Im Oktober 2022 schrieben sich zwei Lyriker ausführliche Briefe über Gewalt. Beide haben intensive Erfahrungen mit Gewalt. Und sie sind erfolgreiche Lyriker, die mit ihren Gedichten überzeugend die Macht der Sprache und die Wirkung der Worte verdeutlichen können. Die Initiative ging von dem Amerikaner Reginald D. Betts aus. Zhadan antwortete ihm. Der Briefwechsel erschien am 20. Oktober 2022 in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ und zeitgleich auf den Websites von PEN Amerika und PEN Ukraine. Drei Tage später wurde Serhij Zhadan in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Eine bemerkenswerte Koinzidenz! Der Briefwechsel der beiden Lyriker hat viele Gemeinsamkeiten mit dem berühmten Briefwechsel von Albert Einstein und Sigmund Freud zum Thema „Warum Krieg?“. Dieser war vor 90 Jahren (vgl. Csef 2022). Die Zeiten änderten sich – doch Krieg und Gewalt zeigen sich in der Gegenwart in einer neuen Gestalt. Der brutale und grausame Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die vielen Kriegsverbrechen erschüttern gerade die ganze Welt.
Der Ursprung des Briefwechsels
Reginald Dwayne Betts ist 41 Jahre alt und beging im 16. Lebensjahr einen bewaffneten Raubüberfall. Er wurde gefasst und verurteilt. Acht Jahre musste er zur Strafe im Gefängnis verbringen. Das hat ihn stark geprägt und verändert. Nach seiner Entlassung studierte er Jura und ist jetzt Dozent an der Juristischen Fakultät der renommierten Yale-Universität. Er hat die Gewalt hinter sich und engagiert sich für Gewaltprävention und für die Resozialisierung von Strafgefangenen. In einer Art Doppelexistenz ist er Schriftsteller und Jurist – wie in Deutschland Ferdinand von Schirach, Juli Zeh oder Bernhard Schlink. Bereits während seiner Gefängniszeit begann Betts Gedichte zu schreiben. In den USA ist er als Lyriker bekannt und erfolgreich. Bislang gibt es keine deutschen Übersetzungen seiner Werke.
Ein Impuls für den ersten Brief an Zhadan war gewesen, dass er mit Begeisterung dessen Gedichte las und dieselben seinen Freunden vorlas. Die Freunde dachten und waren überzeugt, dass diese Gedichte von ihm seien. Zunehmend erkannte er die Gemeinsamkeiten der lyrischen Sprache. Er erkannte sich selbst im Fremden und identifizierte sich damit. Der Ukraine-Krieg war ein weiterer Anreiz, an Zhadan zum Thema Gewalt zu schreiben. Rückblickend schreibt er über sein Leben: „Es gab eine Zeit, als ich dachte, all meine Tage seien eine Art von Gewalt.“ Sein Brief beginnt mit den Worten:
„Lieber Serhij, ich habe zum ersten Mal mit einem Gewehr geschossen, Jahre nachdem mein Haar zu ergrauen begann…“
Betts will die Meinung von Zhadan hören – denn dieser lebt gerade im Krieg und erlebt tagtäglich die schrecklichen Folgen von grausamer Gewalt. Das finale Credo im Brief von Betts lautet, dass Worte „die Gemeinschaft zusammenhalten, mehr als Kugeln oder Ideologie.“
Zweierlei Krieg – die vielen Gesichter der Gewalt
Reginald D. Betts erlebte als Jugendlicher die Brutalität der Gewalt und ist heute Jurist und Dichter. Serhij Zhadan lebt seit mehr als acht Jahren im Krieg. Bereits nach dem Krim-Annexion im Jahr 2014 war er als Musiker oft im Donbass und spielte vor ukrainischen Soldaten, die sich vom zermürbenden Kampf erholen wollten. Seit der russischen Invasion im Februar 2022 lebt er in seiner Heimatstadt Charkiw und leistet tagtäglich Hilfsdienste, überwiegend für die Zivilbevölkerung. Er unterscheidet wiederholt die verschiedenen Erlebnis- und Handlungsweisen der Bewaffneten und der Unbewaffneten. Die Verletzlichkeit der unbewaffneten Zivilbevölkerung ist ihm besonders vor Augen und belastet sein Herz.
