Staatlich organisierter Kinderraub – Katrin Behrs Buch über DDR-Zwangsadoptionen

Dieses Buch musste geschrieben werden! Es ist der erste Bericht einer Betroffenen über Zwangsadoptionen von DDR-Kindern, die ihren Müttern aus politischen Gründen weggenommen und, unter Auslöschung der Vorgeschichte, fremden Familien übereignet wurden, die als staatstreu und SED-nah galten. Als das Nachrichten-Magazin „Spiegel“ im Dezember1975 in zwei Beiträgen darüber berichtete, wurde der Ostberliner Korrespondent Jörg Mettke wegen „grober Verleumdung“ am 16. Dezember 1975 ausgewiesen, ein untrügliches Indiz dafür, dass dieses Verfahren staatlich organisierten Kinderraubs tatsächlich praktiziert wurde, nachdem es von Margot Honecker, der „Ministerin für Volksbildung“ 1963/89, per Gesetz sanktioniert worden war. Die mit dem Mauerfall 1989 gestürzte Ministerin konnte, ohne jemals für ihre Verbrechen bestraft worden zu sein, 1992 über Moskau nach Chile ausreisen, wo sie noch immer mit einer deutschen Rente ihren Lebensabend verbringt. Die Opfer aber, es sind inzwischen 75 000 Fälle aktenkundig, leiden bis heute darunter, was ihnen der sozialistische Staat Entsetzliches angetan hat.
Katrin Behr beispielsweise, im Sommer 1967 im ostthüringischen Gera geboren, wurde am 7. Februar 1972, als sie vier Jahre alt war und ihr Bruder Mirko sechs, von fünf Männern und einer Frau im Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen und mit ihrer Mutter (24) zum Marktplatz getrieben. Dort standen wartend zwei Dienstwagen der „Volkspolizei“, die Mutter wurde in Handschellen weggefahren, die Kinder von einer Mitarbeiterin der „Jugendhilfe“ zur Großmutter gebracht, wo sie eine knappe Woche auf die Überstellung in ein staatliches Vorschulheim warten mussten. Von diesem Heim aus wurde das völlig verstörte Kind einem Hausmeisterehepaar vermittelt, das es nach einer Nacht zurückschickte ins Kinderheim. Dort verkroch sich das Mädchen in dunklen Ecken, um stundenlang zu weinen. Schließlich erfuhr sie von einer Erzieherin, dass ihre Mutter eine „Staatsverräterin“ wäre und niemals zurückkäme. Diese unverständlichen Erklärungen versetzten sie in entsetzliche Angstzustände, zumal sie deshalb auch noch von den anderen Kindern und den Erzieherinnen verspottet wurde („Heulsuse, Heulsuse“).
Der zweite Versuch einer Adoption wurde im Sommer 1973 vorgenommen. Eine Kinderärztin aus Stadtroda in Thüringen, frisch geschieden, nahm Katrin auf und zog wenige Wochen später mit ihr nach Gadebusch in Mecklenburg, auch Bruder Mirko sollte mitadoptiert werden. Aber schon im Oktober 1973 gab die Pflegemutter, sichtlich überfordert von der Erziehungsarbeit, auf und brachte Katrin zurück ins Kinderheim nach Gera. Die Rückgabe als „unerwünscht“ nahm ihr den letzten Rest von Geborgenheit, sie fiel in „blanke Verzweiflung“, als sich auch die Großmutter von ihr abwandte. Dass das alles im SED-Auftrag (die Großmutter war Parteimitlied) geschah, konnte sie nicht wissen und hätte es als Kind auch nicht verstanden. Was ihrer Mutter 1972 zugestoßen war und warum sie im Gefängnis landete, erfuhr sie ohnehin erst Jahrzehnte später, nach dem Mauerfall von 1989, als sie 2003 von Ostberlin nach Gera zurückgekehrt war und im Archiv der dortigen Adoptionsvermittlungsstelle die Erlaubnis zur Akteneinsicht bekommen hatte. Das hieß aber nur, dass ihr die Sachbearbeiterin in vier Sitzungen aus den zwei Kladden vorlesen durfte, dass ihre Mutter, als „Staatsfeindin“ verurteilt, von 1973 bis 1978, also mehr als vier Jahre, im „Roten Ochsen“ zu Halle hatte einsitzen müssen. Begründet wurde die Verurteilung mit dem Schlagwort „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“. Den Unterlagen war aber nur zu entnehmen, dass die junge Mutter gelegentlich, wenn ihre Kinder krank gewesen waren und der mütterlichen Fürsorge bedurft hatten, nicht zur Arbeit erschienen war, was als „Arbeitsbummelei“ und schließlich als „asoziales Verhalten“ galt. Da im Sozialismus Arbeitspflicht herrschte, war sie verhaftet, verurteilt und weggesperrt worden.
