Wer ist eigentlich der Philosoph Plotin? – Eine Ideengeschichte, die auch das Konzil von Nicäa vor 1.700 Jahren mit beeinflußte

Der Philosoph, Foto: Stefan Groß

Plotins Philosophie gilt als Paradigma spätantiken Denkens. Mit ihr beginnt ein geistesphilosophischer Entwicklungsprozeß, der das Abendland prägte. Nicht nur die lange Tradition der spätantiken und mittelalterlichen Philosophie, die maßgebend vom Neuplatonismus beeinflußt wurde, zeigt, welchen Stellenwert des Denken Plotins im Abendland hat, auch modernere Autoren wie Martin Heidegger,  Theodor W. Adorno, Jacques Derrida, Wolfgang Cramer u.a. sind an systematischen Fragen interessiert, wie man sie bei Plotin findet.  Mit Ausnahme Kants, der sich im Rahmen seiner „Kritiken“ intensiver mit dem Sensualismus, Empirismus und Rationalismus – ausgehend von Wolff und Baumgarten – auseinandersetzt, finden sich innerhalb des deutschen Idealismus strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Neuplatonismus Plotins. Fichte, Schelling, Hegel und Krause betonen – auch im Anschluß an die spätantike Philosophie Plotins – den Vorrang der Einheit vor der Vielheit. Wie Plotin fordern sie eine systematisch-strukturelle Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze, das die Einheit repräsentiert. Damit greifen sie nicht nur eine Grundfrage abendländischer Metaphysik auf, sondern suchen nach einer neuen Verbindung zwischen Einheit und Vielheit. Die Frage nach der Einheit und Vielheit ist eine, die sich bereits Platon in seinen Schriften, d.h. im Sophistes und Parmenides stellte, sie wird aber auch für Plotin zur Grundlage des philosophischen Denkens. Er sieht sich in erster Linie als Interpret der platonischen Philosophie, vollendet aber diese zur sogenannten Einheitsmetaphysik. Unabhängig von christlichen Vorstellungen, die Einheit des Seins betreffend, sucht Plotin nach einer einschlägigen Erklärung, wie die Vielheit aus der Einheit abgeleitet und die Vielheit zur Einheit zurückgeführt werden kann.  Es läßt sich bereits hier festhalten, daß es Plotin einerseits um eine Einheitsmetaphysik geht, andererseits um den analytischen Aufstieg des Menschen zum Einen. Bei der philosophischen Begründung einer obersten Einheit, die Prinzip aller Mannigfaltigkeit oder Endlichkeit ist, schließt sich Plotin an Platon an. Mit der Analyse, wie dieser Aufstieg zum Einen hin, den er als das ausgezeichnete Ziel der Menschen begreift, möglich ist, greift er aber auch auf Aristoteles zurück.

Das Eine

Im Anschluß an die erste Hypothese des platonischen Dialoges „Parmenides“ formuliert Plotin eine negative Theologie des Einen. Was ist darunter zu verstehen? Um diese Frage zu klären, bedarf es zweier Anmerkungen. Einerseits geht Plotin davon aus, daß ein Prinzip – wie das Absolute – unabhängig und frei von jeder Bestimmbarkeit sein muß. Andererseits sucht er nach einem Erklärungsmodell, dem, theologisch gesprochen Unabdingbarkeit zukommen muß. Wieder anders formuliert: Er sucht nach einem Prinzip aller Bestimmbarkeit, das selbst nicht Bestimmheit ist. Um die besondere Stellung des Absoluten oder Einen hervorzuheben, kommt Plotin zur mystischen Bestimmung des absoluten Einheitsgrundes.  Das Eine ist genau dann absolut, wenn es keine Aussagen oder keine Urteile über es gibt. Es  entzieht sich  nicht nur jeder Beschreibung oder Zuschreibung, es ist über jedes Urteil erhaben. Eine genaue Beschreibung des absoluten Einen gibt es nicht, weil jede Beschreibung und jedes Erkenntnisurteil von der Differenz zwischen Prädikat und Subjekt ausgehen. Eine Differenzaussage oder ein Urteil entspricht dem absoluten Einen nicht, weil sie an der Einheit des Absoluten scheitert, oder diese gar nicht sprachlich einholen kann. Aus diesem Grund favorisiert Plotin eine radikale Metaphysik des Einen, die in der Mystik der abendländischen Philosophie Einzug findet. Meister Eckhard, Hildegard von Bingen, Katharina von Siena u.a. begreifen die negative Theologie als die höchste Form über das Absolute – christlich gesprochen – über Gott zu reden. Das Eine oder Gott entzieht sich nicht nur der sprachlichen Mitteilung, es ist, wie Platon bereits in der Politeia hervorhebt, jenseits von allem. Durch die Jenseitigkeit wird einerseits die Transzendenz des Einen, andererseits dessen Sonderstellung innerhalb einer hierarchisch geordneten kosmologischen Weltsicht hervorgehoben. Die Radikalität der Seins- und Erkenntnistranszendenz unterstreicht das Bemühen Plotins, eine negative Theologie hervorzuheben. Die Bestimmung des Einen als „jenseits des Seins“ unterliegt aber einem Perspektivenwechsel im Denken Plotins. Anfänglich ging Plotin wie Aristoteles von einem sich denkendem Einen aus und stellte diesem zudem persönliche Gottesprädikate zur Seite. Vor diesem Hintergrund bezeichnete er das Eine als Liebe, Überfülle, Grund und Ursprung des Seins u.a. Bei all diesen positiven Beschreibungen ist aber zu berücksichtigen, daß sie durch ein „oion“ eingeschränkt werden. Zwar kann man das Eine als Liebe, als Gutes, als Schönes u.a. bezeichnen, durch das „oion“ werden die Aussagen über das Eine aber relativiert. Die Spätphilosophie verzichtet auf diese „Einschränkung“ und betrachtet das Eine im obengenannten Sinn als negatives Prinzip von allem. In der Tat versucht Plotin aus der Negativität des Einen nicht nur die Welt des Geistes und der Seele, sondern die ganze kosmologische Wirklichkeit abzuleiten. Dabei steht er vor folgendem Dilemma: Wie ist es möglich, daß sich das indifferente Eine in die Welt hinein vermittelt? Wie gelingt es aus der Indifferenz die Vielheit abzuleiten? So sehr sich Plotin auch bemüht, diesen Fragen beizukommen, er kann sie nicht befriedigend beantworten. Ist das Eine jenseits von allem, so der nicht überzeugende Lösungsversuch Plotins, kann sich nur das zweite auf das Eine hin bestimmen. Aus einer reinen Unbestimmtheit, die Plotin im Anschluß an Platon als unbestimmte Zweiheit begreift, wird eine bestimmte Einheit, wenn sie sich auf das Eine hin bestimmt, um so aus ihrer Unbegrenztheit heraus Begrenzung zu erlangen. Dieses unbestimmte Zweite, das sich selbst bestimmt, nennt Plotin den Geist und bezeichnet diesen als die zweite Wesenheit nach dem Einen.  Das zweite Eine – der Geist oder Nous – unterscheidet sich vom radikal indifferenten Einen durch eine ihm immanente Differenz. Zwar ist der Geist Einheit seiner selbst und wie das Eine selbst autonom, er gewinnt aber seine Einheit durch die ihm immanente Differenz. Während das Eine indifferente Einheit ist, ist das zweite Eine differente Einheit – oder wie Hegel später sagen wird – Einheit der Einheit in der Differenz. Selbst wenn sich das Zweite – bedingt durch die Differenz – selbst konstituiert als Einheit, steht diese in einem untergeordneten Verhältnis zur absoluten Einheit.

