Wie wir als ehemaliger Geschwindkeitsweltmeister auf den Stillstand zurasen

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Einst war Deutschland Geschwindigkeitsweltmeister – nach dem Zweiten Krieg gar ein Land permanent auf der Überholspur. Doch der Exportweltmeister ist zum Gartenzwerg geworden. Die Deutsche Bundesbahn ist das beste Beispiel. Die pünktlichen Schweizer wollen mit dem maroden Staatsunternehmen nichts mehr zu tun haben. Milliarden hat die Bahn in den Sand gesetzt und plant einen gigantischen Stellenabbau. Trotz Hochgeschwindigkeitszügen – der Fahrplan der DB bleibt für Reisende ein Glücksspiel – die Mobilitätswende ist gescheitert. Bereits seit zwei Jahrzehnen stagniert die einstige Wirtschaftswundernation und hat den Rückwärtsgang eingelegt. Anstelle mit Transrapidgeschwindigkeit dem Innovationsgeist Flügel zu verleihen, verbummelt das Land den Anschluss an die Welt.

Die Transformation, sei es in den Bereichen des Technologischen, Politischen, Gesellschaftlichen, Ökonomischen und Ökologischen ist rasant, doch der Geschwindigkeitsrausch, der dem neoliberalen Kapitalismus und einem systemischen Fortschrittsgedanken innewohnt, ist in Deutschland nun tatsächlich in seinem Gegenteil angekommen.

Je mehr die Geschwindigkeit prozentual ansteigt, umso mehr wächst dazu parallel die Stagnation

Der Franzose Paul Virilio (1932-2018) war es gewesen, der über das Verhältnis von Fortschritt und Stillstand tiefgreifender reflektierte. Seine These: Wir leben in einer Beschleunigungswelt – und die Menschheitsgeschichte ist eine Beschleunigungsgeschichte mit der exponentiell die Gefahr des Stillstandes einhergeht. Rasenden Stillstand nennt es Virilio. Nach ihm vernichtet die Geschwindigkeit den Raum und verdichtet die Zeit – und dies sei zugleich das verhängnisvollste Phänomen des 21. Jahrhunderts. Virilio, ein bekennender Katholik, der getreu dem Lebensmotto seines Namensheiligen, des Apostel Paulus, nach der Maxime „Hoffen gegen alle Hoffnung“ lebte, war kein Romantiker, der Entschleunigungspredigten in Burnout überhitzten Zeiten hielt, sondern ein politisch bewegter Diagnostiker, ein „christliche Anarchist“. Für sein Denken wählte er das Kunstwort Dromologie, aus „dromos“ (Beschleunigung) und „logos“ (Lehre) zusammengesetzt. Sein Credo: die technisierte Welt verheißt nur Unheil. Ob in den Medien, den Naturwissenschaften, der Medizin, der Physik oder der Metaphysik – je mehr die Geschwindigkeit prozentual ansteigt, umso mehr wächst dazu parallel die Stagnation.

Einfachste Beispiele sind: Wir haben immer mehr Mobilität und stehen immer mehr im Stau: Wir sind Telekommunikationsweltmeister, doch erreichbar ist per Telefon kaum noch einer. Vor jenem Schneller, Weiter und Höher warnte früher bereits der Philosoph Günther Anders (1902-1992). Was der Beschleunigung folgt, ist eine telemediale Welt, die durch ihre simultane Teilhabe den Menschen zum reinen Zuschauer mache. Auch dem KI-Hype, der derzeit die Welt wie ein neues Gottesgeschenk elektrisiert, würde Virilio eine Absage erteilen. Wir haben schon genug künstliche Bilderfluten, „Informationsbomben“ und „die Kontrolle des Weltbildschirms“. Eine Gesellschaft, die mit allen Mitteln an ihrem Fortschritt arbeitet, Zeit und Raum hochtechnologisch beherrschen will, arbeitet letztendlich an der Auslöschung ihrer selbst, ihr droht eine totale Regression.

Die Geschwindigkeit entscheidet über unser Leben

In seinem Buch der „Der große Beschleuniger“ warnte Virilio daher vor einer Verdichtung der Zeit, die kein Heute und Morgen kennt, wo nur noch rasende Algorithmen regieren und der Mensch dahinter zurücktritt. „Digitale Diktatur“ nannte es Virilio.  Daher wollten wir wieder mehr in das Analoge als nur in das Digitale investieren. So werden wir zwar nicht Globalisierungsweltmeister, aber Menschen, die im Hier und Jetzt leben – die etwas besonders auszeichnet, ihre Emotionalität, Nächstenliebe und Herzenswärme. Vielleicht finden wir in einem verspäteten Zug der Deutschen Bahn das persönliche Gespräch zurück, was uns zu Menschen und einzigartigen Geschöpfen Gottes macht, denn letztendlich ist es die Geschwindigkeit, die über unsere Zukunft entscheidet.

 

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2149 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".