Der alte und der neue Ministerpräsident Thüringens heißt Bodo Ramelow – Stefan Groß traf den Politiker zum Interview: „Wir müssen gegen den Fundamentalismus kämpfen“

Ministerpräsident Bodo Ramelow, Foto: Stefan Groß

Der Kampf um die Macht in Thüringen ist entschieden. Der alte Ministerpräsident Thüringens wird auch der neue sein. Am 25. April 2021 wählt Thüringen einen neuen Landtag. Wir haben vor längerer Zeit Bodo Ramelow in der Staatskanzlei besucht. Die Fragen sind geblieben, deswegen bringen wir das Interview erneut.

Herr Ministerpräsident Ramelow, seit Dezember 2014 regieren Sie als erster Ministerpräsident der Linkspartei. Kritiker haben befürchtet, dass Rot-Rot-Grün schnell scheitern würde. Das ist nicht geschehen. Ist es ein persönlicher Erfolg für Sie? Wie fällt Ihre Bilanz aus?*

Wir haben im ersten Jahr sehr solide, ruhig und unaufgeregt die Aufgaben erledigt, die eine Landesregierung erfüllen muss. Manch einer wundert sich jetzt darüber, dass wir das, was wir angekündigt haben, auch tatsächlich umsetzen. So ist die Enttäuschung bei jenen groß, die dachten oder hofften, wir würden nach 100 Tagen scheitern. Nur mal fürs Protokoll die Fakten 2015: In Südthüringen haben wir Arbeitslosenzahlen, die unter 4 Prozent liegen. Derzeit stehen wir auf Platz sieben in Deutschland mit der Arbeitslosenrate. Wir haben mehr Einpendler als Auspendler. Wir haben eine signifikant angestiegene sozialpflichtige Tätigkeit und allein im verarbeitenden Gewerbe ein Lohnplus von 6,2 Prozent. Das ist nicht allein unser Verdienst. Andererseits, so ganz gefährlich kann Rot-Rot-Grün nicht gewesen sein.
Aktuell stehen Kommunal-, Gebiets- und Verwaltungsreform ganz oben auf der Agenda. Aber auch die Zuwanderung ist ein großes Thema, gerade in einem Bundesland, das so viele Einwohner verloren hat. Es geht mir um die Zukunftsfestigkeit dieses Landes. Wir haben gute Voraussetzungen. Aber wir haben noch viel Arbeit vor uns.

Thüringen legt großen Wert auf die Finanzen, auf einen geregelten Haushalt. Trotz Flüchtlingskrise wollen Sie keine neuen Schulden machen. Wie soll das gelingen?

Indem wir zunächst einmal transparent alle Kosten aufschlüsseln, die wirklich gelingende Integration braucht. In unserem Haushalt für 2016 sind 478 Millionen Euro für Integrations-, Betreuungs-, und Unterbringungskosten eingeplant. Damit gehen wir stark an unsere Reserven. Gleichzeitig kämpfe ich gegenüber der Bundesregierung für eine bessere Refinanzierung. Die Frage ist nicht „was kostet das“, sondern „was würde es kosten, wenn wir das Geld nicht ausgeben“. Die langfristigen Negativkosten sind viel bedrohlicher. Richtig ist aber auch, dass die Bundesregierung den Satz von Frau Merkel „Wir schaffen das“ mit zusätzlichen Finanzmitteln von Herrn Schäuble untersetzen muss, damit wir es auch schaffen können. Von jeden fünf Euro, die wir für Integration einsetzen, bekommen wir vom Bund derzeit nur einen Euro zurück. Das geht so nicht. Wir benötigen die Erstattung von wenigstens der Hälfte der Kosten für einen halbwegs fairen Interessenausgleich.

Taugt das Thüringer Modell für den Bund?

Das Thüringer Modell von drei Parteien, die auf gleicher Augenhöhe die Regierungspolitik gestalten, basiert darauf, dass alle sich bewegt haben, dass alle miteinander reden und alle gemeinsam bereit sind, sich in ihrer Vielfalt auszuhalten. Was wir im Moment dazu beitragen können, ist zu zeigen, dass es geht. Bislang galt dies immer als undenkbar. Ohne Bewegung aller kann es nicht funktionieren, und gegenseitige Schuldzuweisungen sind ein denkbar schlechtes Modell. Dagegen erscheint es erfolgversprechender, und darin sehe ich die Kunst des Regierens, das Machbare auch möglich zu machen und konsequent bei einer Linie zu bleiben. Dies nimmt die Bevölkerung sehr wohl wahr. Und nach den letzten Landtagswahlen scheint unser Modell Serienreife erlangt zu haben.

Wo sehen Sie die Ursachen, dass die AFD so sprunghaft in den Zahlen steigt?