Der Geist

Im Anschluß an Platons Parmenides begreift Plotin das differente Eine als das intelligible Reich der Ideen. Der Geist enthält die Gesamtheit der Ideen als Einheit, entfaltet sich aber gleichzeitig in die Gesamtheit der Ideen, die Teile des Ganzen sind und wiederum das Ganze als Teile darstellen. Gemäß der Aufgliederung des Gesamtgeistes als Einheit in der Differenz besteht jede einzelne Idee aus einer übergeordneten Einheit, einer immanenten Differenz und ihrem synthetischen Produkt von Einheit und Differenz. Der Akt der Selbstkonstitution des Geistes ist keiner, der zeitlich zu denken ist, sondern einer, indem Einheit und Differenzierung im unmittelbaren Vollzug zusammenfallen. Der Geist denkt nicht die einzelnen Ideen, indem er von der einen zur anderen übergeht, sondern er denkt in jeder einzelnen Idee sich selbst. Plotin versteht den Geist als organisches Ganzes, da jede Idee auf eine andere verweist, ohne deren Selbständigkeit aufzuheben. Jede einzelne Idee repräsentiert die Gesamtheit des Geistes in ihrer Besonderheit, verweist aber zugleich auf die Allgemeinheit der geistigen Bestimmungen. Der Geist ist aber nicht nur ein organisches Ganzes, sondern zugleich ein lebendiges Wesen, denn die Bestimmung zu denken, begreift Plotin als Leben. Die Grundstruktur des Denkens liegt in der Differenzierung zwischen dem Denkenden, dem Zudenkenden und dem Akt des Denkens. Damit ergibt sich eine dreistellige Relation, die einer vierten bedarf, um nicht im Modus der Differenz zu verbleiben. Die vierte Relation ist der einheitsstiftende Akt, der die unterschiedlichen Relate in die höhere Einheit des Denkens aufhebt. Im Unterschied zum diskursiven Denken, das zu seiner Gegenstandserkenntnis Begriffe sucht, um beide – per Schema – miteinander zu vermitteln, bedarf das dianoetische Denken keiner Suche. Es ist als ein „Haben“ der Gegenstände mit denen es sich beschäftigt, bestimmt. Der Nous als dianoetischer Vollzugsakt seiner Inhalte ist daher auf keine Außenwahrnehmung oder auf ein sinnliches Erkenntnisvermögen angewiesen, sondern agiert aus sich selbst heraus. Während der erkennende Mensch, die sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung mit den zugrunde gelegten Begriffen vergleicht um ein Erkenntnisurteil zu fällen, hat der intelligible Nous immer schon die Erkenntnis seiner selbst. Der Mensch, und dies ist Plotins Meinung, hat als intelligentes Wesen am Nous Anteil, wenn er denkt. Der Geist ist im Menschen, sofern dieser erkennt, er ist aber zugleich über dem Menschen, wenn dieser seine Erkenntnisse nur an der sinnlichen Wirklichkeit ausrichtet. Er ist einerseits im Menschen, damit dieser überhaupt denken kann (Ursache des Denkens), er ist aber außer dem Menschen, weil sich dieser nicht immer bewußt ist, daß der Geist Prinzip oder Ursache seines Denkens ist. Erst wenn der Mensch erkennt, daß nicht er selbst Prinzip des Denkens, sondern der denkende Geist in ihm die Ursache seiner Denktätigkeit ist, erst dann vermag er zu erkennen, daß er ein Abbild des denkenden Geistes ist, der ihm als Urbild des Denkens vorangeht. Die Struktur, d.h. den Aufbau des Denkens hat jeder Mensch mit dem Geist gemein. Allein die Gegenstände des Denkens muß sich der Mensch erst auf dem Wege der Erfahrung erschließen, während dem intelligiblen Nous diese Gegenstände als selbständige Ideen zugrunde liegen.