Beide Dichter sind in ihrem bisherigen Leben acht Jahre in ihrer jeweils eigenen Art mit Gewalt konfrontiert. Betts war wegen seines Gewaltdelikts acht Jahre im Gefängnis. Zhadan erlebt seit acht Jahren in seinem Heimatland Ukraine tagtäglich den Krieg. Beide leben in der Hoffnung, dass zerstörerische Gewalt überwunden und bewältigt werden kann. Sprache ist für sie dafür unabdingbar. Betts begann im Gefängnis Gedichte zu schreiben. Die Sprache half ihm dabei, die Gewalt hinter sich zu lassen, die ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Zhadan hofft, dass die ukrainische Armee die russisch besetzten Gebiete befreien kann und dann Friedensverhandlungen folgen. Nur gute Gespräche, gelungene Dialoge und wechselseitiges Verstehen können dazu führen, dass zerstörtes Vertrauen schrittweise wieder gewonnen wird und Frieden möglich wird.
Die Waffen und die Folgen des Tötens
Serhij Zhadan beschreibt in seinem Antwortbrief, wie ihm bei Kriegsbeginn in seiner Freiwilligeneinheit eine Waffe ausgehändigt wurde. Zum ersten Mal in seinem Leben hielt er eine Waffe in der Hand. Zu dieser elementaren Grunderfahrung fielen ihm folgende Worte ein:
„Ein Mensch mit einer Waffe hat eine völlig andere Sicht auf die Welt. Diese Erfahrung ist leicht zu haben, aber schwer wieder loszuwerden.“
(Serhij Zhadan, Antwortbrief 2022)
Zhadan leistet in seiner Freiwilligeneinheit zivile Hilfsdienste in seiner Heimatstadt Charkiw. Ihm blieb bislang die Erfahrung erspart, wie fortgesetztes Töten Menschen verändert – selbst wenn das Töten ausschließlich der Notwehr oder Selbstverteidigung dient.
Der Neuropsychologe Thomas Elbert ist renommierter Gewaltforscher und hat wohl die fundiertesten Studien zur Tötungsbereitschaft und zu Völkermorden durchgeführt. Er und seine Mitarbeiter waren in Afghanistan, Kongo, Ruanda, Somalia, Uganda und Sri Lanka, um die dortigen Kriege und Völkermorde zu untersuchen. Er machte auch Studien, wie Kinder und Jugendliche zum Töten „dressiert“ und „abgerichtet“ werden, nach welchen Prozeduren die Tötungshemmung fällt und die Tötungsbereitschaft wächst. Seit dem Ukraine-Krieg hat er zahlreiche Interviews gegeben, in denen er die Mechanismen der russischen Grausamkeit und Barbarei in den vielfältigen Kriegsverbrechen erklärt (Elbert 2022). Seine Meinung nach kann das Töten zur Routine und zum Vergnügen werden und fortgesetzte Gewalt kann zu Mordlust und „Blutrausch“ führen.
Zhadan kennt nur zu gut die Bilder der russischen Massaker von Butscha und die Hieroglyphen der Grausamkeit und Barbarei. Gerade deshalb ist seine Aussage, die Waffenerfahrung sei schwer wieder loszuwerden, absolut zutreffend.
Die Verletzlichkeit der Unbewaffneten
Bezüglich der Kriegserfahrungen unterscheidet Zhadan oft zwischen Soldaten und Zivilisten. Er kümmert sich seit der russischen Invasion besonders um die Unbewaffneten, also die Zivilisten. Sie sind besonders gefährdet, schutzlos und vulnerabel. Im Verlauf des Ukraine-Krieges forciert der Kriegsherr Putin besonders den Terror gegen die Zivilbevölkerung. Er will Angst und Schrecken verbreiten und damit das ukrainische Volk zermürben. Diese perfide Strategie nimmt die Schutzlosen und Unbewaffneten ins Visier. Der renommierte britische Historiker Christopher Clark hat in seiner Studie „Die Zukunft des Krieges“ nachgewiesen, dass sich im 20. Jahrhundert bezüglich der Todesopfer in der Relation von Soldaten und Zivilisten eine radikale Umkehrung ereignete (Clark2020).
„Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag das Verhältnis militärischer Opfer zu zivilen bei rund 8 : 1; in den Kriegen der 1990er Jahre betrug es 1:8.“ (Christopher Clark 2020, S. 258).
Im Ukraine-Krieg dürfte das Opfer-Verhältnis noch krasser ausfallen – zu Lasten der Zivilbevölkerung. Es ist das verbrecherische und menschenverachtende Kalkül von Putin, gezielt die Zivilbevölkerung zu vernichten. Nach acht Monaten Krieg treffen die russischen Raketen, Granaten oder Bomben nicht bevorzugt militärische Ziele, sondern Wohnblocks, Schulen, Krankenhäuser, Einkaufszentren oder flüchtende Zivilbevölkerung.
