Seit 2011 regiert der CDU-Politiker Reiner Erich Haseloff das Bundesland Land Sachsen-Anhalt. Der dienstälteste Ministerpräsident kennt nicht nur die Biografien seiner Bürger, sondern ist auch einer der wenigen bekennenden Katholiken im Osten der Republik für den das C kein Anhängsel ist. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Der 20. Dezember 2024 dürfte als einer der schwärzesten Tage in die Geschichte des noch jungen Bundeslandes Sachsen-Anhalt eingehen. Der Terroranschlag von Magdeburg hat in das Land, in dem die Reformation, die Aufklärung und das Bauhaus einst kulturelle Blüten trugen, eine riesige blutige Wunde ins Herz geschlagen. Wie Ministerpräsident Reiner Haseloff kurz nach der Amokfahrt des Attentäters Taleb A. betonte, sei es eine „furchtbare Tragödie, eine Katastrophe für die Stadt Magdeburg, das Land und letztendlich Deutschland.“ Was hier geschehen ist, sei eines der „schlimmsten Dinge, die man sich vorstellen kann.“
Der CDU-Politiker Haseloff gilt als couragiert und zupackend – als ein Ministerpräsident zum Anfassen. Starallüren kennt der 1952 in Bülzig, im Kreis Wittenberg, geborene studierte und promovierte Physiker keine. Seit 2011 regiert er mittlerweile das von ihm geführte dritte Kabinett im Flächenland in der Mitte der Republik; zuerst in einer Großen Koalition, später in der ersten Kenia-Koalition Deutschlands und seit 2021 in der Deutschland-Koalition. Wie im benachbarten Brandenburg, bei Dietmar Woidke, sind es heute mehr denn je die charismatischen Landesväter, die sich nicht vom politischen Politik-Karussell in Berlin beeinflussen und funktionalisieren lassen, sondern die Landespolitik in den Fous ihrer Achtsamkeit und Verantwortung legen. So vermag es Haseloff, der 1976 in die damalige Blockpartei CDU in der DDR eingetreten ist, mit seinem Gesicht dem Wähler Vertrauen zu schenken und einer erstarkenden AfD immer wieder Stimmen abzujagen.
Der Menschenfänger
Reiner Haseloff regiert nicht über die Menschen hinweg, er kennt die Mühen der Ebene als ehemaliger Minister für Wirtschaft und Arbeit und als langjähriger Direktor des Arbeitsamtes Wittenberg. In den 90er Jahren arbeitete er für ein Wittenberger Institut, das als Fachbehörde dem DDR-Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft untergeordnet war, vergleichbar mit dem heutigen Umweltbundesamt. Haseloff ist Pragmatiker, der mit kühlem Kopf regiert, ein Mann, der keine Parolen in die Welt posaunt, keine Weihnachtslieder singt, um sich in der medialen Welt Beliebtheit zu verschaffen. Selbstinszenierungen und die große Bühne, wo die Massen orchestriert werden, sind ihm fremd. Dazu ist Haseloff einfach zu bescheiden und zu sehr der Scholle und der Realität verbunden. Pointiert und lösungsorientiert agiert der Mann, dessen Herkunft weit in die Geschichte der Stadt Wittenberg hineinreicht. Es sind die Menschen, ihre Lebensgeschichte, ihre vom DDR-Regime gebeugten und gebeutelten Seelen, die nach dem Fall der Mauer oft mit ihrer Arbeit ihre Identität verloren, die sich von ihm vertreten wissen – und für die er eintritt. Die Ausgrenzten, die von der Geschichte Bestraften, die Geschichtsvergessenen, die bei allem Jubel um die Wiedervereinigung für diese einen hohen Preis zahlen mussten. Diesen Namenslosen verleiht er eine Stimme und macht ihre Schicksale so sichtbar. Die Biografien dieser Menschen gilt es zu lesen und zu interpretieren. Nur vor diesem Hintergrund sei es zu verstehen, warum sich viele in das rechte oder linke Lager flüchten, warum der Osten politisch polarisiert und dem Wesen wie die entfremdete Republik erscheint, die an Geistlosigkeit und Undankbarkeit kaum zu überbieten sei Diese Vorurteile will Haseloff durchbrechen und ihnen den Drive nehmen. Gegenargumente