Der Mensch

Plotin begreift den Menschen und die ihn ausgezeichnete Erkenntnisfähigkeit als Abbild des intelligiblen Kosmos. Der Mensch ist einerseits endlich, d.h. er gehört als Sinnenwesen zur veränderlichen Wirklichkeit, andererseits hat er als denkender Geist an der übergeordneten hierarchischen Welt Anteil. Bedingt durch seine Zugehörigkeit zur sinnlichen und zur geistigen Welt gibt es zwei existentielle Bestimmungen für ihn. Entweder er richtet seinen Lebensentwurf an der endlichen Welt aus, genießt die Sinnenfreuden und den Luxus des Alltags, oder er orientiert sich an den übergeordneten Ideen und der Welt des Einen, des Geistes und der Weltseele, die Plotin in der Nachfolge von Platon als die eigentliche Wirklichkeit begreift. Wie Platon sieht Plotin in der sinnlichen Welt ein schwaches Abbild einer wahren Wirklichkeit, zu der man nur einen Zugang findet, wenn man die sinnliche Welt verläßt. Die Lehre vom Menschen, die Anthropologie muß es sich daher zur Aufgabe machen, den Menschen zu befähigen, an der intelligiblen Welt teilzuhaben. Die Teilhabe an der intelligiblen Welt setzt Aktivität beim Menschen voraus. Um Teil dieser Welt zu sein, reicht es aus ein Bild oder Abbild zu sein. Um aktiv an dieser Welt teilzuhaben, bedarf es einer Orientierung auf diese Welt hin. Bereits hier wird deutlich, was Plotin anstrebt. Zum einen geht es ihm um die Erklärung und Plausibilisierung der göttlichen Entfaltung in die Welt hinein. Zum anderen will er, daß sich der Mensch seinem Urbild ähnelt oder diesem ähnlich wird. Während die Entfaltung des Einen – über die Stufen des Geistes und der Weltseele vermittelt, an der der Mensch als individuelle Seele teilhat –, erklärt, wie sich das Eine in der Welt sich darstellt, zeigt der umgekehrte Weg, wie der Mensch zum Einen gelangt. Verkürzt gesagt: Plotin faßt in seiner Philosophie Abstieg und Aufstieg zusammen. Die Erklärung, wie sich Gott in der Welt offenbart und welche strukturellen Bedingungen dazu nötig sind, liefert die natürliche Theologie, die sich von der geoffenbarten unterscheidet. Man benötigt, so Plotin, keine Offenbarung, um zur Idee Gottes zu gelangen, sondern man nähert sich der Idee des Einen bereits an, wenn man auf sich selbst reflektiert und erkennt, daß man ein Teil des kosmischen Gefüges ist, an dessen Anfang das Eine steht. Den Akt der Selbstreflexion oder des Sich-innewerdens begreift Plotin bereits als Grundlage des Aufstieges zum Einen hin, denn der sich selbst bewußt werdende Mensch hat sich bereits von der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Wirklichkeit verabschiedet und konzentriert sich auf seinen Wesenskern, d.h. auf seine intelligente Natur. Die Voraussetzung, für die Selbsterkenntnis sieht Plotin in der Reinigung und Abstraktion vom Sinnlichen. Zwar begreift er das Sinnliche nicht als absolute Negativität, da sich auch –, wenngleich in abgeschwächter Form – die ideelle Welt darin spiegelt. Ein Aufstieg oder eine Rückwendung zum Prinzip des Einen ist auf diesem Wege ausgeschlossen, da die Vielheit der materiellen Welt nicht dem Prinzip absoluter Einheit entspricht, sondern dem Prinzip der Differenz oder Mannigfaltigkeit unterworfen ist. Von der Prämisse ausgehend, daß nur Gleiches durch Gleiches erkannt werden kann, ist die Erkenntnis der Weltseele, des Geistes und des Einen letztendlich nur möglich, wenn die Differenz aus dem Erkenntnisprozeß ausgeklammert wird. Die Aufgabe des gottsuchenden Menschen ist es daher, sich auf die Einheit zu konzentrieren bzw. diese zu befördern. Alle sekundären Erkenntnisse, die den Prozeß der Einswerdung stören oder gefährden sind darum zu negieren, da sie den Menschen von seinem eigentlichen Lebens- bzw. Endziel ablenken. Analog zur christlichen Tradition sieht Plotin das menschliche Heil erst dann erreicht, wenn sich der Mensch mit dem Einen identifiziert, d.h. zu diesem Einen wird. Die Identifikation, die als mystische Einheitserfahrung beschreibbar ist, versteht Plotin als den Abschluß der Gottessuche. Im Akt der Identifikation sind Ich und Gott eins, wenngleich diese Identifikation nicht sprachlich rekonstruiert, sondern nur in einem sekundären Akt begrifflich eingeholt werden kann. Das höchste Ziel, dies läßt sich bereits hier hervorheben, ist die Identifikation mit dem Einen. Dabei geht Plotin – im Unterschied zu christlichen Lehren – davon aus, daß eine Identifikation mit dem Einen stattfindet, d.h., daß der Mensch für einen Augenblick Gott wird. Diese Identifikation ist das höchste Ziel, das der Mensch in seinem Leben oder in einem postmortalen Zustand erreichen kann. Plotin versteht die Einswerdung mit dem Einen als mystisch-kontemplativen Akt. Sein erkenntnistheoretisch und ontologisch fundierter Imperativ „Laß ab von allen“ unterstreicht die Richtung seines Denkens. Nicht im Jenseits, d.h. nach dem Tod gelingt die Identifikation mit dem Einen, sondern bereits im endlichen Leben soll diese angestrebt werden. Damit verlagert Plotin die Gotteserkenntnis ins endliche Leben. Der Mensch benötigt nicht, wie Platon noch im Phaidon formuliert, die völlige Entleibung, um zur Gottesschau zu kommen, ihm gelingt diese bereits, wenn er seine leiblich-sinnlichen Bedürfnisse ignoriert. Die Erkenntnis des Absoluten, die für die spätere rationale Geistmetaphysik und für die Theologie des Abendlandes zum Fundament wird, ist ein Akt, den das menschliche Ich vollzieht. Im Unterschied zur Metaphysik des Abendlandes –  in der Nachfolge von Kant – vollzieht das Ich diesen Akt nicht, weil es ein endliches Selbstbewußtsein hat, sondern weil es an der überwirklichen Welt teilhat. Der Aufstieg ist möglich, so Plotin, weil der Mensch eine Seele hat. Im Menschen finden sich drei Seelenteile, wobei der vernünftige Teil für allumfassende Erkenntnis steht. Die Verstandesseele ermöglicht die Erkenntnis der sinnlichen Wirklichkeit und die vegetative Seele steht für den Menschen als sinnliches Wesen. Alle drei Seelenteile ermöglichen es ihm, auf den unterschiedlichen Stufen einen Zugang zur übergeordneten Wirklichkeit zu ermöglichen.

