Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch

SPD, Quelle: SGL

Die Kommission Internationale Politik des Parteivorstandes hat mit einer Neuausrichtung sozialdemokratischer internationaler Politik Antworten auf eine Welt im Umbruch formuliert. Wir dokumentieren das Ergebnispapier.

Zusammenfassung

Wir leben in einer Welt im Umbruch. Die Zeiten uni- oder bipolarer Ordnung sind vorbei. Neue Machtzentren ringen um Deutungshoheit, Einfluss und Kooperationen. Neben den USA und China sowie Europa erheben immer mehr Staaten des Globalen Südens Anspruch, die Zukunft der Weltordnung mitzugestalten. Diese Entwicklung hat sich über viele Jahre abgezeichnet. Während sich die Konturen einer neuen globalen Ordnung noch entwickeln, ist klar: Wir stehen am Beginn eines multipolaren Zeitalters.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist der bisher brutalste Bruch mit Grundprinzipien der internationalen Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam errichtet wurde. Spätestens jetzt wird uns Europäerinnen und Europäern deutlich, dass die Umbrüche keinen Halt vor uns machen. Es ist Zeit, unsere eigene Rolle in der Welt neu zu definieren und mehr Verantwortung dafür zu übernehmen, was Grundlage für Wohlstand, Freiheit und Frieden bei uns ist: eine regelbasierte internationale Ordnung. Deutschland kommt dabei eine ganz zentrale Rolle zu.

Erstens: Mit einer Neuausrichtung sozialdemokratischer internationaler Politik geben wir Antworten auf eine Welt im Umbruch. Dabei können wir auf einer erfolgreichen Geschichte sozialdemokratischer Politik für eine friedliche, gerechte und nachhaltige Welt aufbauen. Zugleich zeigt uns die Zeitenwende, dass wir Entwicklungen der vergangenen Jahre nicht immer richtig eingeschätzt haben. Zu einer weitsichtigen Außenpolitik gehören strategisches Denken und Handeln. Die eigene Stärke ist Grundvoraussetzung für ein Leben in Wohlstand, Freiheit und Frieden für die Bürgerinnen und Bürger Europas. Dazu gehören mehr Investitionen in wirtschaftliche Resilienz und Nachhaltigkeit, in multilaterale Institutionen, in unsere militärischen Fähigkeiten und den sozialen Zusammenhalt.

Zweitens: Für die Sozialdemokratie ist ein starkes Europa die wichtigste politische Aufgabe der kommenden Jahre. Nur als souveränes, attraktives Zentrum kann Europa die globale Ordnung nach seinen Werten und Interessen mitgestalten. Europa muss seine Rolle als geopolitischer Akteur annehmen und mehr in die eigene Sicherheit investieren. Ein starkes Europa treibt eine neue Innovations- und Wirtschaftsagenda voran, die uns an die Spitze des technologischen und gesellschaftlichen Fortschritts und des Kampfes gegen die Klimakrise setzt und damit die Grundlage für künftigen Wohlstand schafft. Dafür braucht es politische und institutionelle Reformen und mehr europäische Integration.

Drittens: In einer Welt im Umbruch muss Europa viel stärker in strategische Partnerschaften mit Ländern investieren, die uns politisch und gesellschaftlich nahestehen. Gleichzeitig sind globale Krisen zu komplex, als dass Demokratien sie alleine lösen können. Im Kampf gegen die Klimakrise, Pandemien, Hunger oder für die Nicht-Verbreitung von Atomwaffen brauchen wir mehr Multilateralismus, mehr gemeinsame Institutionen und mehr internationale Zusammenarbeit. Das ist Grundlage für die Aufrechterhaltung einer regelbasierten internationalen Ordnung.

In einer Zeit des Umbruchs ergeben sich große Gestaltungsmöglichkeiten. Aufgrund seiner Größe kommt Deutschland eine besondere Verantwortung zu. Als Sozialdemokratie wollen wir, dass Deutschland Führung für ein starkes Europa, für Frieden, Freiheit und eine regelbasierte internationale Ordnung übernimmt.

1. Eine Welt im Umbruch

Die Welt befindet sich im Umbruch: Klimakrise, Krieg in Europa mit seinen globalen Folgen, das Erstarken autoritärer Regime, der Rückgang von Multilateralismus, die Folgen der Pandemie und wachsende Ungleichheiten in wirtschaftlich unsicheren Zeiten. Wir leben inmitten globaler Großkrisen, die eine enge Kooperation zwischen Staaten und Gesellschaften benötigen, die aber im Zuge von Krieg, Populismus, Polarisierung und illiberalen Strömungen immer schwieriger umzusetzen ist.

Für uns ist klar: Globale Herausforderungen lassen sich nicht im Gegeneinander, sondern nur im Miteinander lösen. Wir brauchen mehr Kooperation, mehr Multilateralismus, mehr gemeinsame Institutionen und Abkommen. Das sind die Grundlagen für Frieden, Sicherheit, für Wohlstand, für Stabilität und mehr Gerechtigkeit – bei uns, aber auch weltweit.

Damit wir diese Ziele erreichen können, müssen wir zunächst die neuen Rahmenbedingungen unseres Handelns anerkennen. Nur dann gelingt es uns, passende Antworten zu geben und Fortschritt zu erzielen. Dafür braucht es Klarheit über die eigene Rolle, Prinzipien und Handlungsmöglichkeiten (Kapitel 2). Unser wichtigstes Ziel ist ein starkes, souveränes Europa, das ein attraktiver Partner zur Bewältigung globaler Herausforderungen ist und seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Wohlstand, Sicherheit und Frieden ermöglicht (Kapitel 3). Ein starkes Europa, das sich nicht moralisch über andere erhebt, sondern gemeinsame Interessen mit seinen Partnern definiert und dafür Strukturen der Zusammenarbeit schafft und stärkt, kann zu einem Anker der Stabilität und Verlässlichkeit in einer Welt im Umbruch werden (Kapitel 4).