Der dritte Versuch einer Adoption, der zum Jahreswechsel 1973/74 erfolgte, musste gelingen, dennKatrin war von ihren Erzieherinnen eingeredet worden, wenn auch ihre neuen Adoptiveltern sie als „unerwünscht“ zurückbrächten, müsste sie für immer im Heim bleiben. Weihnachten 1973 schon durfte sie bei ihren neuen Eltern verbringen,und spürte sofort einen Hauch von Geborgenheit, wonach sie sich fast zwei Jahre gesehnt hatte. Umso erschrockener war sie dann, als sie am 2. Januar 1974 mit Gewalt ins Heim zurückgebracht wurde: „Meine Kräfte reichten nicht zur Gegenwehr. Am Ende saß ich im sanften Klammergriff auf dem Schoß der Frau, die ich zeitweilig schon für meine neue Mutter gehalten hatte, während der Mann, der sich als mein neuer Vater ausgegeben hatte, den Wagen steuerte – in eine mir nur zu bekannte Gegend. Tatsächlich tauchte nach kurzer Fahrt vor der Windschutzscheibe das altvertraute Kinderheim auf.“Der Grund, was dem Kind hätte erklärt werden können, war der vorerst noch fehlende Platz in der Kindertagesstätte!
Die neuen Eltern wohnten in Gera-Langenberg und waren stramme Genossen, die kinderlose Mutter arbeitete als Russischlehrerin und Parteisekretärin an der Polytechnischen Oberschule „Bruno Kühn“, benannt nach dem Bruder Lotte Ulbrichts, dem Widerstandskämpfer Bruno Kühn (1901-1944); der Vater, einer Arbeiterfamilie aus Bad Köstritz entstammend, war Maurer gewesen, hatte sich aber zum Architekten hocharbeiten können; zu ihm konnte Katrin, die zwölf Jahre in dieser Familie lebte, ein Vertrauensverhältnis aufbauen, das freilich immer wieder Anfechtungen ausgesetzt war. Zur Mutter fand sie nie, trotz eifriger Bemühungen, die an Selbstaufgabe grenzten, eine gute Beziehung. Sie hatte nämlich, obwohl sie noch Kind war, eine Unmenge häuslicher Pflichten zu erledigen, die noch zunahmen, als 1977 Halbbruder Sören geboren wurde; zum Spielen und Lesen blieb kaum die Zeit. Die Mutter jedenfalls ging völlig in Beruf und Parteiarbeit auf, das Adoptivkind, das sich nach Liebe und Geborgenheit sehnte, hatte, in ein Netz von Verboten eingespannt, die lästige Hausarbeit zu erledigen. Die Genossin Mutter interessierte nicht der gegenwärtige Mensch mit seinen Ängsten und Nöten, sondern nur der zukünftige Mensch des Kommunismus, der noch zu erschaffen war!
Aber obwohl die neue Adoptivmutter offensichtlich dem Parteiauftrag nachkam, die „Tochter einer rebellischen Staatsgegnerin in die sozialistische Gesellschaft zu integrieren“, erlebte Katrin in dieser privilegierten, weil staatstragenden Familie auch Dinge, die ihr die echte Mutter nicht hätte bieten können. Plötzlich hatte sie wieder eine liebevolle Großmutter und eine Menge neuer Verwandter, das Haus war von einem wunderschönen Garten umgeben, der zum Spielen einlud. Nach einem Schwächeanfall mit Fieber, den ihr überforderter Körper erlitt, war sie in der Kinderklinik gesund gepflegt worden, durfte danndie Eltern zum Skifahren nach Oberwiesenthal im Erzgebirge begleiten, verlebte glückliche Sommertage 1974 am Schwielowsee bei Potsdam und wurde pünktlich am 1. September 1974, wie DDR-üblich, in die erste Klasse der Schule ihrer Pflegemutter aufgenommen. Sie wurde, auch das DDR-üblich, „Junger Pionier“ und „Thälmann-Pionier“, durfte im Sommer 1977 mit Kindern der Baubrigade ihres Vaters nach Rostock-Lüttenklein ins Ferienlager fahren und trat schließlich mit 18 Jahren der SED bei, weil ihr Ehemann Politoffizier auf der Insel Rügen war.