Im Unterschied zur Erkenntniskritik, die Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft vorlegt, begreift Plotin die Idee des Einen, d.h. den Aufstieg zum Einen, nicht als regulatives Ideal, sondern als konstitutives Prinzip, dem man sich annähern soll. Selbst wenn er ontologische und erkenntnisspezifische Zuschreibungen – das Eine betreffend –, negiert, begreift er das Eine als Grund des Seienden und des Erkennenden. Anders gesagt: Das Eine ist zwar nicht seiend, aber so die paradoxe Bestimmung, Grund des Seins.

Plotin geht davon aus, daß der Mensch ein gemischtes Wesen ist, das sowohl aus Leib und Geist besteht.  Seine Leiblichkeit steht in enger Beziehung zur Welt der materiellen Dinge, während sich seine Geistigkeit dadurch auszeichnet, daß der Mensch an der Welt der Ideen partizipiert. Die Hauptaufgabe des Menschen besteht, so Plotin, darin, sich von der Welt zu distanzieren, denn nur so gelingt ihm der Aufstieg zum Einen hin, der das ausgewiesene Telos endlicher Selbstbestimmung ist. Der Aufstieg zu Gott hin gelingt entweder in einem Akt oder er vollzieht sich auf unterschiedlichen Stufen. Je mehr sich der Mensch mit sich beschäftigt, d.h., je mehr er sich seiner Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt bewußt wird, desto mehr hat er an dieser Welt bereits teil. Reflektiert er aber nicht auf sein selbst, sondern lebt in der Welt der sinnlichen Wirklichkeit ist ihm der Aufstieg verwehrt, da er sich nicht mit den seinem Wesen zugrunde liegenden Wesenheiten beschäftigt, sondern mit demjenigen, das am weitesten vom Einen steht. Ohne den platonischen Dualismus zu teilen, geht Plotin davon aus, daß er die Materie als den Grund des Übels und des Bösen versteht und sie mit diesen identifiziert. Die Ausrichtung an der Materie schränkt den Menschen nicht nur auf seinem Weg zum Einen hin ein, sondern sie führt ihn zu einer bösen, endlich-beschränkten Lebensweise. Diese Materie bestimmt Plotin als bestimmungsloses Nichts, das erst Bestimmtheit erhält, wenn die Ideen – vermittelt durch die unterschiedlichen Hypostasen – in sie einwirken und dem Ungestalteten Gestalt verleihen. Die Materie ist wie Eine nicht erkennbar, sie entzieht sich darüber hinaus jeder Bestimmung und Existenz. Im Unterschied zum Einen ist aber die Materie absoluter Mangel, während das Eine – positiv formuliert – Überfülle ist. Trotz der Stellung, die Plotin innerhalb der Enneaden der Materie zugesteht, geht er nicht, wie später Kant beispielsweise davon aus, daß sie ein radikal Böses ist. Nicht wie im gnostischen Dualismus regiert auf der einen Seite die Materie, auf der anderen Gott, sondern die Materie ist den Hypostasen subordiniert. Dem Menschen, der sich für die sinnliche Welt interessiert, ist es immer möglich, sich zum absoluten Prinzip, d.h. zum Einen zu erheben, wenn er die Materie sein läßt. Jedem Menschen, so Plotin, ist es möglich, selbst wenn er das Böse gesucht und sich mit ihm identifiziert hat, der Macht des Bösen zu entfliehen. Die Wirklichkeit des Bösen, die Plotin einräumt, ist relativ, d.h. aufzuheben. Die Möglichkeit zum Bösen sieht er im Vergessen der Seele, die das Gute in einer präexsistenen Welt bereits geschaut, sich aber dieser Schau nicht mehr bewußt ist. Wie Platon glaubt Plotin an eine präexistente Seele, die – bevor sie sich an einen Körper bindet oder in diesen einbindet – im All der Seelen lebte und dort Freiheit und Vollkommenheit erlangte. Das Vergessen der wahren Identität des Menschen bezeichnet Plotin als einen Zustand der Selbstvergessenheit. Der Mensch, der böse handelt, hat einerseits seine Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt verloren, andererseits ist er als ein in der Welt lebendes, seiendes und denkendes Wesen mit dem Einen, dem Geist und der Weltseele verbunden. Der Zustand des Vergessens kann, so Plotin, daher nur ein zeitlich begrenzter sein.

