Wer ist eigentlich Dietmar Woidke? – Ein Porträt des SPD-Ministerpräsidenten von Brandenburg – Der unbeugsame Schlagzeuger

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, Foto: SGL
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, Foto: SGL

Er hat der AfD den sicheren Sieg bei der Landtagswahl am 22. September 2024 auf den Schlussmetern aus den Händen genommen. Dietmar Woidke setzte alles auf eine Karte, auf Woidke selbst – und er hat gewonnen. Doch wer ist der Mann, der der AfD das Fürchten lehrte? Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Dietmar Woidke hat der AfD das Fürchten gelehrt und gezeigt: ein couragierter Wahlkampf und eine Person, die menschlich ankommt und realpolitisch agiert, hat das Potential vermeintlich aussichtlose Wahlschlachten zu gewinnen. Und wie sehr Woidke als Landespolitiker das Amt eines weisen regierenden Landesvaters seit elf Jahren innehat, zeigt: Der Mann ist einer, der nicht an der Macht klebt, der auf sein Amt verzichtet hätte, wäre die AfD der Wahlsieger geworden. Mit seinem Rücktrittsangebot, „Mein Ziel ist es, gegen die AfD zu gewinnen – und wenn ich gegen die AfD verliere, bin ich weg“, spielte er eine hohe Karte im Wahlkampf und hat triumphiert. Allein diese persönliche Ansage zeigt Woidke als einen, der seine politische Karriere aufs Spiel setzt, wenn ihm die Fäden aus der Hand gerissen werden. Wer verliert, muss auch die Konsequenzen ziehen, so das pragmatische Kalkül, das der SPD-Politiker als Tugendkarte spielte. Die Tugend, Verantwortung aus Wahldesastern zu ziehen, ist mittlerweile eine, die für die meisten bundesdeutschen Politiker vollkommen aus der Mode gekommene ist.

In seiner Freizeit spielt er Schlagzeug

Auf den ersten Blick wirkt Dietmar Woidke spröde, auch seine 62 Jahre sieht man ihm nicht an, er scheint älter, aber sein Lachen kann verfangen. Starallüren sind ihm fremd, dem bekennenden Christen aus dem Osten, der sich in der DDR der Evangelischen Studentengemeinde in Berlin anschloss und 1989 sogar über eine Republikflucht über Ungarn nachdachte. Anders als Karl Theodor zu Guttenberg und seine Frau Stephanie im Blitzlicht schillernd, glänzt das Politikerehepaar, seit 2007 ist Susanne die Frau an seiner Seite, mit Bescheidenheit. Doch Woidke, der einen Jagdschein besitzt kann auch anders. Er hat eine große Leidenschaft für Musik. Und wenn er jenseits der politischen Mühlen, jenseits der Landeshauptstadt Potsdam weilt, spielt der von seinen Vertrauten „Langer“ genannte Schlagzeug. Ausgerechnet Schlagzeug! Doch dies zeigt: Woidke kann auch laut, er, der Unbeugsame, der diese Tugend mit dem Reformator Martin Luther teilt. Über diesen merkte er einst an: „Luther schrieb Geschichte. In einer Zeit voller Widersprüche gehörte er zu jenen, die die Dinge klar und entschieden beim Namen nannten. Aus reiner Glaubensüberzeugung hat er seine Positionen gewonnen und sie bis zu seinem Lebensende konsequent durchgehalten.“

Kein Mann ohne Eigenschaften

1961 im Osten der Republik geboren, ist Woidke kein weichgespülter Politiker, der in die Kamera glänzt und Phrasen drischt. Woidke, der zu DDR-Zeiten Agrarindustrie studierte und in diesem Beruf arbeitete, sich politisch seit 1993 für die SPD engagierte, ist ein Mann, der die Mühen der Ebene kennt, einer, bei dem der Dialog mit seinem Gegenüber auf Augenhöhe stattfindet, einer, der auf die Menschen zugeht – und der sie dort abholt, wo sie stehen. Das kommt beim Volk gut an, gerade bei den Abgehängten, den Unzufriedenen, die selbst 34 Jahre nach der Wende die gesellschaftlichen Verlierer geblieben sind, weil sie oft mit dem Verlust ihrer Arbeit ihre Identität verloren. Woidkes Empathie ist es, die den fast Zwei-Meter-Mann zu einer Ausnahme im Politikerbetrieb erscheinen lässt. Er ist eines: kein Mann ohne Eigenschaften.