Starke Zentren in einer multipolaren Welt

Während sich die Machtbalance auf internationaler Ebene neu sortiert, gerät die regelbasierte Ordnung immer häufiger unter Druck: Immer mehr Staaten versuchen, das Recht des Stärkeren über die Stärke des Rechts zu stellen. Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg auf die Ukraine ist eine Zäsur – eine Zeitenwende – für die Sicherheits- und Friedensordnung in Europa. Der Krieg und der Umgang damit sind aber auch eine Bewährungsprobe für die internationale Gemeinschaft und das Funktionieren einer regelbasierten internationalen Ordnung im Allgemeinen.

Unsere Welt ist durch eine multipolare Ordnung gekennzeichnet: Trotz einer wachsenden Rivalität zwischen den USA und China sind die Zeiten uni- oder bipolarer Ordnung vorbei. Diverse Staaten und Regionen konkurrieren politisch, wirtschaftlich und militärisch um internationalen Einfluss. Insbesondere Staaten aus dem Globalen Süden erheben berechtigterweise den Anspruch, die internationale Ordnung mitzugestalten. Sie bilden Machtzentren, die auf unterschiedliche Art und Weise Einfluss ausüben. Sie schaffen Bindungen, Verflechtungen und Kooperationen.

Unsere Weltordnung wird dadurch flexibler und dynamischer. Verhandlungen zwischen Staaten werden noch wichtiger, aber genauso belastbare und vertrauensvolle Beziehungen. Für Europa, das auf Kooperation aufbaut, ist das eine große Chance. Gleichzeitig bringt dieser Wandel neue Unsicherheiten mit sich, auf die wir mit einer Resilienzstrategie antworten werden.

Wohlstand, Sicherheit und Frieden in der Welt basieren auf multilateralen Institutionen und dem erfolgreichen Aufbau einer regelbasierten Ordnung. Es ist unser größtes Interesse, diese Ordnung aufrechtzuerhalten und zu stärken. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre zeigen, dass wir in unseren Bemühungen nicht immer erfolgreich waren.

Wir haben die große Verantwortung, das Neue, was entstehen wird, mitzugestalten. Deutschland und Europa haben dabei enorme Möglichkeiten. Viele Staaten der Welt haben hohe Erwartungen an uns, sehen in uns einen Partner, um Frieden, Sicherheit und Wohlstand zu schaffen. Es ist Zeit, dass wir mehr Verantwortung übernehmen und Führung zeigen, diese Ziele zu erreichen.

2. Grundlagen sozialdemokratischer Außenpolitik

Als älteste demokratische Partei Deutschlands steht die SPD in der Tradition einer wirksamen internationalen Politik auf der Höhe der Zeit, die der Friedenssicherung und -förderung verpflichtet ist. Diesen Anspruch hat etwa die sozialdemokratische Ost- und Entspannungspolitik verwirklicht.

Mit einem erfolgreichen Dreiklang aus Diplomatie und Kooperation, dem klaren Bekenntnis zu Menschenrechten und internationalem Recht und dem Aufbau der eigenen militärischen Stärke haben Willy Brandt und später auch Helmut Schmidt die deutsche Außenpolitik während des Kalten Krieges geprägt. Insbesondere Willy Brandt verstand es, enge Partnerschaften auch mit Ländern des Globalen Südens zu pflegen und sie bei der Gestaltung der internationalen Ordnung mit einzubinden. Diese strategische Weitsicht in angespannten Zeiten war wegweisend für den Aufbau einer europäischen Friedensordnung mit den Verhandlungen zur KSZE-Schlussakte (1975), Abrüstungsabkommen wie dem INF-Vertrag (1987) mit der damaligen Sowjetunion und der Charta von Paris (1990). Damit haben sie eine wichtige Grundlage für die deutsche Wiedervereinigung und auch die Osterweiterung der Europäischen Union geschaffen. Diese Friedensordnung hat Europa für viele Jahrzehnte geprägt.

In den vergangenen Jahren haben wir Veränderungen sowohl in unserer unmittelbaren Nachbarschaft als auch darüber hinaus zu wenig Beachtung geschenkt oder sie falsch eingeschätzt. Deswegen werden wir die neuen Realitäten einer Welt im Umbruch anerkennen, analysieren, unsere Antworten überprüfen und weiterentwickeln.

Sicherheit und Frieden gehören untrennbar zusammen, aber Frieden ist mehr als Sicherheit. Der Dreiklang von Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitik ist und bleibt der Grundpfeiler sozialdemokratischer internationaler Politik. Seit unserer Parteigründung vor 160 Jahren bekämpfen wir – innergesellschaftlich wie global – soziale, ökonomische und ökologische Ursachen von Konflikten. Eine feministische Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik ist dafür eine wichtige Grundlage. Die internationale Kultur- und Bildungspolitik ist ein wichtiger Bestandteil sozialdemokratischer Außenpolitik, die insbesondere auch eine enge Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft fördert, auch unter Einbeziehung der Perspektiven marginalisierter Gruppen.

Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine hat Russland die Friedensordnung in Europa und vermeintliche Gewissheiten unserer bisherigen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik erschüttert. Die Bundesregierung hat unter Führung von Bundeskanzler Olaf Scholz entschieden auf diesen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert und damit eine Zeitenwende in der deutschen Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitik eingeläutet. Deutschland ist heute einer der führenden Unterstützer der Ukraine – militärisch, politisch, wirtschaftlich, finanziell und zivil – und wird auch in Zukunft eng an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer stehen. Die Bundesregierung ist von einem lange geltenden Grundsatz abgewichen, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Auch die Europäische Union beweist große Einigkeit und hat umfassende Sanktionspakete auf den Weg gebracht. Zudem arbeitet Bundeskanzler Olaf Scholz, etwa im Rahmen der G7, G20 und der Vereinten Nationen, engagiert am Ausbau strategischer Partnerschaften und an der Definition gemeinsamer Interessen mit führenden außereuropäischen Staaten, um die multilaterale und regelbasierte Ordnung auch in Krisenzeiten zu stärken.

Eigene Stärken definieren

Die eigene Stärke ist eine Grundvoraussetzung für Frieden und den Einsatz für eine regelbasierte Ordnung. Dazu gehören starke Institutionen und eine resiliente und attraktive Wirtschaft und Gesellschaft. Das sind Grundvoraussetzungen für erfolgreiche Diplomatie, für wirksame Klimapolitik, den Schutz von Menschenrechten und Friedensinitiativen.