Neben die Reinigung als Bedingung des Aufstieges, die Plotin als einen Akt begreift, den jedes Ich leisten muß, steht als weitere Voraussetzung die Idee vom Einen als der paradoxen Einheit von Immanenz und Transzendenz. Anders gesagt: Das Eine ist der einheitliche Grund der Welt, ohne die Welt selbst zu sein. Im deutschen Idealismus, insbesondere beim späten Fichte, beim späten Schelling und bei Krause wird die Vorstellung von dem einen Wesen wieder aufgegriffen. Krause versteht das höchste Prinzip als Urwesen, Fichte identifiziert es mit der Sonne, die Licht verleiht. Wie Plotin geht Krause von der doppelten Bestimmung des einen Gottes aus. Das Eine ist abwesend-anwesend, es ist präsent ohne in die Erscheinung treten, es ist aber auch der Grund, daß sich das Einzelne dem Einen oder Gott annähert, weil die Immanenz des Prinzips im Prinzipiat dieses nötigt, sich selbst auf das Eine hin zu überschreiten. Die Transzendenz des Einen dient als Fundament oder Ideal der Annäherung. Die Frage bleibt: Wie kann man sich ihm annähern? Der Akt der Annäherung ist durch das denkende Subjekt möglich, dem es  gelingt, die Differenz zwischen Sein und Denken aufzuheben. Hat es diese Differenz aufgehoben, befindet es sich auf der Stufe des intelligiblen Geistes, d.h. bereits auf der Vorstufe zur Erkenntnis des Einen. Plotin nennt die Erkenntnis des sich selbst denkenden Geistes eine intellektuelle Anschauung, weil Denken und Sein (Gedachtes) nicht reflexiv erkannt werden, sondern nur geschaut werden, wobei die Schau die Einheit von Denken und Sein vorstellt. Von dieser eher erkenntnistheoretischen Schau hebt Plotin die reine Schau ab. Diese zweite intellektuelle Anschauung – die Schau des Einen – ist unmittelbar und intuitiv und bildet den Abschluß des Aufstieges. Voraussetzung für diese Schau ist die Ekstase, d.h. ein Heraustreten aus der Welt des Erkennens und des Seins. Der Akt der Henosis, der ebenfalls nicht zeitlich gedacht wird, ist der Akt der Identifikation. Das Erlebnis der henotischen Identifikation gelingt in erster Linie denjenigen Denkern, die sich mit philosophischen Fragen auseinandersetzen und sich auf eine kontemplative Lebensführung vorbereiten.  Für Plotin ist das Erlebnis der Schau aber nicht nur auf den Eingeweihten möglich, wie Platon im 7. Brief verkündet, sondern die Schau bleibt ein Akt, der jedem Menschen offensteht, der sich dafür entscheidet, den kontemplativen Weg einzuschlagen. Derjenige, der zur höchsten, d.h. Prinzipienerkenntnis gelangt ist, wird versuchen diesen Akt immer wieder zu vollziehen, da er die Identifikation als absolute Glückseligkeit begreift und sie seinem irdischen Leben als Wegweiser voranstellt. Demjenigen, der die Schau noch nicht vollzogen hat, ist es möglich, zeit seines Lebens an der Verwirklichung dieser zu arbeiten. Was leistet die Schau für das tägliche Leben? Plotin geht davon aus, das vita activa und vita contemplativa als zwei unterschiedliche Weisen menschlicher Existenz begriffen werden, wobei er natürlich dem theoretischen Leben den Vorzug gibt. Die Henosis zu Lebzeiten dient in erster Linie dazu, sein Leben auf die göttliche Welt hin zu verbessern. Der kontemplative Mensch hat die Erkenntnis, was das Gute an sich ist, wenngleich er diese nur reflexiv einzuholen vermag. Ihm gelingt es zu unterscheiden, welche Tätigkeiten Glückseligkeit verheißen und welche nicht. All seine Tätigkeiten spiegelt er daher im Lichte der absoluten Erkenntnis, die er als Maßstab seinem Handeln zugrunde legt. Auf der einen Seite ist er selbst auf dem Weg zur Vervollkommnung, auf der anderen steht es als sittliche Leitfigur, die den anderen Menschen als Vorbild und Lehrer voran geht und diese anleitet, ihr Glück anzustreben. Die Idee vom Tugendlehrer als Vorbild für eine sittliche Ordnung, die Hegel später aufgreifen wird, findet sich bereits in der Ethik Plotins.

