Steffi Lemke ist auf der großpolitischen Bühne der Bundesrepublik weitgehend unbekannt. Doch die Grüne gilt als pragmatisches Urgestein ihrer Partei. Die ehemalige Melkerin, die auch als Briefzustellerin arbeitete, soll in der neuen Ampel das Bundesumweltministerin führen. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Nach dem Abschied von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird es auf der Regierungsbank nun wieder etwas ostdeutscher. Mit Steffi Lemke sitzt erstmals seit 1998 wieder ein Landeskind aus Sachsen-Anhalt im Bundeskabinett. Mit ihren 53 Jahren gilt sie bereits als politisches Urgestein der Grünen, gehört sogar zum Ältestenrat der Bundesregierung. Darüber hinaus war die gebürtige Dessauerin, die von 2002-2013 Politische Geschäftsführerin von Bundnis90/Die Grünen gewesen ist, die dienstälteste Generalsekretärin ihrer Partei. Anders als viele ihrer Generalsekretär-Kollegen prescht die Frau, die in einer Patchwork-Familie lebt, nicht mit lauten Tönen durch die politische Wahlkampfarenen, sondern agiert mit der bedächtigen Beschaulichkeit weiblicher Achtsamkeit. Dennoch gilt Lemke als starke Strippenzieherin, die die Fäden der Macht im Hintergrund spinnt. Als „Dompteuse“ brachte die äußert erfahrene pragmatische Parlamentarierin oft ihre nicht ganz pflegeleichte Partei hinter den Kulissen zur Räson. Die Frau, die als uneitel gilt, hat den Ruf einer versierten Verhandlerin. So war sie 2016 maßgeblich daran beteiligt, dass die Grünen ihre Positionen in die Kenia-Koalition mit CDU und SPD einbrachten. Auch als Grünen-Vorsitzende wurde sie in der Vergangenheit schon gehandelt – eine Personalie, die sie jedoch ausschlug. Bis heute arbeitet die Naturschutzexpertin als parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion. Und in dieser zentralen Funktion sitzt sie auch immer wieder in der ersten Reihe im Bundestagsplenum.
Lemke kämpft für eine bessere Gesellschaft
Anders als Claudia Roth (Die Grünen) oder Kevin Kühnert (SPD) hat die ehemalige Zootechnikerin einen Berufsabschluss als Agrarwissenschaftlerin vorzuweisen. Und anders als mancher Kollege im Deutschen Bundestag kennt Lemke die Mühen der Ebene. Lemke, die am „Philanthropin“, ihr Abitur machte, wurde früh mit den Erziehungsmaximen des Gründers und renommierten Pädagogen Johann Bernhard Basedow vertraut, hat die Grundsätze des Philanthropismus wie Menschenliebe, Freiheit und Vernunft, Gleichheit, Natürlichkeit und Glück buchstäblich eingeatmet. Die gelernte Melkerin, die in den Achtzigerjahren als Briefzustellerin in der DDR arbeitete, komplimentierte damit ihre Vita in alle nur denkbaren Richtungen. Und genau diese Verbindung von „Idealismus und Pragmatismus“ hat sie letztendlich in die Reihen der Grünen getrieben, weil grün für sie für Lebendigkeit steht. „Grün hat Schwung“ bekennt sie. Aber Lemke ist auch eine Kämpferin für die Freiheit. Sie kannte das repressive System staatlicher Überwachung, spürte den Würgegriff der Staatssicherheit, als sie vor der Wende Mitglied in einer Dessauer Bürgerinitiative war, aus der dann die DDR-Grünen hervorgegangen sind. Zur friedlichen Revolution 1989 hatte sie einmal gesagt: „Das war eine revolutionäre Situation, wenn auch für uns mit unklarem Ausgang. Viele haben lange für einen dritten Weg gekämpft. Das Wichtigste war für uns nicht der Anschluss an die alte BRD, sondern die Idee, eine bessere Gesellschaft zu bauen. Das ist für mich der Geist, der 1989 mit dem, wofür ich heute kämpfe und in Zukunft kämpfen werde, verbindet.“
Rein geo-politisch gesehen entstammt die Grüne einer Region, wo seit Jahrhunderten Natur und Kultur eine Symbiose eingehen. Federführend für einen aufgeklärten Staat – samt Religionsfreiheit – zeitigte sich damals Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau. Der Regent hatte sein Reich einst in eine Kulturlandschaft nach englischem Vorbild geformt – und auch Lemkes Herz hängt am Fluss. Wie einst dem Monarchen liegt ihr die Elbe am Herzen, verbringt die Politikerin einen Großteil ihrer Freiheit mit Paddeln und Gartenarbeit. Dass das Dessau-Wörlitzer Gartenreich in die UNESCO-Weltkulturerbeförderung mit aufgenommen wurde, daran hat Lemke einen maßgeblichen Anteil und sie engagierte sich besonders in der Parlamentarischen Gruppe „Frei fließende Flüsse“.
