„Woke“ ist en Vogue. Doch ganz so freiheitsliebend und offen sind die Vertreter der sich zumeist aus Jüngeren rekrutierenden Bewegung keineswegs. Wer nicht auf der neuen Welle des „Wachseins“ mitreitet, erntet Shitstorm, wird zum Paria erklärt und bis auf die nackte Haut gecancelt. Im Gestus der Überlegenheit eines vermeintlich höheren Bewusstseins werden Maulkörbe und Marterpfähle der öffentlichen Empörung aufgerichtet. Denn für die „Woken“, die gegen rassistische Stereotype, Kolonialisierung und gegen die Binarität des Geschlechts kämpfen, gibt es nur ihre Wahrheit. Zielten Sozialismus und Kommunismus vermeintlich auf Gleichheit und kollektive Glückssehnsucht, so die „Wokeness-Bewegung auf Vielfalt und Pluralität. Doch wie bei allen Ideologien, die sich im Gewand der Freiheit repräsentierten, wird diese durch Repression, Kollektivismus, Überwachung und Entfremdung erkauft. Die Geschichte der -ismen bleibt eine negative.
Wer mit dem Zeigefinger argumentiert, befördert nicht das individuelle Glück, sondern richtet ein System der Ausgrenzung auf. Der Verlierer im Kampf um die Deutungshoheit ist der Einzelne, der im Spiel von Ideologie und öffentlicher Meinungsmache eine abstrakte Größe bleibt. Bereits der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813-1855) hatte die Verquickung von System und Öffentlichkeit durchschaut. Im Idealismus Hegels sah er den Menschen nur auf ein begrifflich allgemeines und abstraktes Wesen reduziert. Und auch bei der Marxschen Theorie der gesellschaftlichen Praxis konnte er nur eine nivellierende Macht erkennen, die den Einzelnen zum Statisten macht und ihn so seines Selbstseins beraubt.
In allen Systemen, jenseits des Existentialismus, wird der Einzelne Teil des „Publikums“ und durch die Diktatur der Öffentlichkeit zu einem bloßen „Man“. „Die Menge“ aber „ist die Unwahrheit“. Was die „Woken“ heutzutage für sich beanspruchen: System, Öffentlichkeit und Moralismus wäre Kierkegaard ein Gräuel. Kierkegaard, der in seinem Erstlingswerk „Entweder-Oder“ zwischen ästhetischer und ethisch-moralischer Existenz unterschied, hat es dabei nicht bewenden lassen.
Weder im Zustand des ästhetischen noch beim ethischen kommt der Einzelne in seine Existenz, denn entweder verliert er sich in ästhetisch-sinnlichen Belanglosigkeiten oder in den von der Gesellschaft auferlegten moralischen Normen als allgemeiner Verbindlichkeiten. Nur durch den Sprung in den Glauben, der die „Kreuzigung des Verstandes“ voraussetzt, vermag der Mensch sein Gesetzsein von Gott und seine Existenz vor dem Unendlichen akzeptieren. Nur hier gelingt es ihm, sich als Selbst zu begreifen und nur in diesem Augenblick des Glaubens befindet er sich im richtigen Selbstverhältnis, vermag momenthaft ohne Verzweiflung zu existieren.
Gegen System, Öffentlichkeit und Moralismus stellt Kierkegaard die „Innerlichkeit.“ Sich seines Glückes und seiner Existenz zu versichern, gelingt nicht durch systemische Zwänge, nicht durch Meinungsmache einer gleichgeschalteten Presse und auch nicht durch das Moralisieren. „Ein wahres Martyrium ist da, wo man es mit der Menge zu tun hat.“
Gegen den „woken“ Systemzwang setzt Kierkegaard den Einzelnen, gegen die Presse als großen Nivellierer seine Medienkritik und gegen die Moral die Suspension derselben zugunsten der religiösen Existenz. Den -ismen dieser Welt lässt sich nur begegnen, wenn der Einzelne unvertretbar bleibt. Bewegungen, die den Einzelnen gegen den Einzelnen ausspielen, stehen nicht für die Wahrheit, sondern lösen diese auf. Wer andere um einer höheren Moral Willen diskreditiert, dessen moralisches Bewusstsein ist an sich schon scheinheilig.