Die eigene Stärke definiert sich aber auch über militärische Fähigkeiten, die das Prinzip der Unverletzlichkeit von Grenzen glaubhaft absichern. Nukleare Abrüstung und weitere Abrüstungsinitiativen bleiben langfristig unser Ziel. Zudem kommt es auf belastbare Partnerschaften jenseits des klassischen westlichen Bündnisses mit Ländern des Globalen Südens an. Diese Bündnisse sind Grundlage dafür, erfolgreich internationale Abkommen zu verhandeln, zu erhalten und multilaterale Institutionen für ihre Umsetzung zu stärken.

Die Zeitenwende durch den russischen Überfall auf die Ukraine macht deutlich, wie wichtig eine starke, souveräne und geschlossene Europäische Union für die Handlungsfähigkeit Europas ist. Sie verdeutlicht den Wert des transatlantischen Bündnisses und gleichzeitig die Notwendigkeit, Europa selbstständiger aufzustellen. Sie zeigt die Wichtigkeit strategischer Partnerschaften mit Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika. Und sie zeigt, dass Europas Wirtschaft resilienter aufgestellt, einseitige Abhängigkeiten verringert und Partnerschaften diversifiziert werden müssen.

Zu einer vorausschauenden und strategischen Außen- und Sicherheitspolitik gehört das Denken in Szenarien. Wir müssen Trends frühzeitig erkennen und entsprechend mögliche Handlungsoptionen aufzeigen. Diesen Ansatz wollen wir strukturell verankern.

Zu einer wirkungsvollen Friedenspolitik gehören neben Diplomatie und einer engagierten Entwicklungspolitik auch die militärischen Fähigkeiten unserer Sicherheits- und Verteidigungsbündnisse. Die Bundeswehr leistet einen essenziellen Beitrag zu den Fähigkeiten von EU und NATO. Sie muss so ausgestattet sein, dass sie ihre Aufgaben jeder Zeit vollumfänglich erfüllen kann. Mit dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro stellen wir die Mittel zur Erfüllung dieser Aufgabe und zur weiteren Modernisierung unserer Streitkräfte bereit. Das gebietet auch der Respekt vor der Arbeit unserer Soldatinnen und Soldaten, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben über das nötige Material verfügen müssen. Wir kommen damit gemeinsam unserer Verantwortung für unsere Parlamentsarmee nach.

Damit verbunden ist eine klare Botschaft an unsere Bündnispartner. Wir übernehmen mehr Verantwortung für die Durchsetzung unserer gemeinsamen Interessen im Sinne einer wertebasierten Friedensordnung. Dies beinhaltet Führung auf Augenhöhe auch in militärischen Fragen. Mit der Erreichung der 2 Prozent des BIP, mit dem gemeinsamen Aufbau wirkungsvoller Fähigkeiten machen wir deutlich, dass sich unsere Bündnispartner auf Deutschland verlassen können.

Wirtschaftliche Resilienz

Die Pandemie und die Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine haben gezeigt, wie anfällig unsere globalisierte Wirtschaftsordnung ist. Die Folgen einer instabilen internationalen Ordnung sind für alle Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag spürbar: Inflation, Lieferengpässe, Produktionsausfälle und damit die Gefahr von Rezession und Arbeitsplatzverlusten. Wir brauchen in Deutschland und Europa eine Resilienzstrategie mitdem Ziel, geopolitische Risiken zu minimieren, Abhängigkeiten abzubauen und unsere Handels- und Industriepolitik widerstandsfähiger aufzustellen.

Zugleich werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten darauf achten, dass aus notwendiger Diversifizierung kein Vorwand für Abschottung, Zollschranken und Protektionismus wird. Wir wollen keine Deglobalisierung.

Die sozialökologische Transformation hat durch die Zeitenwende eine neue Dringlichkeit erhalten. Sie hat eine ökologische, eine ökonomische, aber spätestens mit diesem Krieg auch eine sicherheitspolitische Dimension. Denn Investitionen in den Umbau der deutschen und der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft – etwa in unser Gesundheits- und Bildungssystem oder die öffentliche Infrastruktur – sind Investitionen in unsere Unabhängigkeit und damit Investitionen in unsere Sicherheit. Wir wollen in Europa klimafreundliche Innovationen fördern und damit auch globale Standards setzen. So stärken wir den Standort Europa und „Made in Europe“ als Maßstab für Hochtechnologie, Nachhaltigkeit, Innovation und höchste Qualität.

Multilateralismus stärken

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in nicht-demokratischen Staaten. Weltweit beobachten wir das Erstarken autoritärer Regime und gesellschaftliche Fragmentierungsprozesse. Für die internationale Zusammenarbeit haben beide Entwicklungen schwerwiegende Folgen: Eine internationale, auf Recht gestützte Kooperation – also multilaterale Politik – wird zunehmend schwieriger.

Bestrebungen, die Staatengemeinschaft in antagonistische Blöcke zu spalten, werden wir mit aller Kraft entgegenwirken. Denn globale Herausforderungen können nur gemeinsam und in Kooperation mit anderen Staaten gemeistert werden, etwa die Bekämpfung von Armut in der Welt, der Kampf gegen die Klimakrise, die Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen und das Ergreifen von Abrüstungsinitiativen.

Hierfür sollten Deutschland und Europa mit ihren Partnern gemeinsame Interessen definieren und konkrete Kooperationen eingehen, die für alle Seiten einen Mehrwert haben. Die Sozialdemokratie hält am Ziel einer regelbasierten internationalen Ordnung fest und setzt sich dafür ein, internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen zu reformieren, damit sie die Vielfalt der Weltgemeinschaft besser repräsentieren und ihre Handlungsfähigkeit erhöhen.

Neben den globalen Institutionen setzen wir auch auf innovative Formate der Kooperation wie den Klimaclub oder die Initiative zur globalen Mindeststeuer von Bundeskanzler Olaf Scholz, um mit gewillten Ländern entschlossen voranzugehen. Bei der Verteidigung der regelbasierten Ordnung oder der Organisation von Fortschritt kommt den G7 und den G20 eine besondere Verantwortung zu.

