Walter Jens – Zum 100. Geburtstag eines Unbeugsamen

100, Geburtstag, Quelle: banino, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Geschichte kann grausam sein. Im Jahr 2013 gestorben, ist einer der Vorzeigeintellektuellen der Bundesrepublik mittlerweile fast selbst aus dem medialen Diskurs verschwunden. Der Geistesarbeiter Walter Jens, der in den letzten Jahren seines Lebens in Demenz versank, und der Zeit seines Lebens betonte, lieber zu sterben, als einmal mit dieser Krankheit durch Tübingen zu laufen, droht nun im geschichtlichen Vergessen selbst zu versinken.

Dabei war der brillante Rhetoriker und Radikaldemokrat Walter Jens, der am 8. März 1923 in Hamburg geboren wurde, so etwas wie das chronologische Gewissen der Bundesrepublik. Wenn Jens etwas sagte, kam es in die „Tagesschau“. Der Mann, dem die Ärzte aufgrund eines Asthmaleidens prophezeiten, nicht einmal das 30. Lebensjahr zu erreichen, war ein Medienstar, eine gefeierte Instanz. Seine Offenheit, seine Toleranz aber auch die Kraft der Argumente, der kritische Ton, den er anstieß, waren gefürchtet. Als junger Schriftsteller machte er mit Erzählungen und Romanen auf sich aufmerksam. Sein Werk „Nein. Die Welt der Angeklagten“ – eine Anti-Utopie – wird für sein späteres Wirken programmatisch. Jens galt als einer, der sich nicht die Zunge verbieten ließ, der vielmehr beredt in die Tastatur seines bürgerlichen Wissens griff, um gegen den Zeitgeist und Ungerechtigkeiten zu streiten.

Sich selbst verstand er als einen Querdenker, eben einen, der quer zum politischen Mainstream denkt und sich nicht vereinnahmen lässt, für den das Wechselspiel von Rede und Gegenrede das Lebenselixier war, dem die Streitkultur quasi essentiell in die Gene geschrieben wurde. Dass er Dispute mit scharfer Klinge führte, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Nichts wäre dem Unangepassten mehr ein Gräuel gewesen als die Schweigespiralen der modernen Cancel Culture oder der neuen „Wokeness-Bewegung“.

Mit Lessing für Aufklärung und Toleranz

Wie für sein geistiges Vorbild Gotthold Ephraim Lessing, waren Aufklärung und Toleranz die Werte, für die er gegen jeden Widerstand eingetreten ist. Über 50 Jahre hatte er so als kämpferischer Wächter der Demokratie Debatten angestoßen und sich als „Redner der Nation“ für mehr Toleranz und Solidarität in der Bundesrepublik im Geist des liberalen Humanismus eingesetzt. Als „kleinen Voltaire der Bundesrepublik“, wie der streitbare Geist auch genannt wurde, trieb es ihn wie einst Sokrates, immer wieder auf die Straße. Denn eines wusste der spätere Präsident des PEN-Zentrums Deutschlands und Präsident der Akademie der Künste zu Berlin, der Sympathie für die „Skeptiker unter den Glaubensgewissen“ und „sokratischen Neinsager“ hegte: Der Streit ist der Vater aller Dinge – und das öffentliche Bekenntnis eine Art von Gewissenskultur.

Der engagierte Kämpfer für die Friedensbewegung

So engagierte sich Jens ab Anfang der 1980er Jahre im Widerstand der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von Pershing -Raketen. Zusammen mit Heinrich Böll und anderen bekannten Schriftstellern und Theologen beteiligte er sich Anfang September 1983 an der „Prominentenblockade“ vor dem Pershing-Depot in Mutlager. Dass er nicht jede Schlacht gewinnen konnte, hatte den Professor für Altphilologe nie zermürbt, sondern geradezu beflügelt. Ob Kanzler, Präsident oder Landesherr – Einschüchterung gehörte nicht zu seinen Un-Tugenden. „Ich habe gern und oft verloren und bin ein klein wenig zernarbt“, sagte Jens einmal. „Man muss auch eher verlieren können als sich anzupassen.“

Im schwäbischen Tübingen, wo einst Geistesikonen wie Schelling, Hölderlin und Hegel, aber auch Ludwig Uhland das Denken an die Ränder trieben, war der Romancier, Drehbuchautor, Übersetzer, Essayist und Literaturkritiker ein gefeierter Star. Für den jüngsten Universitätsdozenten der noch jungen Republik hatte man in Tübingen extra einen Lehrstuhl für Rhetorik geschaffen. Das Bekenntnis zur Tradition und zugleich der offene Blick in die Zukunft – dafür stand letztendlich Walter Jens.

