Statt Tag der deutschen Einheit kommt jetzt der „Tag der offenen Moschee“?

Moschee, Foto: Stefan Groß

I.
Aus nicht nur meteorologischen Gründen verzichtete ich am  „Tag der deutschen Einheit“ auf Teilnahme an dem mit viel Gedröhn zelebrierten Festivitäten vor dem Brandenburger Tor. Womöglich trat dort auch die –  von Bundespräsident Steinmeier noch vor ein paar Wochen für Chemnitz empfohlen – akustisch und geistig hervorragende Kampftruppe aus Rostock auf, deren ästhetische Ansprüche meine Sinne überfordern würden. Ich hätte als Demokrat auch Mühe gehabt, inmitten der Massen und ihres mutmaßlich mediengerecht aufgezogenen bunten Regenbogenfahnen- und Ideologiegewirrs die Orientierung zu behalten.

Mir genügte um die Mittagszeit ein TV-Schnipsel aus der Festrede des Bundestagspräsidenten  Wolfgang Schäuble. Er sprach über den „Gemeinsinn, der in unserer offenen Gesellschaft“ den Zusammenhalt gewährleisten müsse. Wie der Zusammenhalt in Zukunft zusammengehalten werden soll, wissen – im Nachklang des eindrucksvollen Deutschland-Besuchs des Präsidenten Recep Erdogan –  am  besten jene Migrantenverbände, die am „Tag der offenen Moschee“ (3. Oktober) die demokratisch innovative – und integrative – Forderung nach Umbenennung des nationalen Feiertags zum „Tag der deutschen Vielfalt“ präsentierten. Merkel und die Große Koalition tun dafür seit Jahren ihr Bestes, politisch-praktisch assistiert von den tätowierten Neonazis, die dem „System“ den neuen Faschistengruß mit blankem Hintern entbieten.

II.
Was diejenigen, denen wir den Mauerfall und die Wiedergewinnung der deutschen Einheit zu verdanken haben, in der Zeit der friedlichen deutschen demokratischen Revolution bewegte, welcher Mut und welche Hoffnungen sie inspirierten, ist einem vor drei Jahren erschienenen Buch zu entnehmen, das mir am Vorabend des diesjährigen 3. Oktobers mein Freund Christian Dietrich – derzeit noch Landesbeauftragter des Freistaats Thüringen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur –  schenkte:

Jens Kristen –  Christoph Schmitz-Scholemann (Hg.): Vom Geist der Stunde. Vordenker und Wegbereiter. Die Revolution in Deutschlands Mitte 1989, Weimarer Verlagsgesellschaft 2015.

Der Herausgeber Jens Kirsten hat seinem Vorwort als selbstironische Pointe einen Satz des polnischen Aphoristikers Wieslaw Brudzínski vorangestellt: „Mit der Zeit vollbringen unsere Vorfahren immer ruhmreichere Taten.“ Dass dieser Aphorismus hinsichtlich der DDR-Bürgerrechtsbewegung – und ihrer bescheidenen Zahl von Unterstützern in der alten Bundesrepublik – seine Umkehrung erfahren könnte, lehren die letzten Jahre und Monate.

Im Zuge einer „neuen Gedenkkultur“ werden die „ruhmreichen Taten“ der Oppositionellen minimiert bzw. ins rechte Licht von anno 2018 gesetzt. Zwar will niemand – weder die Gegner der Einheit von gestern noch die post- oder antinationalen Protagonisten von heute – die Vorzüge der Einheit (Ferienwohnung auf Usedom, Lehrstühle in Jena, Frankfurt/Oder etc., Segelurlaub auf der Müritz, Besuch der Semperoper samt Wanderung im Elbsandsteingebirge) missen, doch kultiviert man in West und Ost das Misstrauen gegen all jene, die mit ihrem Verlangen nach Freiheit und Einheit – und historisch-politisch logisch vice versa – letztendlich den Aufstieg der AfD bewirkt hätten. Die Vorstellung mag noch so absurd sein, so ist sie kennzeichnend für das geistige Klima „in diesem Lande“, dem die deutsche Geschichte nur noch als Negativfolie dient. Von derlei Insinuationen ausgenommen bleibt indes unsere Kanzlerin Merkel. Nicht von ungefähr: Vor – und noch lange nach – dem Mauerfall war sie persona ignota.

Das bereits vor drei Jahren erschienene Buch  versammelt Texte, die ein Bild von der geistigen Landschaft Thüringens vermitteln, in der die Opposition gegen das SED-Regime und das Verlangen nach Überwindung der deutschen Teilung hervorwuchs. In seinem Nachwort erläutert  Christoph Schmitz-Scholemann das Konzept des Buches: „Es ging darum, das Zittern des Augenblicks einzufangen und es ging darum, das Rollen der Zeit abzubilden oder besser gesagt: das allmähliche Anlaufen der Zentrifuge, die Steigerung auf den Kulminationspunkt und das Nachlassen bis zum Wiedereintritt in eine gleichmäßige Bewegung.“ (S. 238). Es ist ein Satz, der als Beschreibung  eines Revolutionsverlaufs klassische Geltung beanspruchen kann.