Starke und sichtbare Entwicklungspolitik

Der vernetzte Ansatz aus Sicherheits-, Außen-, und Entwicklungspolitik ist der nachhaltigste Weg der Konfliktprävention. Entwicklungszusammenarbeit hat dabei einen besonders wichtigen strategischen Wert, denn sie schafft Vertrauen und baut langfristige Partnerschaften auf. Deshalb wollen wir bei steigenden Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit entsprechend anheben.

Ein Schwerpunkt sozialdemokratischer Entwicklungspolitik bleibt die Bekämpfung von Hunger und Armut. Ungleichheit in Kombination mit Hunger und Armut sind die Haupttreiber von gewaltsamen Konflikten. Entwicklungspolitik trägt dazu bei, wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Perspektiven auf- und damit Ungleichheit abzubauen. Als einen wesentlichen Baustein, das Auseinanderklaffen der sozialen Schere zu verhindern und bestehende Ungleichheiten zu verringern, sehen wir den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme. Soziale Sicherung schafft Sicherheit in Krisen und beugt ihnen zugleich vor. Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung muss einhergehen mit guter Arbeit weltweit, gerechten Löhnen und der Einhaltung von menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Standards. Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen bietet hier eine zentrale Orientierung.

Wir werden noch stärker darauf dringen, dass strukturelle Ungleichheiten abgebaut werden, etwa durch die gezieltere Förderung von Frauen, lokalen und regionalen Infrastrukturen, Märkten und Institutionen. Uns ist wichtig, dass eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik alle Mitglieder einer Gesellschaft in den Blick nimmt und auf die Überwindung patriarchaler und postkolonialer Machtstrukturen dringt. Das macht Gesellschaften gerechter und resilienter. Geleitet werden wir vom Ansatz der 3R: Rechte verwirklichen, Zugang zu Ressourcen und Repräsentanz herstellen.

Darüber hinaus ist der gemeinsame Kampf gegen die Klimakrise eine existenzielle Aufgabe für die Weltgemeinschaft. Die ärmsten Staaten sind häufig am heftigsten betroffen und am wenigsten vorbereitet. Sozialdemokratische Politik schafft eine nachhaltige Entwicklungsperspektive, die Wohlstand, Klimaanpassung und -mitigation miteinander verbindet.

Deutschland zählt zu den führenden Geberländern im Bereich von Entwicklungspolitik, Friedensförderung, Krisenprävention und humanitärer Hilfe weltweit. Damit geht die Verantwortung einher, neokoloniale und neoliberale Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit zu beseitigen. Dieses Engagement sollte strategisch sichtbarer eingesetzt und Deutschland und Europa sollten als führende Friedensmacht positioniert werden.

Führungsrolle annehmen

Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten ein hohes Maß an Vertrauen erarbeitet. Mit diesem Vertrauen geht auch eine Erwartungshaltung einher. In vielen außenpolitischen Debatten steht Deutschland immer mehr im Mittelpunkt. Für viele Staaten auf der Welt sind wir ein wichtiger Partner. Und genau deshalb erwarten sie, dass Deutschland auf internationaler Ebene mehr Initiative zeigt und eine Führungsrolle einnimmt.

Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von einer regelbasierten internationalen Ordnung und einer globalisierten und vernetzten Welt. Deshalb kann Deutschland glaubhaft eine Führungsrolle einnehmen, um diese Grundsätze zu verteidigen. Dazu gehört aber auch, dass wir uns dafür einsetzen, die Globalisierung gerechter, nachhaltiger und sozialer zu gestalten.

Und Deutschland profitiert von einem starken Europa. Nur aus einem starken Europa heraus können wir uns global für unsere Werte und Interessen einsetzen – alleine sind wir zu klein, um Einfluss auszuüben. Daher ist es in unserem ureigenen Interesse, eine Führungsrolle bei der Stärkung Europas als attraktives Zentrum einzunehmen.

Führung bedeutet nicht, dass sich Deutschland über andere hinwegsetzt, sondern dass die Bundesregierung Stimmen und Perspektiven aufnimmt, stark macht und mit Initiativen vorangeht, um unsere gemeinsamen Ziele zu erreichen. Ein kooperativer Führungsstil ist ein moderner Führungsstil und die Antwort auf eine Welt im Umbruch.

3. Europa als attraktives Zentrum

Ein souveränes Europa ist die wichtigste politische Antwort auf die Zeitenwende. Globale Krisen bedürfen globaler Lösungen, für die wir nur glaubhaft werben können, wenn Europa mit einer Stimme spricht. Grundlage für die Geschlossenheit der EU sind das robuste Bekenntnis zu den gemeinsamen Werten, der soziale Zusammenhalt der Bürgerinnen und Bürger und das Gründungsversprechen der EU, dauerhaften Frieden und Wohlstand in Europa zu sichern.

In der Corona-Pandemie hat die EU mit dem größten Wiederaufbaufonds ihrer Geschichte gezeigt, dass die Mitgliedstaaten zusammenhalten, wenn es darauf ankommt. Der russische Angriff auf unsere Friedensordnung und unsere gemeinsamen europäischen Werte hat ein neues Momentum für Europa geschaffen und die Einigkeit Europas und der NATO historisch gestärkt: Durch das härteste Sanktionspaket in der Geschichte der EU, die beispiellose Unterstützung für die Ukraine sowie durch die bevorstehenden NATO-Beitritte von Schweden und Finnland. Auch der Beitritt Dänemarks zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU steht beispielhaft für diese Entwicklung.

Dieses Momentum wollen wir nutzen, damit die EU gestärkt die Herausforderungen der Zeitenwende meistert. Bei der Weiterentwicklung zu einer souveränen EU kommt der deutsch- französischen Partnerschaft im 61. Jahr des Élysée-Vertrags eine zentrale Rolle zu. Präsident Emmanuel Macrons Rede an der Universität Sorbonne und Bundeskanzler Olaf Scholz Rede an der Karls-Universität haben wichtige Anstöße für eine Vertiefung der europäischen Integration geliefert – hierauf müssen nun konkrete politische Projekte folgen. Deutschland und Frankreich tragen dafür gemeinsam eine besondere Verantwortung.