Woidke ist weder der glänzende Rhetoriker, der die Menschen wie einst die griechischen Sophisten einseift, der im Streit um das bessere Argument in die Trickkiste greift, sondern einer, dem es um Inhalte geht. In Sachen medialer Ausstrahlung gleicht er eher dann doch dem eher nüchternen Scholz als dem versierten Taktiker Friedrich Merz oder dem bayerischen Selbstinszenierer Markus Söder.

Woidke macht auch keine One-Mann(Frau)-Schow wie BSW-Chefin Sahra Wagenknecht, die medienaffin agiert und die Kameras wie ihr zweites Spiegelbild sucht, Kampfphrasen drischt und ihren ewigen Sing-Sang auf Wladimir Putin als Welterlöser wie ein Flötensolo wiederholt. Wo Wagenknecht in die Luft bläst, krempelt Woidke die Ärmel hoch. Er ist ein Mann der Scholle, der Erde Brandenburgs entsprungen. Auf einem Bauernhof in der Lausitz im niedersorbischen Naundorf, einem Ortsteil von Forst im brandenburgischen Landkreis Spree-Neiße, ist er als Sohn eines Schlossers und einer Hauptbuchhalterin aufgewachsen. Woidke, der noch heute in seinem Elternhaus lebt, ist heimatverbunden, ohne ein Hinterwäldler zu sein.

Theodor Fontane und die Märker

Als „nüchtern und charaktervoll“, als „ordentlich und sparsam“ hatte Theodor Fontane einst die Märker beschrieben. Und Woidke scheint dies verinnerlicht zu haben, er ist wie das weite Land, dessen weite Flächen er mit einer vitalen Lebensgröße von 196 cm widerspiegelt. Er ist nüchtern, weil er sich nicht die Realität herbeiredet, sondern diese diagnostiziert und analysiert. Er ist charaktervoll, weil es seinen Bürgern in die Augen blicken will und weiß, was die Stunde schlägt. Dass er dabei auch auf Konfrontation mit Bundeskanzler Olaf Scholz geht, den er wohlwissend um das Ampel-Desaster in Berlin aus seinem Wahlkampf heraushielt, ist sogar mutig. Mutig deshalb, weil die Wahlheimat und der Wahlkreis des SPD-Politikers und ehemaligen Ersten Bürgermeisters von Hamburg Potsdam sind. Wie zwischen dem CDU-Landeschef von Sachsen, Michael Kretschmer zu Friedrich Merz, läuft es zwischen Woidke und Scholz nicht ideal. Im Wahlkampf hatte der Brandenburger nicht auf die Ampel-Politik gesetzt und gemeinsame Wahlkampfauftritte mit dem Bundeskanzler als nicht allzu bedeutsam bezeichnet. „So dramatisch war das gar nicht. Wir haben von Anfang an klar gemacht, dass es hier um Brandenburg geht.“

Der Landesvater

Woidke ist als Landesvater 2013 in große Fußspuren getreten, doch dies nicht unvorbereitet: Von 2004 bis 2009 war er Minister für ländliche Entwicklung, Umwelt und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg. Als Vorsitzender der SPD-Fraktion und Mitglied des Präsidiums des Landtages arbeitete er von 2009 bis 2010, von 2010 bis 2013 war er Innenminister. Das Amt des Bundesratspräsidenten und damit deutlich mehr Macht, sich in die Belange des Bundes einzuschalten, hatte er von 2019 bis 2020 inne.

