21. November 2024

Wie viel Dystopie steckt eigentlich in der Utopie?

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Dystopien haben derzeit Konjunktur. Ob George Orwells „1984“ oder die „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley stehen auf den Bestsellerlisten. Der Untergang des Abendlandes wird beschworen, Existenzängste werden kultiviert. Aber wie viel Dystopie steckt eigentlich in der Utopie? Ein sporadischer Gang durch die Ideengeschichte. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Platons „Politeia“ als rigides Überwachungssystem

Die Wiege der klassischen Sozialutopie stand in Griechenland. Einst entzündete der Philosoph Platon die Fackel der Vernunft und gründete auf dieser seine Vision des Idealstaates. Die Abschaffung des Geldes, die sexuelle Revolution, eine ethisch legitimierte Eugenik sowie die Instrumentalisierung der Kunst durch die Mächtigen und die damit zwangsläufige Zensur waren Fundamente einer Utopie wie sie sein Staatsentwurf, die „Politeia“, zeichnet. Der Vernunft traute Platon viel, dem Einzelnen wenig zu, der Demokratie gar nichts und in der Gleichheit sah er nur Instabilität. Die Herrschaft Auserwählter, die Monarchie oder Aristokratie galt ihm als Zeichen kühner Tugend und Sittlichkeit, die den Volkspöbel auf Spur bringt, rigoros durch Überwachung und Strafen. Seine „Politeia“ war nichts anders als ein autoritäres System einer besseren Welt aus dem Geist, dem Logos errichtet, hierarchisch gegliedert, totalitär, kommunistisch und aus den Idealen des Wahren, Guten und Schönen abgeleitet. Was er im Namen der Menschheit erschuf, war schließlich ein rigider Wächterstaat mit dem Philosophen als König. Und so ist es in Platons Staat allein und maßgeblich die Vernunft selbst, die ohne kritische Korrektur ihre Herrschaftstyrannei der Tugend entfalten konnte. Wer dem idealen System nicht entsprach, dem drohten Sanktionen. Die Vernunft war die Gesetzgeberin und Richterin zugleich, und sie klagte sich ein striktes Entweder-Oder ein.

Francis Bacon und die Macht der Eliten

Bei den Utopien nach Platon stand es nicht besser um die einzelne Kreatur. Joachim di Fiore gründete seine Utopie auf einem Tausendjährigen Reich, das im Chiliasmus finalisiert wird, Tommaso Campanellas „Sonnenstaat“ erklärte das Individuum zum Nichts und die Gattung über alles, er träumte von einer päpstlichen Universalmonarchie und Hierarchie aus dem Geist der Sonnenmetaphysik. Thomas Morus’ „Utopia“ beschwor den Staat als kommunistisch-soziales Ideal samt Toleranz. Aber auch er scheitert letztendlich genauso am realen Menschen und kommt ohne Überwachen und Unfreiheit nicht aus. Auch Francis Bacon wollte mit seiner „Nova Atlantis“ die beste Staatsverfassung niederschreiben, die gemäß der „besten aller möglichen Welten“ à la Leibniz möglich sei. Sein „Haus Salomon“ wird zum exklusiven Ort freier Geister, einer Wissenschaftsrepublik par excellence. Aber auch in der freien Wissenschaftsrepublik, die heute noch Vorbild unserer Universitäten ist, bleibt die autoritäre Macht den Eliten vorbehalten, Freiheit und Individualität spielen keine Rolle. Selbst die beste aller möglichen Welten bedarf einer strukturierenden Verbotskultur, die das Zusammenleben regelt.

Robespierre – der Tugend-Terrorist

Ein Utopist sondergleichen war einst Robespierre. Jacobiner und Aufklärer in einem, glühender Verfechter der Aufklärung. Der gute Geist der Revolution, der Freiheit und Gleichheit auf seine Fahnen schrieb, die Tugend zum Ideal erhob und die Vernunft zum Ideal erklärte, wird seine Vision vom heiligen Thron der Gleichheit mit Blut übergießen, wird zum „Blutrichter“ der Französischen Revolution, der die Tugendlosen auf der Guillotine opfert. Jean-Jacques Rousseaus Idee der freiheitlichen Übereinkunft in einen Gemeinwillen, die volonté générale, wird ihm zum ordnungspolitischen Gradmesser mit Absolutheitsanspruch. Wer Gemeinwille und Gemeinwohl, begriffen als die absolute und unhintergehbare Wahrheit angreift, hat nur die Wahl zwischen Akzeptanz oder Tod. Getreu der Maxime, dass Terror Läuterung sei, wird er die Terrorherrschaft im Namen des wahren Guten legitimieren, um dem Gesellschaftsvertrag den Weg zu bereiten. Ohne Tugend, so Robespierre, sei Terror verhängnisvoll, ohne Terror die Tugend machtlos. Nur der Terror gegen das Verbrechen verschaffe der Unschuld Sicherheit. Vor Lenin und Stalins „Gulags“ entzündete der Aufklärer so eine „Säuberungswelle“ sondergleichen und legitimierte seinen „Tugendstaat“ durch die Vernichtung all ihrer Kritiker. Das Volk sei „durch Vernunft zu leiten und die Feinde des Volkes durch terreur zu beherrschen“, erklärte Robespierre am 5. Februar 1794 vor dem Nationalkonvent. „Der Terror ist nichts anderes als unmittelbare, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit; sie ist also Ausfluss der Tugend; sie ist weniger ein besonderes Prinzip als die Konsequenz des allgemeinen Prinzips der Demokratie in seiner Anwendung auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes.“

Wie einst bei Platon, Campanella, Morus oder Bacon – die Tugend lässt sich nur durch eine Verbotskultur kultivieren und der Terror ist das notwendige Band zur Erziehung des Menschen, zu seiner wahrhaften Natur.