Geopolitisch selbstbewusstes Europa

Europa soll Anker für eine wertegeleitete Interessenpolitik in einer multipolaren Welt sein und mit starker Stimme für Frieden, Freiheit, Menschenrechte und die Verteidigung der regelbasierten Ordnung eintreten.

In einer zunehmend fragmentierten Welt wollen wir, dass Europa als attraktives Zentrum der zentrale politische und wirtschaftliche Partner für andere Staaten und Regionen ist.

Die Stärke und Anziehungskraft der Europäischen Union beruhen darauf, dass sie Frieden, Demokratie, individuelle Freiheit, gesellschaftlichen Wohlstand und soziale Teilhabe mit einem ökologisch verantwortungsbewussten Fortschritt verbindet. Diese Erfolgsgeschichte weckt Hoffnungen: Eine Vielzahl von Ländern strebt eine Mitgliedschaft in der Union an. Die Europäische Union ist schon heute das attraktivste Staatenbündnis der Welt. Wir werden den Weg hin zu einer erweiterten und vertieften EU konsequent weiterverfolgen.

Wir wollen, dass Europa eine Vorreiterrolle in der internationalen Krisenprävention, bei der Friedens- und Demokratieförderung sowie beim Schutz von Menschenrechten einnimmt. Durch eine gemeinsame Ausrichtung unserer Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe in Europa wollen wir diesem Anspruch gerecht werden.

Starker Partner in der NATO

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich in den EU-Verträgen zu gegenseitigem Beistand verpflichtet. Dieses Versprechen ist in den letzten Jahren durch unterschiedlicheInitiativen und Programme bekräftigt worden. Im Angesicht des russischen Angriffskriegs sehen wir aber: Anspruch und Wirklichkeit einer verteidigungsfähigen EU klaffen noch weit auseinander. Die USA und die NATO sind nach wie vor Garanten für die europäische Sicherheit – die Biden-Administration lebt das vor. Aber insbesondere die Amtszeit von Präsident Donald Trump hat uns deutlich gemacht, dass Europa sich souveräner aufstellen und mehr in die eigene Sicherheit investieren muss.

Die Zeitenwende soll Katalysator einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein. Wir werden uns dafür einsetzen, dass Kooperationen unter EU- Mitgliedstaaten verstärkt genutzt werden, um die europäische Säule in der NATO zu stärken und die militärischen Kapazitäten und Fähigkeiten der EU auszubauen.

Es ist wichtig, dass die Europäische Union die ineffiziente und ineffektive Zersplitterung in ihrer Verteidigungspolitik überwindet. 27 Länder, die alle ein eigenes Beschaffungswesen unterhalten, eine Vielzahl unterschiedlicher Waffensysteme besitzen, eigene Rüstungskonzerne mit Aufträgen versorgen und mit ihnen über die Waffen der Zukunft verhandeln – das ist schon lange nicht mehr zeitgemäß. Wir wollen uns selbstbewusst für gemeinsame, europäische Verteidigungsanstrengungen und mehr Zusammenarbeit in Produktion und Beschaffung engagieren. Das stärkt die Sicherheit und Souveränität Europas. Die Initiative der Bundesregierung zum Aufbau eines europäischen Luft- und Raketenabwehrsystems ist ein wegweisender Schritt in die Zukunft.

Europa muss sich konventionell gegen Angriffe – auch hybrider Natur unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs – verteidigen können und entsprechende Abschreckungsfähigkeiten aufweisen. Dafür brauchen wir in Europa ein besseres Zusammenspiel: neben einer gemeinsamen Beschaffung auch gemeinsame Mindeststandards für Rüstungsexportkontrollen, koordinierte Verteidigungsausgaben, eine schnelle Eingreiftruppe und ein echtes EU-Hauptquartier für eine klare Führungsstruktur.

Zugleich werden wir Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, der militärischen Mobilität sowie im Cyberraum im gemeinsamen europäischen Kontext voranbringen. Politisch sollten unsere Forderungen durch einen eigenständigen EU-Ministerrat für Verteidigung koordiniert und umgesetzt werden. Mehr Eigenständigkeit setzt höhere Handlungsfähigkeit voraus. Grundlegend dafür sind Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik und ein EU Außenminister mit weitreichenden Kompetenzen.

Gemeinsam für mehr soziale Sicherheit

Ein gerecht verteilter Wohlstand und ein starker sozialer Zusammenhalt bilden die Grundlage für die Attraktivität eines geopolitisch denkenden Europas als Partner für andere Länder und Regionen. Die soziale Säule der EU muss weiter ausgebaut werden. Jeder Mensch in Europa muss von seiner Hände Arbeit leben können. Dafür kämpft die Sozialdemokratie. Faire Bildungschancen, Mindestlöhne und soziale Sicherungssysteme in ganz Europa sind hierfür zentral.

In Zeiten mit hoher Inflation und fortdauernden wirtschaftlichen Unsicherheiten setzen wir auch weiterhin auf fiskalische Spielräume innerhalb der EU. Bei der Bewältigung der Pandemie haben wir gesehen, welche Rolle eine weitsichtige Fiskalpolitik für die Stabilisierung der Wirtschaft spielen kann. Diese staatliche Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten bleibt weiter wichtig. Der Wiederaufbaufonds „NextGenerationEU“ hat einen Impuls für nachhaltige Zukunftsinvestitionen gegeben. Wir setzten uns dafür ein, dass aus dem Beispiel desWiederaufbaufonds und der in der Krise gestärkten europäischen Solidarität ein dauerhafter Integrationsfortschritt wird. Eine handlungsfähige EU braucht eine ausreichende Finanzierung. Deshalb wollen wir genuine Eigenmittel für die EU einführen, die zukünftig die Grundlage für die Finanzierung des EU-Haushalts bilden sollen.