Die Liebe zur Natur trieb sie zu den Grünen
Ihre Liebe zur Natur hat sie einst in die Politik geführt. Und die Obfrau im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit hat sich daneben noch den Kampf gegen die Zerstörung der Meere auf ihre Agenda geschrieben und fordert, dass es ein „Menschenrecht“ auf Wasser geben muss. Lemke kümmert sich ebenso leidenschaftlich um die brandenburgische Wolfsverordnung und wirbt für das Imkern und die Hobbygärtnerei. Bei Klimastreiks der Jugend-Umweltschutzbewegung „Fridays of Future“ findet man Lemke immer an vorderster Front, aber auch, wenn es um die Begrünung von Brachflächen geht, kämpft die Frau, der man das Abitur auf direkten Weg verweigerte, in der ersten Reihe. Der Schutz der biologischen Vielfalt, der Kampf gegen das Artensterben, die massive Umweltzerstörung sowie der Kampf gegen den illegalen Wildtierhandel sind ihr eine Herzensangelegenheit. Die leidenschaftliche Hobbygärtnerin wandert mit Bienenliebhabern und im Umweltausschuss des Bundestages kämpft sie gegen die Varoa Milbe.
Klimaschutz ist auch Menschenschutz
Klimapolitisch gesehen, ist es für Lemke schon fünf nach Zwölf. Die Große Koalition hat beim Thema Klimawandel eigentlich alles verschlafen. „Der Ausbau der Erneuerbaren Energien wurde gebremst, der Kohleausstieg verschleppt“. Und dass die Christdemokraten dennoch behaupten, sie seien „grün“, ist für Lemke eine reine Unverfrorenheit. „Die Auswirkungen der Klimakrise werden Jahr um Jahr drastischer und auch die Corona-Pandemie stellt nach wie vor unser gesellschaftliches Leben auf den Kopf.“ Und genau hier will sie ansetzen: Ihre Maxime dabei: Menschengemachte Krisen erfordern menschengemachte Lösungen. Sie will beim Klimaschutz nicht auf Zeit spielen. Das Gebot der Stunde sei jetzt zu handeln, denn Klimaschutz ist eben auch Menschenschutz. Den Transformationsprozess der Zukunft müssen Wirtschaft und Industrie gemeinsam gestalten. Kurzum: Lemke setzt voll auf Klimaneutralität und auch in Sachen Migration plädiert sie für eine offene Gesellschaft, denn „Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft.“
Politisch sieht Lemke ihr Vorbild in Mahatma Ghandi und selbst plädiert sie für eine grüne Modernisierung im Geiste der Verantwortung für künftige Generationen. Denn das wichtigste Leitmotiv grüner Politik bleibt: „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.“
Als ehemalige Postbotin weiß sie, dass jede Stunde zählt. Als neue Bundesumweltministerin wird die pragmatische Frau bei der Umsetzung ihrer klimapolitischen Ziele also kräftig ins Pedal treten und ihren Traum von einer besseren Gesellschaft nun endlich aus der Schaltzentrale der Macht in die Realität umsetzen.
Quelle: The European