Trotz aller Widrigkeiten, die Katrin Als Adoptivkind in Gera-Langenberg überstehen musste, hatte sie es eigentlich mit ihren Pflegealtern noch ganz gut getroffen! Hätte sie im Heim bleiben müssen wie ihr Bruder Mirko, der nie adoptiert wurde, hätte sie sich, wie sie selbst schreibt, zu einer „introvertierten Einzelgängerin“ entwickelt, menschenscheu, misstrauisch, verschlossen, ohne Selbstwertgefühl. So aber wurde sie in eine privilegierte Familie aufgenommen, die einem „kleinbürgerlich geprägten Realsozialismus“ huldigte, wo „Westfernsehen“ streng verboten war. Dass Katrin im Lauf ihrer sozialistischen Erziehung das positive DDR-Bild ihrer Eltern übernommen hat, wird man ihr nicht vorwerfen können. Die völlig andere DDR-Sicht ihrer politisch verfolgten Mutter lernte sie erst 1991 kennen.
Offensichtlich war sie auch eine fleißige und strebsame Schülerin, was ihr Selbstbewusstsein und neuen Lebensmut verschaffte, denn je älter sie wurde, desto hartnäckiger strebte sie nur noch ein Ziel an, möglichst rasch durch Heirat die ungeliebte Familie zu verlassen. Ihr Status als „Außenseiterin“, der sich nach der Geburt des Bruders 1977 noch verstärkte, machte sie aber auch zur wachsamen Beobachterin ihrer Umgebung. So lernte sie im Sommer 1974 Onkel Otto, den zehn Jahre älteren Bruder ihrer Mutter, kennen, der eine Datsche am Motzener See besaß. Später erfuhr sie, dass er und alle anderen Datschenbesitzer ringsum hohe Offiziere des „Ministeriums für Staatssicherheit“ waren. Nachdenklich machte sie auch, dass ihre Mutter sie immer aus dem Haus schickte, wenn ein bestimmter Herr in Zivil zu Besuch kam. Später, nach dem Mauerfall, konnte sie in den Akten lesen, dass ihre Mutter MfS-Offizieren Auskünfte gab über die Schüler der Oberklassen. Als ihr Vater zum Jahreswechsel 1974 für mehrere Wochen verschwand, wurde ihr erklärt, er würde „durch Bauarbeiten von uns ferngehalten“. In Wirklichkeit saß er „wegen Diebstahls sozialistischen Eigentums“ in Untersuchungshaft. Er hatte Baumaterial abgezweigt und an Angehörige der „privilegierten Funktionärsschicht“ verschoben. Seine Auftraggeber aber ließen ihn nicht hängen, er kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Ein DDR-Durchschnittsbürger mit diesem Delikt wäre für Jahre im Gefängnis verschwunden!
Das Buch ist angefüllt mit solchen Geschichte aus dem Innenleben der DDR-Nomenklatura! Katrins Schilderung ihrer Jugendweihe 1982 im Geraer Stadttheater, der ein gemeinsamer Besuch der Gedenkstätte Buchenwald vorausging, um die sozialistischen Konfirmanden politisch einzustimmen, ist eine Glanzleistung! Ein Jahr später, als sie den Berufswunsch „Heimerzieherin“ geäußert hatte, absolvierte sie zwei Praktiken in Geraer Kinderheimen, aber ihre intrigierende Mutter, die sich mit der Amtsärztin verbündet hatte, redete ihr den gewählten Beruf aus. So entschied sie sich dann dafür, Krankenschwester zu werden und lernte 1986 über eine Anzeige in der NVA-Zeitschrift „Armeerundschau“ ihren späteren Mann Olaf kennen, der die Offiziersschule in Löbau/Sachsen besucht hatte, jetzt in Prora auf Rügen stationiert war und in Binz wohnte. Dass er Politoffizier mit Stasi-Verbindungen war, erfuhr sie erst später. Aber sie heiratete ihn in Arnstadt, dem Wohnort seiner Eltern, am 14. November 1986, weniger aus Liebe, sondern weil er weit weg von Gera und ihren Adoptiveltern wohnte.