War Platon einst der Klassiker der Staatsutopie, so Karl Marx, vor 200 Jahren geboren, der Klassiker der Nationalökonomie. Seine brillanten Analysen zum Kapitalismus, zum Mehrwert und zur flächendeckenden Ausbeutung, seine Vision einer klassenlosen Gesellschaft und einer vorübergehenden Diktatur des Proletariats sind aber keineswegs utopisch, sondern verdanken sich der Umkehrung der Hegelschen Dialektik. Staat spekulativer Selbstobjektivierung des Geistes in seiner geschichtlichen Aneignung, stellt Marx eben Hegel auf die Füße, erklärt nicht den Geist zum Prinzip der Geschichte, sondern die Materie und die Dialektik der Klassenkämpfe. Marx war, gleichwohl von vielen vorgeworfen, eben kein Utopist. Der Trierer ist kein Freund von frühromantischer Träumerei gewesen, die Blaue Blume Novalis’ ist ihm fremd, die Ideen von Sozialismus und Kommunismus der Frühsozialisten und Utopiker Ausdruck blanker Bürgerlichkeit, die allesamt den Klassenantagonismus negieren. Den französischen „Utopisten“, Saint-Simonisten und Fourieristen wirft er Mystizismus vor, ihre Utopien seien reine Gedankenkonstruktionen – weit entfernt vom historischen Wachstum der Machtverhältnisse und des massenhaften Elends. Und so versteht Marx den wissenschaftlichen Sozialismus im Unterschied zu den Utopisten als eine notwendige prozesshafte und dialektische Entwicklung aus der jeweils konkret-historischen Situation heraus.

So sehr Marx Anti-Utopist war, so sehr wurde er für die Utopie des neuen, des sozialistischen Menschen missbraucht. Die neuen Utopisten, Lenin, Stalin und Mao-Tse-Tung ersetzten die Diktatur des Proletariats durch die Herrschaft einer Staats- und Parteibürokratie, abgesichert mit Polizei und Militärgewalt, Überwachung, Bespitzelung und Denunziation. Aus der Utopie der Befreiung wurde Barbarei, Millionen von Menschen so zu Staatsfeinden erklärt, deportiert, vernichtet und umgebracht. Selbst linke Ideologen der 68er Generation beschworen Terror und Gewalt gegen Andersdenkende. Der Sozialismus Marxens ist in Staatskapitalismus und Staatsterrorismus umgeschlagen, zum „roten Faschismus“, wie Wilhelm Reich in seinen Buch „Die Sexuelle Revolution“ kritisierte. Der Totalitarismus und die faschistoide Massenpsychologie der Lenins und Stalins und des real existierenden Sozialismus zerschlugen so die ursprüngliche Idee des Sozialismus als eine Befreiung der arbeitenden Menschen aus den Zwängen von Herrschaft und Ausbeutung. Das 20. Jahrhundert hatte Marx’ Ideale vollkommen korrumpiert und diskreditiert und ihn mit dem Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) auf den Schrottplatz der Geschichte geschickt.

Das Grab der Utopien

Fazit: Ob bei den Utopien von Ikarien, der Hirtenidylle auf dem Peloponnes, Arkadien oder Elysium – die Utopien, aus welchem Stoff sie auch geschneidert sind, enden allesamt im Geistesterror, auf dem Schafott, der Guillotine oder in den KZ’ dieser Welt. Das An-sich-Gute verkehrt sich brachial in sein Gegenteil um. Und so trägt der Idealismus immer ein Stück Terror in sich. Überall obsiegt die Doktrin, und wer das Gute nicht will, muss dazu gezwungen werden – und koste es sein Leben. Ob bei den realen, systemimmanent-kritischen Utopien der Lenins und Marx’, spätestens mit Stalins linksfaschistischem Terror, Hitlers Holocaust und im real existierenden Sozialismus fielen die Köpfe millionenfach.

Das Problem bei allen Utopien bleibt der Mensch in seinem So- und Dasein, in seiner Spießeridylle, in seiner Neigung zu Neid und Triebhaftigkeit, im Hang zum Bösen und durch seine Freiheit zur Entscheidungsfähigkeit. Und der Utopist seinerseits erweist sich ungewollt als Henker, dessen Ideen schließlich nur brachial wider die Menschennatur und gegen die ursprüngliche Idee des Guten, Wahren und Schönen umzusetzen sind.

Die Vernunft bedarf eines Korrektivs

Die Diktatur der Vernunft bedarf also einer Korrektur. Schon Pascal schrieb in seinen „Pensées VI, 358“: „Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will es, dass, wer einen Engel aus ihm machen will, ein Tier aus ihm macht.“ „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ Und in 1 Könige 3, 5.9-10.16.22-28 fordert der weise Regent Salomon: „Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht. Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren?“.

Wie gefährlich die Vernunft ist, wie sehr sie das Abgründige in sich trägt, haben viele, aber eben auch Sören Kierkegaard und Papst Benedikt XVI. erkannt und mit ihrem Sprung in den Glauben darauf geantwortet. Und für Papst Franziskus ist es die Barmherzigkeit, denn sie allein „hat Augen, zu sehen, Ohren, zu hören, und Hände, um aufzuhelfen.“ ,Für Fukuyama bleibt es nach dem Untergang der totalitären Regime – von Kommunismus und Faschismus – aus dem Geist der Utopie die liberale Demokratie auf der Basis der Grundrechte, dem Rechtsstaatsprinzip und der freien Marktwirtschaft – sie allein ist anti-utopisch.

August 2018

 

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".