. Er legte damit den Grundstein für die Europäische Union, wie wir sie heute kennen und die Frage stellt sich, ob wir aktuell mit einer vergleichbaren europäischen Weitsicht und Entschlossenheit handeln.
Denn über 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs steht Europa erneut an einem Scheideweg. Der Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine stellt die europäische Friedensordnung in Frage und Europa muss darauf eine angemessene Antwort finden. Georgien, Moldau und die Ukraine haben in Folge des Krieges EU-Beitrittsanträge gestellt. Im Westbalkan stecken Montenegro, Serbien, Albanien, Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina sowie der Kosovo in unterschiedlichen Beitrittsstadien fest.
Dies ist eine historische Chance für die EU. Für mich steht fest, dass wir den Ländern Osteuropas und des Westbalkans eine ehrliche Beitrittsperspektive geben müssen – und zwar jetzt. Diese darf sich nicht auf den freundlichen Hinweis auf jahrzehntelange Beitrittsverfahren oder den offiziellen Kandidatenstatus beschränken, sondern es müssen neue Formen der Annäherung an die EU gefunden werden, etwa eine schnelle Integration in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Wenn uns das nicht gelingt, riskieren wir eine neue Spaltung Europas. Einen neuen Eisernen Vorhang, der zwischen den demokratischen und freiheitlichen Ländern der EU und Ländern verlaufen würde, die das Unglück haben, sich in der Einflusssphäre des neosowjetischen Machtanspruchs Russlands zu befinden.
Damals wie heute lohnt es sich, den Prozess vom Ergebnis her zu denken. Soll am Ende eine erweiterte EU mit einer festen Einbindung in die NATO und starken eigenen Verteidigungsstrukturen stehen? Ich halte eine 2. Osterweiterung der EU mit dieser Maßgabe für das Gebot der Stunde. Helmut Kohl stellt damals einen 10 Punkte Plan vor: Humanitäre Hilfe, umfassende und längerfristige Wirtschaftshilfen, der Ausbau der bilateralen Zusammenarbeit, die Schaffung einer Vertragsgemeinschaft mit der DDR, die Schaffung einer Konföderation, die Einbettung dieses Prozesses in den europäischen Einigungsprozess, die Unterstützung der Beitritte reformorientierter Ostblock-Staaten, die Forcierung eines KSZE-Friedensprozesses sowie eine Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik für ganz Europa, einschließlich Russlands. Erst am Ende sollte die deutsche Einheit stehen.
Viele dieser vorgeschlagenen Schritte können uns auch in der gegenwärtigen Situation helfen. Denn schon damals gab es keine scharfe Trennlinie zwischen Maßnahmen, die ausschließlich der Wiedervereinigung dienten und Maßnahmen, die das Projekt Europa unterstützten. Das deutsche Schicksal war mit dem europäischen Schicksal verbunden – und andersherum. Das war damals richtig und ist es auch heute noch. Vieles erinnert ohnehin an die damalige Zeit, nicht zuletzt die Debatten um die innere Struktur der EU. Die Zukunftskonferenz der EU hat gezeigt, mit welcher Schwerfälligkeit bei der Reform eines seit Jahrzehnten gewachsenen Vertragswerks zu rechnen ist. Doch fest steht auch, dass die EU selbst aufnahmefähig werden muss, bevor sie sich auf eine 2. Osterweiterung ernsthaft einlässt. Hier muss die EU mutiger werden und einen Konvent zur Reform der Verträge einberufen. Ein solcher Konvent wäre vermutlich das deutlichste Zeichen an Osteuropa, dass es die EU wirklich ernst meint. Deutlicher als alle Bekundungen einzelner Regierungschefs auf Kiew Besuch.
Letztlich wird eine 2. Osterweiterung aber nur in einer neu verabredeten europäischen Friedensordnung gelingen können. Helmut Kohl schlug damals die Forcierung des KSZE-Friedensprozesses sowie Abrüstung und die gegenseitige Rüstungskontrolle vor. Angesichts des Schreckens in der Ukraine und den vielen Wunden, die dieser Krieg tagtäglich aufreißt, könnte die Frage des Friedens und des gegenseitigen Vertrauens zu den größten Bürden einer 2. Osterweiterung gehören. Denn ein Fundament eines jeden EU-Beitritts ist es, weder in bilaterale noch in regionale Konflikte verstrickt zu sein.
Bei Helmut Kohl stand die Wiedervereinigung Deutschlands erst am Ende eines langen europäischen Annäherungsprozesses. Damit setzte er auf eine Strategie der kleinen Schritte hin zu einem großen Ziel. Was hält uns also davon ab, eben diesen Weg mit Blick auf die Ukraine und andere osteuropäische Länder erneut zu gehen? Dazu braucht es starke Signale der Offenheit für eine 2. Osterweiterung, einen langen Atem bei der Umsetzung und vor allem den Ehrgeiz, die Richtung des europäischen Tankers ein Stück herumzureißen. Erst wenn uns dies gelingt, können wir dem Vermächtnis der Nachkriegsgeneration gerecht werden und die (erneute) Spaltung Europas verhindern.