Impulse durch die „Gruppe 47“

Als Mitglied der „Gruppe 47“ war er von den literarischen und politischen Schriften der linken bundesdeutschen Literatur-Avantgarde tief geprägt. Hans Mayer, der im Osten der Republik den geistigen Widerstand gegen des DDR-Regime organisierte, und der Marxist Ernst Bloch waren wichtige Weg- und Kampfgefährten für einen, der sich niemals durch den Sozialismus vereinnahmen ließ, sondern der als Mitglied der skeptischen Generation stets auf dem Grundgebäude eines universell gebildeten Humanismus aus christlicher Grundüberzeugung argumentierte. Dass Jens zu jenen Frauen und Männern, die später die bundesrepublikanischen Diskurse prägten, zu Ingeborg Bachmann, Erich Fried, Peter Handke Heinrich Böll, Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki, Hans-Magnus Enzensberger, Johannes Bobrowski in intensiven und freundschaftlichen Kontakt stand, hat er immer als ein großes Geschenk des Schicksals gesehen und in Dankbarkeit angenommen.

Das intellektuelle Vorzeigepaar der alten Bundesrepublik

In der medialen Öffentlichkeit verkörperten die Jens‘ so etwas wie eine intellektuelle Liebesgemeinschaft, waren das Aushängeschild für eine gelungen-produktive Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, geprägt von gegenseitigem Respekt und Anerkennung. Dass man sich schnell verheiraten musste, um endlich eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, ist eine liebenswürdige Episode aus einem Leben. Über 60 Jahre dauerte die Ehe und Inge Jens bekannte einmal: „Ich habe ihm geholfen zu leben“. In der Tat galt Jens nicht als der große Pragmatiker in weltlichen Dingen, seinen Ofen in seiner Studentenklause konnte er nicht heizen, obwohl er über genügend Holz verfügte. Der Deal zwischen den sich annähernden Liebenden damals: Du bringst mir Griechisch bei und ich heize für Dich. Doch lebenslanges Teamwork schweißte zusammen. Noch mit über 80 Jahren veröffentlichte das Ehepaar die Biographie „Frau Thomas Mann“. Mit Inge kam Walter dann doch noch in die Bestsellerlisten der Republik.

Plädoyer für ein menschenwürdiges Sterben

Ab 2006 verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Jens, der sich immer mehr in die Dämmerung verabschiedete. Aus dem wachen Geist ist einer geworden, ein ganz anderer, wie Inge immer wieder in Interviews betonte. Er sei „in einer Welt, zu der ich wenig oder gar keinen Zugang habe“. Sein Sohn Tilman Jens hatte 2009 das Buch „Demenz. Abschied von meinem Vater“ veröffentlicht. Dass sich der große Intellektuelle nach dem Bekanntwerden seiner NSDAP-Mitgliedschaft als Student später in die Demenz flüchtete, wie sein Sohn meinte, mag nicht halten.

Dass aber Walter Jens selbst jenes Schicksal einholen sollte, das viele Geistesgrößen von Rang, die er schätzte und die sich seiner Meinung mehr in der Psychiatrie als im wirklichen Leben aufhielten, daran hatte der christliche Humanist nicht geglaubt. Er selbst wollte wie einst Sokrates reflektierend, bei vollem Bewusstsein dem Tod gegenübertreten. „Ich will sterben – nicht gestorben werden“. Diese Angst vor der Ohnmacht, sich selbst ein Ende zu setzen, hat er immer wieder thematisiert – auch mit seinem Weggefährten, dem Theologen Hans Küng. Dies ganz pragmatisch und exemplarisch in ihrem gemeinsamen Buch mit dem Titel „Menschenwürdig sterben“, das 1995 erschienen ist. Dort heißt es: „Darf ich nach einem selbstbestimmten Leben nicht auch einen selbstbestimmten Tod haben, statt als ein dem Gespött preisgegebenes Etwas zu sterben, das nur von fernher an mich erinnert? Und dieses letzte Bild wird bleiben und überdauert für die Nachfahren auf lange Zeit die Impressionen, da ich ein ‚Ich’ und kein ‚Es’, ein denkendes Wesen und kein zuckendes Muskelpaket war, kein Drahtmensch, sondern ein Wesen, dessen Stolz vielleicht in seiner Schwäche bestand – aber einer bedachten und eingestandenen Schwäche.“ Oder 1996: „Ich glaube nicht, dass derjenige, der am Ende niemanden mehr erkennt von seinen nächsten Angehörigen, im Sinne des Humanen noch ein Mensch ist. Und deshalb denke ich, sollte jeder bestimmen können, dann und dann möchte ich, dass ich sterben darf.“

Die Debatte um die „Freiheit, selbstbestimmt zu sterben“, ist im Bundestag derzeit auf der Tagesordnung. Nachdem das Bundesverfassungsgerichts 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärte, wird der Bundestag nun im Frühjahr 2023 über drei Gesetzentwürfe für Sterbewillige erneut beraten.

Walter Jens würde sich freuen, selbst über seinen Tod hinaus, auch noch diese Debatte angestoßen zu haben.

Hinweis zur Empfehlung: Ulrich Berls: Zum 100. Geburtstag von Walter Jens, Der Rhetor der Republik

Finanzen

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2155 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".