hat er dafür en masse parat. „Die Affinität, Protest zu wählen, findet Nährboden in einer Gesellschaft, wo man ein Viertel weniger Geld verdient hat und – aufgrund anderer Biographien sowie bedingt durch das System – nur einen Bruchteil an Vermögen ansammeln konnte. Hier stellen sich die Menschen dann berechtigt die Frage nach der Alterssicherung, ob genügend Rücklagen da sind, um nach 45-jähriger Arbeit nicht zum alimentierten Sozialhilfeempfänger zu werden. Fünfzig Prozent der Menschen im Osten waren in den 90er Jahren nicht in originärer Beschäftigung. 25 Prozent der Erwerbspersonen waren arbeitslos gemeldet, die anderen 25 Prozent in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, in Vorruhestandsregelungen, in Fortbildungsmaßnahmen, in Kurzarbeit etc. Das sind alles Erlebnisse, die diese Menschen verarbeiten mussten. Im Westen gab es diesen Bruch nicht.“
Für Haseloff waren es, und dies ist ein starkes Statement für den Osten, dass sich keiner über dreißig Jahre in der Berliner Republik zu sagen getraute, die Ostdeutschen gewesen waren, die alle gesellschaftlichen Veränderungen nach der Wende mitgetragen haben. Ihre Weltoffenheit und ihr Wunsch, das Ost und West im Osten zusammenwachsen, waren es, die die Deutsche Wiedervereinigung in den Jahren danach zu einer Erfolgsgeschichte machten. Wer diese besondere politische Kartographie eines Landes und seiner Bürger verachtet und die Ostdeutschen auf braune Nihilisten reduziert, ihnen vorwirft, demokratiefeindlich zu wählen und dabei alle nur stereotypischen Ideologien rechter Gesinnung unterstellt, vergisst vollkommen, was in den „90er Jahren eigentlich gelaufen ist“.
Hinhören als erste Tugend
Haseloff macht sich die Mühe, in die Seelen der Menschen einzutauchen, sie nicht als unmündiges Wahlvolk abzutun, das wie die blinde Herde dem stärksten Marktschreier hinterherläuft. Seine politische Maxime bleibt eine Analyse des kritischen Hinterfragens, die einem Politiker zu eigen ist, der mit wachen Augen durch die Welt geht und auf seinen gesunden Menschenverstand vertraut. Hinhören als Bürgerpflicht, als erste Tugend. „Ich muss ja wenigstens versuchen zu verstehen, warum es in den ersten zwanzig Jahren nach der Wende eine Euphorie gab, die sich in einem völlig identischen Wählen von wesentlich westdeutschen Parteien niederschlug und warum sich das jetzt wieder auseinanderentwickelt. Dafür muss es objektive Gründe geben. […] Ich muss ich doch wissen, was der Grund ist, warum Menschen die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht wählen. Wenn ich mich nicht mit den Fakten und Nöten der Menschen auseinandersetze, weiß ich ja nicht, was zur Stärkung der demokratischen Mitte entweder förderlich oder abträglich ist.“
Der Katholik aus dem Osten
Haseloff ist bekennender Katholik, der einzige unter den ostdeutschen Ministerpräsidenten. Für den derzeit dienstältesten Landesvater der Republik war es stets sein Glaube, der ihm Rückhalt und Hoffnung schenkte, der ihn die Irrungen und Wirrungen eines irrsinnigen und religionsfeindlichen Staates hat ertragen lassen. Die Gemeinschaft der Christen im ehemaligen Kernland des Protestantismus mit seinen Wiegen in Eisleben und Wittenberg war zu DDR-Zeiten für Katholiken und Protestanten die Fackel der Opposition, die in stiller Demut dem repressiven System den Stachel ins Fleisch schlug. Ohne die Unterstützung durch die Familie als die kleinste fundamentale Basis des Glaubens, ohne die Hilfe der Kolpingsfamilien und ohne die Unterstützung des Vatikans, der die DDR nie völkerrechtlich anerkannte, wäre die christliche Opposition im Osten nicht denkbar und lebbar gewesen. Haseloff ist über die Wendezeit ein couragierter Katholik geblieben, war Mitglied des Zentralkomitees der