Die Ethik

Analog zur Metaphysik des Einen steht in der Ethik – gut platonisch – die Idee vom einen Guten im Mittelpunkt. Von ethischer Sicht aus gesehen, ist die Verwirklichung des Guten, d.h. wiederum die Schau das absolute Ziel jedes einzelnen Menschen. Das Eine-Gute zu schauen, ist die höchste Tugend. Von dieser unterscheidet Plotin vernünftige Tugenden und Tugenden der Seele. Er legt so einen auf die jeweiligen Hypostasen zugeschnittenen Güterkatalog vor. Tugenden der Seele sind Mäßigkeit, Tapferkeit u.a., denn sie dienen zur Orientierung im Leben des geistig-sinnlichen Subjektes. Sie sind quasi die Maßstäbe, die jeder sittlichen Lebensführung zugrunde liegen. Die dianoetischen Tugenden – wie die Liebe beispielsweise – siedeln eine Stufe höher, sie sind den Tugenden der Seele übergeordnet und nur von dem zu erreichen, der zur Geisterkenntnis fortgeschritten ist. Der Gedanke der Liebe beschränkt sich aber nicht nur auf die geistige Welt, sondern wird zum Fundament des Aufstieges im allgemeinen. Plotin schließt sich wiederum an Platon an, wenn er die Liebe als Strebebewegung begreift, die erst dann zur Ruhe kommt, wenn sie an ihrem Ziel angekommen ist. Dieses Ziel wird erreicht, wenn die konstitutive Differenz zwischen Liebenden und Geliebten – parallel zur Erkenntnisdifferenz – aufgehoben wird. Liebe versteht Plotin nicht nur als diejenige Kraft, die es ermöglicht, zum Einen hin aufzusteigen, sie ist das existentielle Verlangen nach dem Einen. Aufgrund ihrer immanenten Ambivalenz, die sowohl nach dem Einen aber auch nach einer glücklichen Existenz in der endlichen Welt strebt, versteht sie Plotin als Dämon. Erst wenn sie sich auf die eigentliche, d.h. intelligible Welt hin bestimmt, erst dann ist sie als reine Kraft zu begreifen.

Die Schönheit

Wie das Gute als Prinzip der Ethik ist das Schöne als Prinzip des ästhetischen Aufstieges zu verstehen. Ohne eine Ästhetik vorzulegen, die es als eigenständige Wissenschaft in der Spätantike nicht gab, sucht Plotin im Schönen nach den Bedingungen der Möglichkeit, Schönheit als Qualität des Aufstiegs zu begreifen. Plotin unterscheidet zwei Arten des Schönen. Zur geistigen Welt gehört das intelligible, zur irdischen Welt gehört das sinnlich Schöne. Den Geist nennt Plotin schön, weil er eine geschlossene Einheit repräsentiert. In der sinnlichen Welt kann etwas schön genannt werden, wenn es auf die intelligiblen Form- und Strukturprinzipien verweist. Sinnlich schön ist daher, dasjenige, was an der intelligiblen Welt teilhat, zugleich aber die Materie nach gewissen Formprinzipien gestaltet. Anders gesagt: In den sinnlichen Erscheinungen und Handlungen, im Kunstwerk und in einer schönen Geste spricht nicht der Stoff das Gemüt an, sondern die Form. Plotin geht es daher um eine Gehalts- oder Regelästhetik im Unterschied zu einer reinen Gefühlsästhetik. Trotz der Differenz, die sich aus der unterschiedlichen Zugehörigkeit der beiden Schönheiten ergibt, begreift Plotin die sinnliche Schönheit als Ausgang, um zur intelligiblen Schönheit zu gelangen. Denn nicht das Gefühl urteilt, ob ein Gegenstand schön oder häßlich ist, sondern der gesetzgebende Verstand und die universal ordnende Vernunft entscheiden darüber. Sinnliche Schönheit ist zwar qualitativ der intelligiblen untergeordnet, sie behauptet aber einen eigenständigen Platz innerhalb des Plotinischen Denkens. Damit distanziert sich Plotin von Platon, der die sinnliche Schönheit nicht anerkannte. Er sieht aber wie Platon, daß die sinnliche Schönheit ein Abbild des Urbildes ist und dieses in raum-zeitlicher Beschränkung darstellt. Schön ist, so Plotin, was harmonisch, was rhythmisch und nach dem Prinzip der Unterordnung der Teile unter das Ganze erscheint. Die Produkte oder Erscheinungen des Schönen sieht Plotin hauptsächlich in den Werken der schönen Kunst. Anders gesagt: Seine Schönheitslehre legt den Schwerpunkt auf das Kunstschöne.