Der Band versammelt über dreißig Autoren, von denen die große Mehrheit nur im engeren mitteldeutschen bzw. ostdeutschen Raum Bedeutung erlangten, wie der 2013 verstorbene Pfarrer Walter Schilling,  andere wie Christine Lieberknecht und Wolfgang Thierse nach der zur „Wende“ abgewerteten friedlichen Revolution die politische Bühne betraten. Wenn ich an dieser Stelle insbesondere auf die Texte von  Edelbert Richter („Abgrenzung und nationale Identität“, 1988; „Demokratischer Aufbruch, sozial und ökologisch“, 1991) und Christian Dietrich („Mitteleuropa in uns“, November 1989) verweise, so liegt dies in deren spezifischer Betonung der „nationalen Frage“ innerhalb der Opposition. Eine ironisch erleichterte Stimmungslage eröffnet sich in der mit „Altenburger Wochenblatt“ betitelten Notiz des Schriftstellers Ingo Schulze, der am 23.3.1990 die Wahlen zur ersten freien und letzten Volkskammer (am 18.März 1990) wie folgt kommentierte: „Wann hatte es das für uns je gegeben? Jeder durfte sagen, welche Regierung er/sie wünscht. Waren Sie stolz darauf, IHRE Kandidaten wählen zu können? Wie erlebten Sie den Abend? Die einzige Überraschung war wohl das schlechte Abschneiden der Biertrinkerunion. Aber deren Mitglieder entschieden sich wohl geschlossen für eine andere Partei. […]“

Zitationswürdig sind zwei weitere Textpassagen. In der ersten begründet Schmitz-Scholemann, der begründet warum sich die Herausgeber auf das heimatliche Thüringen und Weimar konzentriert haben. Zum einen liege ihnen ihre engere Heimat am Herzen. „Es hat aber noch eine weitere Bewandtnis. Thüringen ist das Land von Walther von der Vogelweide und Martin Luther, das Land von Bach und Cranach, das Land der klassischen deutschen Literatur, mit Wieland in Erfurt und Weimar, mit Goethe, Schiller, Herder, Jean Paul in Weimar, das Land auch des romantischen Denkens, Fichte und Hegel lehrten in Jena, es ist das Land von Liszt und Nietzsche und der Urort der modernen Architektur und es wurde hier die erste deutsche Republik gegründet. Man muss sagen: Thüringen hat als Land des schöpferischen Denkens und der Künste in Deutschland seinesgleichen nicht. Und doch ist es auch das nicht nur geografisch mitten im Zentrum gelegene Land der nationalsozialistischen Schmach und der entsetzlichsten Verirrung des deutschen Geistes. Das und die vier Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft bildet die disparate Folie, vor der die Ereignisse von 1989/90 abspielten. Eben deshalb fanden wir es richtig, den Geist der Stunde genau hier bei seinem revolutionären Treiben zu beobachten: Thüringen als Teil fürs Ganze genommen.“ (S. 239)

Der Autor lässt diesen Reflexionen einen Passus folgen: „Es gibt keinen für das Geistesleben unseres Landes fruchtbareren Ort als das evangelische Pfarrhaus… Auch wer der christlichen Religion nicht hold ist, muss erkennen, dass der einfachen und tiefen Frömmigkeit, dass dem Glauben an Jesus Christus eine befreiende und angstlösende Kraft innewohnen kann. Wer niemanden zu fürchten hat als Gott, der muss keine weltliche Macht fürchten.“ (S.240) Solche Sätze mögen anno 2018 in den Ohren mancher Zeitgenossen, ob mehr postnational oder mehr atheistisch gestimmt,  obsolet, wenn nicht ungeheuerlich provokativ klingen.

Das andere Zitat ist einem Interview entnommen, das Willy Brandt am 27.1.1990 dem 1953 in Workuta geborenen Schriftsteller Sergej Lochthofen, seinerzeit Redakteur bei der „Thüringer Allgemeinen“ gab. Lochthofen erinnerte an Willy Brandts historischen Besuch als Bundeskanzler in Erfurt zwanzig Jahre zuvor. Auf die Frage nach der Richtigkeit des im Zuge der  damaligen Ostpolitik verfolgten Kurses antwortete Brandt, es sei mit dem angestrebten Grundlagenvertrag um Ziele gegangen, die – etwa beim Reiseverkehr –  „bei weitem nicht befriedigend“ erreicht werden konnten, und doch sei ihm die humanitäre Frage auch politisch wichtig gewesen. „Weil ich immer gesagt habe, wenn die Familien einander nicht begegnen können, dann übersteht die Nation eine solche Krise nicht.“ (S.149)

Den Blick auf die historische Situation – und auf die von einem neuen Ost-West-Konflikt überschattete Gegenwart – öffnen Brandts Worte am Ende des Interviews: „Dafür [für eine Neutralisierung] werden wir, auch wenn wir es selbst für wichtig hielten, nicht die Übereinstimmung erzielen mit unseren Nachbarn. die überwältigende Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik ist sich einig, daß nicht nur die Europäische Gemeinhaft weiterzuentwickeln ist, sondern auch, daß wir Mitglied der NATO bleiben müssen, bis aus den Verhandlungen in Wien und Genf solch ein europäisches Sicherheitssystem entwickelt hat, das zu einem europäischen Sicherheitssystem führt, das die heutigen Bündnisse überflüssig macht. Denn (sic!) ist die Situation da für ein bündnisfreies Deutschland, weil die Bündnisse sich selbst überlebt haben. Daß sie sich überleben, sieht man übrigens ja im Warschauer Pakt noch deutlicher als auf der westlichen Seite.“ (S.152) – Das war im Januar 1990.

Quelle: Herbert Ammon

 

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Herbert Ammon (Studienrat a.D.) ist Historiker und Publizist. Bis 2003 lehrte er Geschichte und Soziologie am Studienkolleg für ausländische Studierende der FU Berlin. Seine Publikationen erscheinen hauptsächlich auf GlobKult (dort auch sein Blog https://herbert-ammon.blogspot.com/), auf Die Achse des Guten sowie Tichys Einblick.