Die AfD ist als eurokritische Partei gegründet worden. Zugute kommt ihr ein gewisses Frustpotenzial in der Gesellschaft, von all denen, die sich nicht mehr politisch eingebunden fühlen. Gefährlicher noch sind die Reichsbürger, weil darin auch Gewalttäter sich ein politisches Recht anmaßen und den Staat nicht akzeptieren. Die Mischung aus Reichsbürgern und Hardcore-Nazis führt zu einem unappetitlichen Cocktail, der unter Herrn Bachmann in Dresden als Pegida begonnen und nun als AfD unter Herrn Höcke hier in Thüringen eine Folie des Nachahmens gefunden hat.

Ich habe Herrn Höcke vor der Staatskanzlei als extreme Stimme dieser Bewegung hautnah erlebt mit Sätzen wie: „Wollt ihr den totalen …?“

26 Jahre nach dem Fall der Mauer reden Vertreter der AfD über einen aktiven Schießbefehl auf Menschen und verharmlosen dies als einen Ausdruck der Notwehr, weil die etablierten „Altparteien“ unsere Grenzen nicht mehr sichern könnten.

Grenzsicherung kann man nicht betreiben, indem man Menschen erschießt. Das wäre staatlich angeordneter Mord. Vor 26 Jahren, als die Ungarn den Zaun zerschnitten hatten, war man froh darüber, dass der Kalte Krieg und die Demarkationslinie in Europa verschwunden waren. Derzeit kann man sich gar nicht genug darin überbieten, wieder Zäune und Mauern in Köpfen und an Grenzen zu bauen. Offenkundig haben manche die Mauern in ihren Herzen überhaupt nicht mehr im Blick.
Ich war vor kurzem zu einer Papst-Audienz in Rom. Franziskus wünschte sich in dem Gespräch mehr „Brücken- als Mauerbauer“.

Bei der Flüchtlingspolitik betonten Sie, dass die Türen offen gehalten werden sollen. Aber wie kann man diese Schere – Politik der offenen Tür auf der einen Seite und das Misstrauen der Bevölkerung auf der anderen Seite – schließen? Wie kriegt man diesen Spagat hin?

Denken Sie an die leidige Diskussion, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist. Ein Einwanderungsland muss man sein wollen: Amerika, Australien und Neuseeland sind Einwanderungsländer und definieren sich auch so. Wir haben faktische Einwanderung. Aber geistig-kulturell befinden wir uns immer noch in einer dumpfen völkischen Abstammungstheorie. Wir brauchen eine Modernisierung unseres Staatsbürgerrechts. Wer hier geboren ist, muss auch das Recht haben, hier Staatsbürger werden zu können – und das nicht erst nach einem ewig dauernden aufenthaltsrechtlichen Prozess. Ein Mensch, der aus einer türkischen Familie kommt, sich aber als Deutscher empfindet, muss auch Deutscher sein können. Das würde im Übrigen sogar helfen, unser Verhältnis zur Türkei zu entspannen. Neben dem Zuwanderungsrecht und dem modernisierten Staatsbürgerrecht ist ein neues Asylrecht wichtig, wobei die Unterscheidung zwischen tatsächlichem Asyl und Arbeitsmigration klar definiert sein muss. Der Weg der Arbeitsmigration über Asylanträge ist einfach der falsche Weg. Arbeitsmigration müssen wir einfach und schlicht organisieren. Für den Übergang müssten wir das Asylverfahren noch um eine Altfallregelung ergänzen. Alle, selbst wenn sie falsche Anträge gestellt haben und länger als zwei Jahre hier und integriert sind, und dies auch nachweisen können, sollten ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten, wenn sie Integration nachweisen können – und die hier in den Schulen gut integrierten Kinder sollten zügig deutsche Staatsbürger werden können.

Auch hier in Deutschland geborene Flüchtlingskinder?

Wir schieben Kinder ab, die das Land, in das sie abgeschoben werden, noch nie gesehen haben und dessen Sprache sie wahrscheinlich nicht beherrschen. Das ist kulturell widersinnig. Hier hilft nur Klarheit bei Staatsbürger-, Zuwanderung- und Asylrecht. Aber das Asylverfahren muss beschleunigt werden, sodass nach wenigen Tagen klar ist, ob ein Asylgrund ansatzweise vorliegt oder nicht. Wenn er nicht vorliegt, sollten wir dies den Menschen auch ehrlich sagen. Aber wer zur Arbeitsmigration kommen will, der sollte entsprechende Zuwanderungsschritte gehen und nicht den Asylverfahrensweg belasten.