Der Gedanke der Teilhabe faszinierte die Künstler der Renaissance – wie beispielsweise Michelangelo. Der Gedanke, dass sich im Schönen das Unendliche darstellt, haben Marsilio  Ficino und Georg Wilhelm Friedrich Hegel gleichermaßen begeistert. Selbst Schiller und Schelling gehen davon aus, daß das Schöne Darstellung des Unendlichen im Endlichen ist. Plotin geht – Hegel wird ihm später hierin folgen – nicht vom Naturschönen aus, wenngleich er betont, daß die Natur nach geistigen Prinzipien organisiert bzw. aufgebaut ist. Die Natur ist kein totes Produkt, keine leere Materie, sondern ein harmonisches Ganzes, das sich nach Prinzipien aufbaut, die geistiger Natur sind. Die Naturvorstellung als einem sich selbst organisierenden Prozeß zu begreifen, wird neben Schelling auch für Krause zum Erklärungsmodell, das von der Einheit des Idealen und Realen im Realen ausgeht. Die Natur ist nicht wie Spinoza und Leibniz meinten, eine Maschine, die allein durch Zweckprinzipien organisiert wird, sie ist ein lebendiges Ganzes, das auf eine ihr übergeordnete Einheit verweist und diese als schönen Schein präsentiert.

Plotin begreift dasjenige als schön, wo jeder einzelne Teil für sich selbst schön ist, sich aber zugleich in die Gesamtheit der Darstellung einfügt, d.h. zur Komposition des Ganzen beiträgt. Als schön wird, so Plotin etwas empfunden, das der Wesensnatur der Seele entspricht. Während das Schöne mit der Struktur der Seele übereinstimmt, die ihre Bestimmung vom Geist hat, erscheint das Häßliche als ein Wesensfremdes, das seinen Grund in etwas anderem hat. Das Häßliche zeichnet sich demnach durch Disharmonie, Mangel und einem fehlenden Verhältnis zwischen Ganzem und Teil aus. Er wird als häßlich empfunden, weil es der Wesensnatur des Menschen als intelligiblen Wesen widerspricht. Anders gesagt: Weil der Mensch als intelligentes Wesen zum intelligiblen Reich gehört, hat er apriori die Kenntnisse, was schön und was häßlich ist.

Wie in der Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik ist auch in der Ästhetik dasjenige wahre, gerecht, gut und schön, das Einheit darstellt. Die Kategorie der Einheit wird so zum Kriterium der Beurteilung. Plotin schreibt: „So entsteht also entsteht der schöne Körper: durch Gemeinschaft mit einer rationalen Struktur, die vom Göttlichen herkommt.“

Ausblick

Plotins Philosophie prägt die Struktur abendländischen Denkens maßgeblich. Er kommt von Platon und ist von diesem inspiriert. Er unterscheidet sich aber von ihm, wenn er das sinnliche Schöne als eigenständige Wirklichkeit begreift und der Natur intelligente Strukturen zugrunde legt.

Seine negative Philosophie und Theologie wird zum Baustein christlicher Mystik und kontemplativer Lebensführung. Theologen wie Eriugena, Nikolaus von Kues und Thomas von Aquin u.a. halten am überseienden Grund allen Seins fest und begreifen diesen als göttliches Prinzip. Die Lehre vom Geist als der Einheit in der Differenz legt beispielsweise Hegel seiner bekannten Dialektik zugrunde und beruft sich in seiner „Philosophie der Geschichte“ ausdrücklich auf die Errungenschaften Plotinischen Denkens. Er hebt nicht nur hervor, daß es Plotin gelungen sei, eine Einheitsmetaphysik zu begründen, sondern das er die Dialektik platonischer Prägung präzisiert hat. Nicht nur das Aufheben des Besonderen in ein Allgemeines, d.h. des Bestimmten unter das Prinzip der Bestimmung hat die Interpreten an Plotin fasziniert, sondern die dialektische Struktur des Geistes als Sein, Denken und Leben wurde von christlichen Denkern – wie Marius Victorinus –aufgegriffen und zum Vorbild der trinitarischen Gotteslehre. Sein, Denken und Leben werden dabei mit Vater, Sohn und heiligem Geist identifiziert. Die höchste Instanz ist der Vater, die vermittelnde Person – als Lebewesen – der Sohn und die zu Gott zurückführende Kraft der heilige Geist. An die Stelle einer subordinierten Struktur tritt der Gedanke der Gleichwesentlichkeit oder Homousia, die in unterschiedlichen Konzilen (Nicäa, Chalderon und Konstantinopel) heraus gearbeitet wird und an deren Ende das christliche Glaubensbekenntnis steht. Der von Plotin angedachte – von Proklos – aber ausgeführte Gedanke des In-sich-Bleibens, des Aus-sich-Herausgehens und des In-sich-Zurückkehrens wird zum Erklärungsmodell christlicher sowie philosophischer Denker. Hegel legt diesen Gedanken seiner Philosophie zugrunde, auch Nietzsche kann sich vom Gedanken eines zyklischen Kreislaufs nicht trennen. Der idealistische Ansatz Plotins, d.h. die weitergeführte Philosophie Platons bilden für die gesamte Entwicklung abendländischen Denkens die Grundlage. Die bis heute geführte Diskussion, ob die Seele des Menschen unsterblich sei, ob Gott bloß eine Idee oder ein wirklich existierendes Wesen ist, ob es ein Reich der Seelen gibt, in das sie zurückkehren, sind nicht nur Fragen der modernen Psychologie und Erkenntnisphilosophie, sondern grundsätzliche Fragen, die nicht nur die Suche nach dem Sinn des Lebens unterstreichen, sondern zugleich als Erklärungsmodelle dienen, wie der Mensch in die moderne Gesellschaft einzuordnen ist.