Darüber hinaus muss der Stabilitäts- und Wachstumspakt weiterentwickelt werden – mit dem Ziel, Zukunftsinvestitionen für den klimagerechten Umbau unserer Wirtschaften und die Digitalisierung zu ermöglichen, realistische Regeln zum Schuldenabbau zu verankern und die Nachvollziehbarkeit und Transparenz des Paktes zu verbessern. Um Investitionen zu fördern und die wettbewerbsfähige Finanzierung europäischer Unternehmen sicherzustellen, werden wir den politischen Druck für eine weitere Vertiefung der Kapitalmarktunion und die Vollendung der Bankenunion mit angemessener Aufsicht erhöhen und einen funktionierenden europäischen Kapitalmarkt schaffen.

Eine resiliente Wirtschafts-, Innovations- und Industriepolitik

Unsere Wirtschafts-, Handels-, und Industriepolitik ist die Grundlage einer starken, attraktiven Europäischen Union. Eine große Stärke Europas liegt maßgeblich in der institutionellen Transparenz, politischen Stabilität und unserem regelbasierten System. Um zukunftsfähig im internationalen Wettbewerb zu sein, setzen wir auf eine strategische Industrie- und Wirtschaftspolitik entlang der nachhaltigen und digitalen Transformation.

Die jüngsten Krisen haben deutlich gemacht, dass wir uns bei vielen strategischen Produkten nicht so stark wie bislang auf den Außenhandel verlassen können, sei es bei medizinischen Masken, Computerchips und Halbleitern, Autobatterien, medizinischen Produkten und Geräten, Energie, Cybersicherheit und Raumfahrt. Bei entscheidenden Schlüsseltechnologien ist Europa bereits ins Hintertreffen geraten und hat seine Abhängigkeiten von wenigen Zulieferern zu spät erkannt.

Wenn wir in Europa Arbeitsplätze und Wohlstand mit einer aktiven Industriepolitik sichern, können wir in einer Welt unterschiedlicher Machtzentren bestehen. Eine aktive Industrie- und Innovationspolitik ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation und die Entwicklung von Zukunftstechnologien. Sie stärkt die Resilienz unserer Volkswirtschaft.

Für uns heißt das: Wir wollen das Verhältnis von Schutz und Offenheit für Handel und Investitionen neu ausrichten, um einseitige Abhängigkeiten und wirtschaftliche Verwundbarkeiten zu reduzieren. Wir wollen geschlossene Wertschöpfungsketten in Europa behalten und stärken, von Innovationen über Reallabore bis hin zur großindustriellen Produktion. Zeitgleich setzen wir uns für einen freien, gerechten und regelbasierten Welthandel ein. Es ist eine zentrale industrie- und wirtschaftspolitische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass nicht nur ein Investitionsschub in Zukunftstechnologien stattfindet, sondern auch durch Investitionen ihre breite kommerzielle und gesellschaftliche Anwendung sichergestellt sind.

Für die ökonomische Sicherheit brauchen wir eine störungsfreie Lieferung von kritischen Rohstoffen. Ohne Seltene Erden oder Lithium können heutzutage keine Chips und Batterien hergestellt werden. Das bedeutet, dass wir nicht nur unsere Importe diversifizieren müssen. Wir setzen uns daher für eine deutsche und europäische Rohstoffstrategie ein, die den Ausbau der Kreislaufwirtschaft sicherstellt, die wirtschaftliche Anreize für die eigene europäische Rohstoffförderung setzt und Partnerschaften mit ressourcenreichen Staaten weltweit stärkt.

Dabei setzen wir mit einem europäischen Lieferkettengesetz auf die Einhaltung von menschenrechts-, sozial- und umweltverträglichen Standards.

Autoritäre Staaten dürfen keine Kontrolle über unsere kritische Infrastruktur erlangen. Wir werden uns daher dafür einsetzen, dass Europa seine kritischen Infrastrukturen schützt. Voraussetzung hierfür ist eine ganzheitliche Analyse, die in eine Resilienzstrategie einfließt. Schließlich brauchen wir eine europaweit gültige Definition, was zur kritischen Infrastruktur zählt und wo die Kapitalbeteiligung und der Marktzugang nicht-europäischer Firmen geprüft werden müssen.

Im Kampf gegen die Klimakrise vorangehen

Unser Ziel in Europa, bis 2050 klimaneutral zu werden, hat durch Putins Krieg noch an Dringlichkeit gewonnen. Der Bezug fossiler Energien aus autoritären Staaten kann die Energieversorgung in Deutschland und Europa nicht nachhaltig sichern. Nur ein massiver und schneller Ausbau der Erneuerbaren Energien und entsprechender Speicherkapazitäten werden mittel- und langfristig unsere Energiesicherheit gewährleisten.

Die Montanunion zur gemeinsamen Verwaltung und Kontrolle der Kohle- und Stahlproduktion führte zur Gründung der EU. 70 Jahre später brauchen wir einen gemeinsamen Aufbruch für Erneuerbare Energien und Grünen Wasserstoff als Grundlage für ein neues europäisches Wirtschaftsmodell. Eine solche Transformation birgt gewaltige Chancen: Wenn wir bei uns in Europa die Technologien der Zukunft entwickeln und zur Marktreife führen, dann werden wir ein weltweiter Champion für Klima und Innovation.

Der European Green Deal ist das zentrale Vorhaben, um transformatives Wachstum zu ermöglichen, Technologieführerschaft zu erlangen und international Modellcharakter zu entfalten. Diese Strategie muss viel schneller umgesetzt werden. Dafür braucht es eine stärkere Verzahnung europäischer Energiemärkte und europäischer Netzinfrastruktur („Energieunion“). Es braucht zudem mehr gemeinsame europäische Innovationsprojekte. Hier hat der demokratische Ostseeraum ein erhebliches Potential. Die Kooperation im Bereich EE zwischen Deutschland, Polen den baltischen und den skandinavischen Staaten tragen dort zu einer dynamischen Entwicklung hin zu europäischer Energiesicherung- und –unabhängigkeit bei. Auch sicherheitspolitisch hat der Ostseeraum angesichts der Bedrohung durch Russland und mit dem geplanten NATO-Beitritt von Schweden und Finnland enorm an Bedeutung gewonnen.