Katholiken, engagiert sich im Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem. Immer wieder überrascht er mit seinem biblischen Wissen, theologischer Fachkompetenz, aber dies allesamt nicht von Oben herab, sondern geleitet aus der praxisnahen Realität. Die Nächstenliebe und die christliche Soziallehre – samt ihren Prinzipien von Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl – versteht Haseloff als einen lebendigen Wertekanon, zu dem er sich nicht nur privat, sondern auch öffentlich bekennt. Und so ist der Katholik Haseloff in einem Landstrich, wo die Säkularisierung ihren Siegeszug feiert, einer, der gegen diese Welle anschwimmt. Für die Einheit des Christentums, so bekennt der Vater von zwei Söhnen und fünf Enkeln, der seit vielen Jahren mit seiner Frau Gabriele verheiratet ist und in seiner Freizeit gern musiziert und auch bei Hard-Rock-Konzerten von „AC/DC“ und „Silly“ im Publikum zu finden ist, war die Reformation ein ziemlicher Bruch innerhalb des damaligen „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
Die absolute Religionsferne gelang hingegen dem gottlosen Osten. Innerhalb von nur vierzig Jahren den christlichen Geist endgültig in die Wüste des Vergessens geschickt und einen Relativismus im Denken aufgerichtet, der nunmehr seine Stilblüten treibt. Selbst wenn er die Fahne des christlichen Glaubens aus tiefer Innerlichkeit und Überzeugung lebt, die Gottesferne scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein. Mit Wehmut beklagt Haseloff diese Kirchenferne und ist schockiert über eine „Taufquote, die bei fünf Prozent über alle Denominationen liegt.“ Leider ist die Bundesrepublik beim Gottesentzug keine Ausnahme – denn fast Europa bewege sich tendenziell in diese Richtung.
„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“
Das Erstarken der Ränder, sei es von links oder von rechts, ist kein rein deutsches Phänomen, wenngleich die „AfD eine Gründung aus der westdeutschen Elite heraus ist.“ Alle wesentlichen Leitfiguren in den Fraktionen, in der Partei und auch in den Landtagen, kommen aus dem Westen konstatiert der Ministerpräsident kritisch. Die Erfindung, den Osten allein für den Rechtsdrall verantwortlich zu machen und den Trichter des Rechtsradikalismus über die neuen Länder auszukippen, wie es mediale Dauerschleifen inszenieren und suggerieren, verkennt die Tatsache, dass die Alternative für Deutschland ein Import aus den alten Ländern ist.
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ hatte Friedrich Hölderlin einst geschrieben. Für Haseloff sind die „beiden großen Kirchen, die jüdischen Gemeinden und alle Religionsgemeinschaften Wertegeneratoren, die mit Blick auf unser Grundgesetz und auf den Wertekodex, der diesem zugrunde liegt, die eigentlichen Traditionsgründe“ bilden, auf die es sich zu besinnen gilt, soll nicht der braune Geist seine widerwärtigen Feuer des Hasses, der Polarisierung und des Terrors entfachen. So gilt für den liberalen Demokraten der Mitte: „Unser Welt- und Menschenbild wäre ohne die jüdisch-christlichen Wurzeln undenkbar – angefangen bei der Würde des Menschen und dem Schutz des ungeborenen Lebens. Wenn wir diesen Wertekanon wegnehmen oder immer weiter zurückdrängen“, dann wären wir mit unserer Demokratie tatsächlich am Ende. Es bleibt dieser Wertekodex, den es neu zu beleben gelte. Und dieser lässt sich nicht in einem klassisch-diffusen Begriff von Humanismus finden, mit dem bereits vieles, so auch die Diktatur der DDR, begründet wurde. „Ich sehe daher keine anderen Werte als die jüdisch-christlichen, aus der sich unsere Gesellschaft speisen kann. Diesen Wertekanon gilt es weiterhin, auch mit Blick auf die Ewigkeitsklausel, in der Gesellschaft präsent zu halten.“ Die Weitergabe der universellen Werte, die immer eine Letztbegründung brauchen, dürfen und können nicht ausgehebelt werden. Und wenn diese keine Gültigkeit mehr besitzen, „ist eine Renormierung der Gesellschaft aus diesen Werten unmöglich. Auf diese Grundkonzeption haben sich die Mütter und Väter nicht umsonst geeinigt.“