Die Entscheidung zwischen Idealismus plotinischer Provenienz und Sensualismus (Empirismus) ist zwar, wie Fichte betont, eine Frage, was für ein Mensch man ist, sie bestimmt aber über ein Weltbild und den sich daraus ergebenden Entscheidungen. In der modernen Ethik, wo Fragen zur Abtreibung, Sterilisation, Eugenik, Präimplantationsdiagnostik, Palliativmedizin und Sterbehilfe diskutiert werden, entzündet sich immer wieder das Problem, ob der Mensch ein Bild Gottes ist. Fragen stehen im Mittelpunkt, wie beispielsweise: Wann beginnt die Beseelung? Wann ist der Mensch Person? Was bedeutet die Rede vom Abbild und nicht zuletzt: Darf sich der Mensch als creator mundi aufspielen, darf es über Leben und Tod entscheiden? Aus der Sicht Plotins sind diese Fragen eindeutig mit Nein zu beantworten. Aber inwieweit kann man mit Plotin argumentieren, um auf Fragen Antworten zu finden?

Aber nicht nur in der Medizinethik wird auf die Stellung des Menschen eine Antwort gesucht. Viele moderne Interpreten des 20. Jahrhunderts berufen sich auf Plotin. Heidegger stellt wie Plotin die Frage nach dem Grund des Seins und nach der ontologischen Differenz. Postmoderne Autoren wie Derrida legen ihren frühen Werken eine negative Theologie zugrunde. Im Unterschied zum Wahrheitsanspruch, den Plotin mit seiner Philosophie des Geistes begründen will, geht Derrida von der Frage aus, was Wahrheit überhaupt ist. Im Anschluß an Heidegger kann er am traditionellen Wahrheitsbegriff keine verbindliche Form finden. Umgekehrt: Er geht von der Negativität von Wahrheitsbegründungen aus und stellt an ihre Stelle die Offenheit der Wahrheitssuche. Es gibt keine Wahrheit, sondern nur eine, die sich permanent entzieht, die sich immer widerspricht und die Spuren zeichnet, ohne zum Fundament der Wahrheit zu gelangen. Die Suche nach einer verbindlichen Wahrheit, so Derrida, führt in die Aporie, ins Nichts und in den Abgrund. Die Suche nach der Wahrheit ist eingestellt, die Frage erübrigt sich. Anstelle der Wahrheit trifft man nur auf Verweisungen mit beliebigem Wahrheitsgehalt und Wahrheitsanspruch. Sobald sie Anspruch auf Gültigkeit haben, sind sie längst wieder relativiert. Die negative Theologie steht, so Derrida, nicht mehr für die Verwaltung des Wissens, sondern für das Wahrheitsproblem im Allgemeinen. An die Stelle einer Wahrheit tritt der Pluralismus von Wahrheiten.  Vor Derrida ist es bereits Adorno, der mit seiner „Negativen Dialektik“ auf das Wahrheitsproblem aufmerksam macht. Vor dem Hintergrund, daß es die Wahrheit nicht mehr gibt, ist der Mensch in den Freiraum von Entscheidungen gestellt, wobei in Kauf genommen wird, daß ihn die Freiheit immer wieder enttäuscht und zu keinem Ziel führt. Adorno sieht im Nicht-Identischen eine Basis, die  vor Totalität und absurden Machansprüchen bewahren soll. Im Einheitsdenken sieht er die Gefahr einer radikalen Vernichtungsmachinerie, an deren Ende Auschwitz steht. Sowohl Derrida als auch Adorno betrachten die Negativität – ähnlich wie Nietzsche hundert Jahre früher – als eine Zugangsweise zum Wahrheitsproblem, an dessen Ende eine neue Wahrheit steht. Die Zertrümmerung des traditionellen Glaubens ist – wie Nietzsche mit seiner Kritik am Platonismus hervorhebt – die Basis für einen neuen Glauben, dem nicht der Gedanke der Einheit, sondern der der Differenz zugrunde liegt. Auch Odo Marquard betont in seiner Schrift „Abschied vom Prinzipiellen“, daß die halbe Wahrheit die ganze Wahrheit ist.

Resümierend läßt sich festhalten: Plotin zu lesen, bedeutet sich mit der Geistesgeschichte auseinanderzusetzen, Anstöße im Denken zu erhalten, um die Wirklichkeit kritisch wahrzunehmen.

Der Text wurde 2001 als Vortrag an der Jenaer Universität gehalten, aufgrund der Aktualität des Jubiläums des Konzils von Nicäa vor 1.700 Jahren aktualisiert.

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Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".