Die sozial-ökologische Transformation ist der Prüfstein, ob es Europa gelingt, sich als attraktives Zentrum in der Welt zu etablieren. Das werden wir mit Engagement vorantreiben und damit auch den Anspruch Europas bekräftigen, erster klimaneutraler Kontinent zu werden. Es gilt zu zeigen, dass Klimaschutz und Wohlstand Hand in Hand gehen können. Wenn das gelingt, werden sich andere Länder daran orientieren und diesen Weg mitgehen. Erforderlich hierfür ist eine vertiefte Zusammenarbeit mit anderen Regionen und Ländern, um klimaneutrale Technologien und GreenTech-Märkte zu entwickeln und auszubauen. Diese große industrielle Transformation wird weltweit, vor allem auch in Europa, auf viele Jahre gute Arbeitsplätze sichern.

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stärken

Hybride Angriffe, etwa aus Russland, fordern die europäische Demokratie heraus. Gleichzeitig werden rechtsstaatliche und freiheitliche Grundprinzipien auch in Mitgliedstaaten der EUangegriffen. Nur eine in sich geschlossene, resiliente Europäische Union kann diesen Bedrohungen standhaft gegenüberstehen. Grundlage für die Geschlossenheit der Europäerinnen und Europäer muss ihre Einigkeit in Vielfalt ebenso wie ihr gemeinsames Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat sein.

Mit dem Momentum der Zeitenwende kann das europäische Wertefundament gefestigt werden. Die dazu geschaffenen Instrumente müssen jetzt beweisen, dass sie wirksam sind: Mitgliedstaaten, die systematisch gegen Grundwerte verstoßen, muss auf europäischer Ebene das Stimmrecht entzogen und die Auszahlung europäischer Gelder an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geknüpft werden. Wir wollen die Instrumente zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit weiter schärfen und so verhindern, dass einige Staaten die Grundwerte der Europäischen Union mit Füßen treten. Daher kommt auch der Stärkung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte des Europarats bezüglich einer konsequenten Umsetzung der Urteile in den Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle zu.

Sicherheitsinteressen Ost- und Mitteleuropas ernst nehmen

Weite Teile Mittel- und Osteuropas waren im 20. Jahrhunderts der Ort von großem Leid und Menschheitsverbrechen durch Totalitarismus und Imperialismus, welche ihren Ursprung vor allem in Deutschland und Russland hatten. Umso dankbarer sind wir für den Beitrag, den Menschen Mittel- und Osteuropas bei der Wiedererlangung von Frieden und Freiheit in ganz Europa geleistet haben. Ohne die friedlichen Revolutionen in Polen und Ungarn hätte es keine deutsche Wiedervereinigung gegeben. Heutzutage verbinden uns nicht nur eine lange und wechselseitige Geschichte, sondern auch tiefe gesellschaftliche, kulturelle, politische und wirtschaftliche Beziehungen.

Unsere Sicherheit und unser Wohlstand sind eng mit dem der Staaten Mittel- und Osteuropas verbunden. Das revisionistische und imperialistische Russland zählt große Teile Osteuropas zu seiner Einflusssphäre. Die territoriale Integrität und politische Souveränität vieler osteuropäischer Staaten hat Putin nie anerkannt. Dem haben wir bis zum Überfall auf die Ukraine nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Dabei erfahren die Gesellschaften Mittel- und Osteuropas schon seit zwei Jahrzehnten wachsende Aggression und Bedrohung durch ein expansionistisches Russland. Wir werden deshalb insbesondere innerhalb der EU und in der NATO die Abstimmung in sicherheitspolitischen Fragen mit unseren Partnern aus Mittel- und Osteuropa deutlich intensivieren und dabei deren Einschätzung der Sicherheitslagen ernst nehmen.

Als größter und wirtschaftlich stärkster EU-Mitgliedstaat kommt Deutschland bei der Neuformulierung der Osteuropa-Politik eine besondere Aufgabe zu. Deshalb werden wir gemeinsam mit unseren Partnern, aber insbesondere mit den EU-Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa eine gemeinsame europäische Ostpolitik der EU entwickeln, die den Sicherheitsinteressen und Entwicklungschancen aller Staaten Rechnung trägt, die der Bedrohung durch ein expansionistisches Russland ausgesetzt sind. Deutschland ist in der Verantwortung, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

EU-Reformen, Erweiterungsprozesse und Nachbarschaftspolitik vorantreiben

Im Konflikt mit Putins Russland hat die EU eines ihrer erfolgreichsten Instrumente wiederentdeckt: die Erweiterungspolitik. Sie war Motor für Frieden, Demokratie,Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand in Europa. Nun gilt es, diese Erfolgsgeschichte in Osteuropa und auf dem westlichen Balkan konsequent fortzuschreiben. Die Rückkehr des Krieges nach Europa hat uns vor Augen geführt, dass die Stabilisierung und Integration unserer östlichen und südöstlichen Nachbarn auch und vor allem in unserem Interesse liegen.

Nach jahrelanger Verzögerung wollen wir die Staaten des westlichen Balkans zügig in die Mitte unserer Gemeinschaft aufnehmen. Für unsere künftige Osteuropapolitik gilt es, so schnell wie möglich die Voraussetzungen für die Aufnahme der Ukraine, Moldaus und perspektivisch Georgiens zu schaffen und den Aufnahmeprozess in die EU abzusichern. Die Kopenhagener Kriterien bleiben dabei Grundvoraussetzung.

Die EU muss deutlich handlungsfähiger und souveräner werden, um auf den Beitritt neuer Mitglieder vorbereitet zu sein. Institutionelle Reformen der EU sind kein Nebenschauplatz, sondern eine essenzielle Voraussetzung für eine handlungsfähige und aufnahmefähige EU. Die Sanktionen gegen Russland zeigen, dass die EU stark und schnell handeln kann.

Damit die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU nachhaltig ist, wollen wir die Entscheidungsstrukturen weg vom Einstimmigkeitsprinzip bringen. Das macht die EU schlagfertiger, handlungsschneller und demokratischer. Wenn ein souveränes Europa unser Anspruch ist, dann sind Mehrheitsentscheidungen ein Gewinn und kein Verlust an Souveränität.