Wir haben im Moment Verfahren, die bis zu sechs Jahre dauern. Ich finde das unerträglich. Wir müssen das Ganze entkrampfen, weil wir Zuwanderung brauchen. Wenn die demografische Entwicklung unseres Landes so weitergeht, werden wir 2035 in Thüringen nur noch 1,9 Millionen Einwohner haben, davon lediglich noch 900.000 erwerbsfähige Personen. Wir können den Wohlstand von heute nicht halten. Erste Betriebe machen ihre Investitionsentscheidungen davon abhängig, ob sie Arbeitskräfte rekrutieren können oder nicht. Wir sind im Interesse unseres Landes verpflichtet, hier gegenzusteuern und Zuwanderung zu organisieren.

Europa droht sich in der Flüchtlingskrise immer mehr zu spalten. Wie groß ist die Gefahr, dass Europa in der Krise zerbricht?

Nach vielen Gesprächen in Mittel- und Osteuropa ist mir klar geworden, warum Europa seinen Glanz verliert. Wenn in diesen Ländern das Gefühl um sich greift, dass Europa keinen Mehrwert mehr für die Bürger hat, sondern nur bürokratischer, schwieriger und bevormundender wird, dann darf man sich über die Erfolge von Orbán, Kaczyński und anderen nicht wundern. Es wäre gut, wenn Deutschland zwischen der Ukraine und Russland, aber auch in dem komplizierten Verhältnis der mittel- und osteuropäischen Länder und Kerneuropa wieder eher eine vermittelnde Rolle einnimmt. Dabei könnten die neuen Länder wie Thüringen mit ihren historisch gewachsenen Beziehungen und der Transformationserfahrung eine wichtige Funktion übernehmen.

Der Bundeswehreinsatz in Kriegsgebieten soll die Situation dort stabilisieren und die Region dort befrieden. Im Hintergrund steht das Argument, dass dann auch der Flüchtlingsstrom nach Europa nachlässt, weil die Länder frei vom Islamischen Staat sind. Ist Krieg der richtige Weg? Ihre Partei hat sich immer wieder gegen diese Option ausgesprochen. Sie betonten mal in einem Interview: Einfach immer nur auf die Kriegslogik zu setzen, ist genau das, was der IS gerade will.

Das ist so und dabei bleibe ich auch. Man kann auf eine Militärlogik, eine asymmetrische Bedrohung, nicht mit einer symmetrischen Kriegslogik antworten. Militär kann, wenn überhaupt, mit brutaler Gewalt immer nur eine Stabilität für eine kurze Zeit bringen. Wirkliche Stabilität kann nur über veränderte gesellschaftliche Verhältnisse wachsen. Die Zeiten der militärischen Drohkulissen sind vorbei und führen nicht zu mehr Frieden.

Der Islamische Staat gewinnt gerade auf Youtube und nicht auf dem Schlachtfeld. Wir sind mit dem Problem konfrontiert, dass IS-Kämpfer in der Bundesrepublik und in Europa angeworben werden. Vom Bundesamt für Verfassungsschutz werden für Deutschland 1000 Kämpfer angegeben, aus Thüringen sind es konkret zwei.

Für mich ist es schockierend, welche Faszination der IS ausübt. Hier müssen wir gegensteuern und Aufklärung betreiben. Nicht der Islam, nicht der Moslem ist der Feind, sondern der Fundamentalismus. Für mich gibt es eine Formel: Wenn wir den Ultraorthodoxen, den Fundamentalisten, den Boden entziehen wollen, dann müssen wir über kulturelle Vielfalt reden und nicht über Einheitskultur. Dies kann nur geschehen, wenn wir die kulturellen Eigenheiten der religiösen Gruppen kennen, achten und einen gemeinsamen Gesprächsfaden hinbekommen. Wer stattdessen von antiislamischer Rettung des christlichen Abendlands – wie Pegida und die AfD – spricht, spielt damit dem IS offen in die Hände.

Sie sind Christ, was ist Ihr christliches Credo?

Mein Glaube ist meine private Angelegenheit. Ich bin christlich erzogen, ich komme aus einer uralten protestantischen Familie. Goethe ist von meinem Ur-Ur-Ur-Großvater getauft worden, von Johann Fresenius aus Frankfurt am Main, der dort Stadtpfarrer war. Alle seine Kinder, Enkel und Nachfahren sind in der Kirche, in der ich konfirmiert wurde, Pastoren gewesen. Als ich an der Reihe war, gab es zwei Möglichkeiten: Bäcker oder Pfarrer. Da ich durch Legasthenie gehandicapt war, wurde es mit dem Studium nichts. Deshalb sollte ich den Familienbetrieb, die Bäckerei übernehmen. Aber leider hat mir der liebe Herrgott auch noch eine Mehlstauballergie geschickt. Und so bin ich letztlich Ministerpräsident geworden (Ramelow lacht).

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Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".