Die Ehe, in der zwei Kinder geboren wurden, scheiterte und wurde am 24. August 1995 geschieden. Als Ehemann Olaf im Spätsommer 1989, als der SED-Staat dem Untergang entgegen trieb, eine politische Schulung in Ostberlin begann, die bis zum Jahresende dauern sollte, fiel die Berliner Mauer, was er Katrin wie beiläufig am 10. November in Binz mitteilte. Sie hatte das auf Rügen nicht mitbekommen:“Ich jubelte nicht und holte auch keinen Rotkäppchen-Sekt aus dem Schrank, ich schaute nur sprach- und verständnislos meinen Mann an.“ Der wurde dann im Januar 1990 im Rang eines Majors von der „Nationalen Volksarmee“, die jetzt ohnehin aufgelöst wurde, entlassen und bekam eine vergleichbare Planstelle bei der „Reichsbahn“ in Arnstadt. Katrin aber fuhr voller Ängste mit einer Kollegin aus dem Krankenhaus auf einen Tagesausflug nach Lübeck, kassierte ihr Begrüßungsgeld, konnte es aber, verwirrt vom „kapitalistischen“ Warenangebot, nicht ausgeben.
Vor der Geburt ihres zweiten Kindes im Mai 1990 war ihr vom Arzt geraten worden, wegen einer vermuteten Erbkrankheit eine Blutprobe ihrer leiblichen Mutter zu besorgen. Dass der Wohnort, ein Dorf bei Greiz in Thüringen, so einfach über das Geraer Jugendamt zu ermitteln war, hatte sie nicht gewusst. Nun aber packte sie die Angst vor dieser Begegnung, weshalb sie fast ein Jahr zögerte, ehe sie am 6. April 1991, über zwei Jahrzehnte nach der Verhaftung, aufbrach, um ihre verschollene Mutter zu besuchen. Dort wurde sie überaus herzlich aufgenommen, erfuhr Wärme, Liebe und ein ungeahntes Glücksgefühl. Zugleich wurde ihr aber auch eine völlig andere DDR gezeigt, die Nachtseite des Sozialismus, als ihre Mutter von ihren Zuchthaus- und Verfolgungsjahren berichtete, das waren für Katrin „Erzählungen aus einem unbekannten Land“.
Sie konnte sich aber auch in die Situation der Mutter versetzen, der die wiedergefundene Tochter, sozialistisch erzogen, wie eine „Abgesandte aus dem Lager ihrer Verfolger“ vorkommen musste, zumal der staatstreue Schwiegersohn Olafauch „einer von denen“ gewesen war. Auch die Schilderung der Begegnung mit ihrer Mutter ist ein Meisterstück in diesem Buch! Dass sie, auf Versöhnung versessen, ihre beiden Mütter zur Aussprache an den Kaffeetisch bat, musste freilich scheitern: Die Gräben zwischen der Vertreterin der „herrschenden Klasse“, die die Macht hatte, Kinder von ihren Eltern zu trennen, und der politisch Verfolgten, die sich nicht dagegen wehren konnte, waren zu tief!
Katrin Behr ist heute eine selbstbewusste Frau, die nicht „an meinem Selbstmitleid ersticken“, sondern aktiv das noch kaum erforschte Thema „Zwangsadoption“ aufarbeiten wollte. Im November 2007 setzte sie ein Portal und eine Homepage ins Internet und gründete im Februar 2008 in Berlin den Verein „Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen“: „Ich wollte Menschen, die in einer ähnlichen Situation steckten, helfen. Daher dachte ich über die Möglichkeiten nach, wie ich die zerrissenen Lebensfäden, die die DDR hinterlassen hatte, wieder miteinander verknüpfen und dabei ausfindig machen konnte, was damals wirklich geschehen war.“ Wer sie aufsuchen will, findet sie in ihrer Dienststelle in der Frankfurter Allee 187 in 103 65 Berlin-Lichtenberg, Telefon: 030/55 77 93 54, e-mail: Behr@ uokg.de

Katrin Behr „Entrissen. Der Tag, als mir die DDR meine Mutter nahm“, Droemer-Verlag, München 2011, 304 Seiten, 16.00 Euro

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Über Jörg Bernhard Bilke 258 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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