In der guten Tradition von Manfred Stolpe und Matthias Platzeck

Mit seiner hemdsärmeligen Art, mit seiner Bodenständigkeit und nonchalanten Volksnähe reiht sich Woidke nahtlos in die Erfolgsgeschichte der brandenburgischen SPD nach der Wende im Jahr 1989 ein. Der erste Ministerpräsident des einstigen preußischen Kernlandes und der Reformation war Manfred Stolpe. Bis heute gilt er als der behütende Übervater des jungen Landes, das am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Wiedervereinigung, neu gegründet wurde. Stolpe, der aus Stettin stammende Kirchenjurist, hatte das Land geformt, eine Landesidentität geschaffen, ein Wir-Gefühl in die Herzen der Märker gelegt. Und Woidke hatte Stolpe viel zu verdanken, oft kreuzten sich die Wege der beiden Protestanten, die überzeugt ihren Glauben im säkularen Staat lebten, immer ging Woidke bestärkt aus diesen Begegnungen heraus. Beim Tod Stolpes verabschiedete sich Woidke mit den folgenden Worten: „Sein Lebensweg ist untrennbar mit Brandenburg verbunden. Er hat viele von uns, auch mich, geprägt. Manfred Stolpe fand seine Berufung früh: Er wolle mit seinen Kenntnissen „anderen Leuten, die nicht genau Bescheid wissen, wie man es macht, zur Seite stehen“. Anderen zur Seite stehen, dies blieb auch der rote Faden in Stolpes Leben, dem er unbeirrt folgte – „als Christ, als Jurist, als Politiker, als Menschenfreund.“ Und von Stolpe hat Woidke gelernt: jedem respektvoll, ohne Ansehen der Person gegenüber zu treten. Wie Stolpe und der ihm nachfolgende Ministerpräsident Matthias Platzeck, der Patchwork-Daddy, ist auch Woidke ein aufmerksamer Beobachter und geduldiger Zuhörer.  Den Menschen zuzuhören, das Miteinander zu pflegen, Brandenburg friedlich, demokratisch und tolerant zu stärken und weiterzuentwickeln, darin ist Woidke zugleich zum Vermächtnisverwalter des ersten ostdeutschen Landesvaters geworden. Brücken zu bauen und nicht abzureißen, auch nach Russland hin, bleibt eine Maxime Woidkes, der sich den Kampf gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und für Menschenfeindlichkeit auf die politische Agenda geschrieben hat.

Im Jahr 2013 war es Matthias Platzeck gewesen, der einst als Hochwassermanager und als Deichgraf in die Mediengeschichte eingegangen ist, der Woidke als den richtigen Mann für seine Nachfolge sah. Platzeck, der gesundheitsbedingt zurücktrat, weil er es „nie vermocht“ hatte, dass ihm „eine dicke Haut wächst“, sah in Woidke eben jenen couragierten und unprätentiösen Mann, der die „märkische Art des Zupackens“ verkörpere, die in unruhigen Zeiten, wo Haushalte zu konsolidieren und Flughafenplaner zu kontrollieren sind, gefragt ist. Woidke ist ein Parade-Märker, einer, der keine Identitätskrise und keine Altlasten habe. Kurz nach dem Sieg der SPD erklärte Platzeck und verlieh damit seinem Nachfolger den Ritterschlag: „Dietmar Woidke ist nicht nur der Ministerpräsident, er ist bereits der Landesvater.“ Stolpe, Platzek, oder Woidke – sie alle waren Landesväter, vergleichbar mit den CDU-Politikern Kurt Biedenkopf in Sachsen und Bernhard Vogel in Thüringen, allesamt Charismatiker, wobei die einen aus dem Fundus ihrer Westvergangenheit schöpften, die anderen aus dem Leben greifend.

Michael Kretschmer hat alles richtig gemacht

Die Nähe zwischen den Ost-Ministerpräsidenten ist geblieben, auch in diesen brüchigen Zeiten. Anders als im Westen der Republik denkt man pragmatischer – mit Blick auf das Erstarken der Ränder links oder rechts – über Parteigrenzen hinweg. So hatte eine Woche vor der Landtagswahl in Brandenburg Woidke Unterstützung von Sachsens CDU-Regierungschef Michael Kretschmer erhalten. „Wichtig sei, dass die erste politische Kraft im Land eine demokratische Partei ist.“ Denn in „unsicheren Zeiten brauche es Verlässlichkeit“ und Stabilität, so der CDU-Politiker, die es seit 34 Jahren mit der SPD in der Mark gegeben hat. „Ich wünsche mir sehr, dass wir weiter gemeinsam Verantwortung übernehmen. Dietmar Woidke hat dem Land sehr gutgetan.“ Und der fügt hinzu: „Es ist ganz wichtig, dass die SPD in Brandenburg vor der AfD liegt. Am besten natürlich in einer Koalition mit Jan Redmann und der CDU.“

CDU-intern löste Kretschmers Parteigang für den politischen Ampel-Gegner blankes Entsetzen aus. Friedrich Merz war enttäuscht, habe diese Aussage der CDU doch massiv geschadet. Letztendlich hatte Kretschmer damit Merz brüskiert, der sich erst kurz vor der Brandenburg-Wahl zum Kanzler kürte. Auch die Brandenburger CDU zeigte sich empört über ihren Parteifreund aus Dresden und sprach vom unkollegialen Kretschmer. Doch nach dem Sieg der SPD in Potsdam kann man sagen: Alles richtig gemacht, Richtig Herr Kretschmer – sie haben als Demokrat gehandelt.

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Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".