Zauber und Macht der Sprache
Angesichts der mörderischen und kriegsverbrecherischen Phänomene des Ukraine-Krieges stellt sich die Frage, was zwei Lyriker im mittleren Lebensalter mit ihren Gedichten erreichen wollen und können. Beide leben von der Hoffnung, dass die Sprache eine wirkungsvolle Gegenkraft zur Gewalt ist. Sowohl Reginald D. Betts als auch Serhij Zhadan sind glaubwürdige und überzeugende Protagonisten für die Macht und den Zauber der Sprache. Betts büßte für sein Gewaltdelikt acht Jahre im Gefängnis und entdeckte dort seine Sensibilität für Sprache und Gedichte. Zhadan lebt seit Jahrzehnten von und mit der Literatur. Er schrieb erfolgreiche Romane, Gedichtbände und Essays. Er übersetzte Dichter anderer Sprachen ins Ukrainische. Einer seiner Lieblingsautoren ist Paul Celan. Dessen Werke übersetzte er. Den rational schwer fassbaren Zauber der Sprache kann man in seiner Bedeutung nach Zhadan gar nicht hoch genug einschätzen:
„Dies ist ein großzügiges Recht, das uns von Geburt an gewährt wird, die eigene Stimme, die einem jeden von uns bleibt; Sprache als ein komplexer, geheimer Zauber, der selbst unter den grausamsten und bittersten Umständen einen Menschen retten kann. Als Schriftsteller bin ich es gewohnt, der Sprache zu vertrauen. Zu vertrauen und dennoch um all ihre Begrenztheit zu wissen. Sprache kann, ebenso wie Poesie, Kriege nicht stoppen. Doch sie ist es , die Böses und Ungerechtes beim Namen nennt, mit ihrer Hilfe können wir immer wieder unsere Schwäche und Hoffnungslosigkeit überwinden, uns erheben und aufrichten, um Zeugnis abzulegen.“
(Serhij Zhadan, Antwortbrief 2022)
Bei allem Realitätssinn und aller Nüchternheit, die Zhadan durch seine Kriegserfahrungen der letzten acht Monate durchgemacht hat, ist er doch einer, der auf einen zukünftigen Frieden hofft. Frieden gibt es für ihn nur in Verbindung mit Vertrauen, Gerechtigkeit und Freiheit. Und dafür hat Zhadan die meiste Zeit seines Lebens gekämpft. In den internationalen Beziehungen wurde dieses Engagement sehr geschätzt und mit überwältigender Anerkennung gewürdigt. Im Jahr 2022 erhielt der ukrainische Lyriker zwei herausragende Preise in Deutschland, die sein Engagement für Freiheit und Demokratie auszeichnen: Er erhielt von der Heinrich-Böll-Stiftung den Hannah-Arendt-Preis für Politisches Denken und schließlich den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der ihm am 23. Oktober 2022 in der Paulskirche in Frankfurt überreicht wurde. Minutenlange Standing Ovations der geladenen gebildeten Elite Deutschlands besiegelten den Triumpf des mutigen Dichters, der in schwierigen Zeiten laut seine Stimme erhebt – wie er selbst sagt: “die eigene Stimme, die einem jeden von uns bleibt.“
Literatur
Betts, Reginald Dawayne, Zhadan, Serhij, Briefwechsel. Die Zeit vom 20. Oktober 2022
Clark, Christopher, Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020
Csef, Herbert, Warum Krieg? Zur Aktualität des Briefwechsels von Albert Einstein und Sigmund Freud. Tabularasa Magazin vom 25. März 2022
Csef, Herbert, Gedichte gegen den Krieg – Der ukrainische Lyriker Serhij Zhadan. Tabularasa Magazin vom 31. März 2022
Elbert, Thomas, „Im Krieg kann aus der Faszination für Gewalt echte Mordlust werden“. Interview mit Christina Berndt. Süddeutsche Zeitung vom 9. April 2022
Elbert, Thomas, „Das Töten wird zur Routine und zunehmend zum Vergnügen.“ Russische Massaker an Zivilisten in Butscha. Interview mit Sandra Lumetsberger. Tagesspiegel vom 16. April 2022
Zhadan, Serhij, Wir werden vernichtet. Die Zeit vom 7. Juli 2022
Zhadan, Serhij, Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg. Suhrkamp, Berlin 2022
Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg
Email: herbert.csef@gmx.de