Wohin dieser Relativismus führt, hat die jüngere deutsche Geschichte in allen ihren absurden Kriegen, den Holocaust inbegriffen, gezeigt. Und so braucht er immer wieder Menschen wie Therese Neumann, genannt Resl von Konnersreuth, oder einen Fritz Gerlich, die als Leuchttürme des Glaubens, jedem Extremismus einen Stachel ins Fleisch setzen. Für Haseloff, der in seinem Urlaub mit einem kleinen Privatwagen zum zweiten Mal in die Marktgemeinde Konnersreuth in der Oberpfalz fährt, sind diese Menschen christliche Zeugen und Märtyrer des Glaubens, die während des Nationalsozialismus ihre Stimme gegen den unmenschlichen Totalitarismus des NS-Regimes stellten und diesem das christliche Wertebild von Vergebung und Nächstenliebe entgegenstellten. „Ich bewundere diese Personen, gerade aber auch die Resl, die den Mut hatte, sich gegen die Einflussnahme durch die NSDAP zu wehren. Ihr Mut und ihre Widerstandskraft sind für mich beeindruckende Lebenszeugnisse. Für mich verkörpern Personen wie Gerlich und Theresa von Konnersreuth ein Stück Heilsgeschichte.“ Für den Ministerpräsidenten kann die Botschaft nicht klarer sein. „Dieser Nationalsozialismus, diese rassistische und völkische Ideologie ist unchristlich, Hölle und Sünde zugleich.“
Kleine Kulturgeschichte
Ob Magdeburg, Halle, Dessau, Wittenberg oder Naumburg – heute im Bundesland Sachsen-Anhalt gelegen, das ein Ergebnis der territorialen Neuordnungen des 20. Jahrhunderts ist, sind Städte reich an Politik und einer faszinierenden Kulturgeschichte. Karl der Große missionierte einst die Sachsen, Heinrich I. war erster deutscher König und Kaiser Otto I. gründete das Erzbistum Magdeburg. In Wittenberg stand die Wiege des Protestantismus. Martin Luther, Philipp Melanchton und eine Vielzahl von Humanisten prägten das Land. Eine der ältesten Universitäten im deutschsprachigen Raum wurde im Jahr 1502 gegründet, wo später der Reformator am 31. Oktober 1517 seine 99 Thesen an die Tür der Schlosskirche nageln wird. 1694 eröffnete Kurfürst Friedrich II. die Universität Halle, die Franckeschen Stiftungen sowie Schulpforta. Sie sind seit Jahrhunderten Eliteeinrichtungen, die Denker wie Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm von Thiersch, Leopold Ranke, Christian Gottfried Ehrenberg, Otto Freiherr von Manteuffel, Friedrich Nietzsche und Paul Deussen u.v.a. hervorbrachten. Die Reformation, die Aufklärung und das Bauhaus feierten in der Kulturlandschaft einen Siegeszug nach dem anderen. Leopold III., Friedrich Franz von Dessau-Anhalt, war ein aufgeklärter Monarch und Visionär und verwandelte das weite Land nach dem Vorbild des englischen Landschaftsgartens zu einem Gartenreich, wo der Geist der Freiheit und der Philosophie wehte. Er verband die Religionen im Sinne von Gotthold Ephraim Lessing, für den von einem Gott der Liebe ausgehend, alle drei Religionen, Judentum, Christentum und Islam gleichwertig sind. Er förderte das Philanthropin in Dessau als die erste Erziehungs- und Unterrichtsanstalt, die nach den Grundsätzen der Menschenliebe, Vernunft, Gleichheit, Natürlichkeit und Glück ihre Zöglinge unterrichtete. Im 20. Jahrhundert war es die Kunstavantgarde um Walter Gropius in Dessau, die zu einer gesellschaftsverändernden Kraft wurde und den modernen Menschentyp und seine Umwelt zu formen suchte. In einer transdisziplinären Werkgemeinschaft sollte der „Bau der Zukunft“ – und damit nicht zuletzt die Zukunft selbst – erdacht und erschaffen werden.