Nicht zuletzt aufgrund seiner Größe und wirtschaftlichen Stärke erwarten unsere europäischen Partner von Deutschland, seiner Verantwortung gerecht zu werden und eine Führungsrolle einzunehmen. Für uns heißt Führung, unsere Partner einzubinden. Wir wollen Impulse liefern und Orientierung geben, setzen aber zugleich auf Vermittlung und Ausgleich von Interessen.

Zusammen haben wir jetzt und in den kommenden Jahren allerbeste Chancen, das 21. Jahrhundert in unserem und im europäischen Sinne mitzuprägen und mitzugestalten. Dafür wollen wir die Handlungsfähigkeit und die Attraktivität der Europäischen Union als globale Partnerin strategisch ausbauen.

4. Partnerschaften strategisch ausbauen

Ein attraktives Zentrum Europa kann entscheidend dazu beitragen, auf globale Herausforderungen globale Antworten zu geben. Eine regelbasierte internationale Ordnung ist dafür die beste Grundlage. Daher ist es im strategischen Interesse Europas, auf funktionierende multilaterale Institutionen und internationale Abkommen hinzuwirken. Dafür sollte Europa geopolitischer denken und handeln – und klare Leitlinien im Umgang mit anderen Machtzentren definieren.

Gleichzeitig ist es wichtig, Beziehungen zu aufstrebenden Staaten und Regionen, die berechtigterweise ihr Interesse an der Mitgestaltung der globalen Ordnung äußern, nachhaltig auszubauen. Gerade in Konkurrenz zu Machtzentren wie China und Russland, die andere Werte und Ziele verfolgen, ist es wichtig, dass Europa Kooperationsangebote macht, die attraktiv und nachhaltig sind. Das gilt insbesondere für Staaten, die uns politisch und gesellschaftlich nahestehen.

Transatlantische Beziehungen stärken

Das transatlantische Verhältnis ist zentral für die europäischen und deutschen Außenbeziehungen. Die gemeinsame Mitgliedschaft in der NATO, den Vereinten Nationen, der G7 und der G20 sowie das geteilte Bekenntnis zu demokratischen und freiheitlichen Werten ermöglichen es, strategische Ziele gemeinsam in Bereichen wie zum Beispiel der europäischen Sicherheit, Klimapolitik und des Multilateralismus zu verfolgen.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt die transatlantischen Gemeinsamkeiten so stark hervortreten wie lange nicht. Bei der Unterstützung der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland schreiten Europa und die USA im engen Schulterschluss voran, die USA sind Europas wichtigster Sicherheitspartner weltweit.

Starke transatlantische Beziehungen sind keine Selbstverständlichkeit. Die kommenden Präsidentschaftswahlen werden klären, ob die unter Präsident Biden verbesserten Beziehungen von Dauer sind. Zudem wenden sich die USA strategisch und sicherheitspolitisch zunehmend dem indopazifischen Raum zu.

Die Gefahr protektionistischer Maßnahmen ist in den USA zuletzt gestiegen. Die Entwicklung und Produktion von Schlüsseltechnologien werden stark subventioniert. Amerikanische Firmen werden bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und Zuschüsse bevorzugt. Wir setzen uns daher dafür ein, dass Europa alles daransetzt, einen Handelsstreit und Subventionswettlauf mit den USA zu vermeiden und stattdessen bestehende Handelshemmnisse abzubauen. Der Handels- und Technologierat (TTC) ist hierfür das richtige Forum. Im Falle klar WTO-widriger Maßnahmen muss die EU reagieren.

Gleichzeitig sollte Europa danach streben, mittels einer Investitions- und Innovationsoffensive in Zukunftstechnologien (Greentech, 6G in der Medizintechnik usw.) an wirtschaftlicher Kraft zu gewinnen. Ein wirtschaftlich starkes und unabhängiges Europa ist ein attraktiver Partner für die USA, um innovations-, wirtschafts- und handelspolitische Kooperationen einzugehen.

Um die transatlantischen Beziehungen zu einer echten Führungs- und Verantwortungspartnerschaft weiterzuentwickeln, wird Deutschland in Europa mehr Verantwortung übernehmen. Wir wollen, dass Europa verteidigungspolitisch stärker auf eigenen Füßen steht und einen größeren Anteil der Aufgaben übernimmt und eigene Fähigkeiten fortentwickelt. Mit Blick auf die europäische Säule der NATO sowie dieKoordinierung und Förderung von europäischen Rüstungsvorhaben sollte das Ziel sein, dass Europäerinnen und Europäer im Rahmen der NATO-EU-Kooperation ihre Sicherheit zunehmend auch stärker selbst gewährleisten können.

Das Verhältnis zu China neu bewerten

Die Zeitenwende in der Außen- und Sicherheitspolitik hat auch zu einer kritischeren Bewertung Chinas geführt. Spätestens mit Chinas ausbleibender Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine müssen wir feststellen, dass China unter Xi Jinping eine Globalmacht ist, die Weltpolitik in ihrem Sinne zu formen gedenkt. Die Ergebnisse des 20. Parteitags der KPCh unterstreichen das nachdrücklich.

Nach außen tritt China immer selbstbewusster und zuweilen aggressiver auf, etwa indem es seine hegemonialen Ansprüche in seiner Nachbarschaft immer wieder deutlich gemacht hat. Repressive Entwicklungen im Inland, etwa die massive Einschränkung von Freiheitsrechten in Hongkong oder die dokumentierten Menschenrechtsverletzungen gegen die Uiguren sind besorgniserregend.

Die Charakterisierung Chinas von der EU-Kommission als „Partner-Wettbewerber- Systemrivale“ gibt die Komplexität der Beziehungen zu China wieder. Die Volksrepublik ist inzwischen zu einem veritablen geopolitischen Akteur aufgestiegen, ohne dessen Mitwirkung globale Herausforderungen wie der Klimawandel, die Bekämpfung von Pandemien und Nahrungsmittelkrisen sowie die Rüstungskontrolle und die Nichtverbreitung von Atomwaffen nicht zu lösen sind. Zugleich sind die chinesischen und europäischen Wirtschaften über ihre internationalen Wertschöpfungsketten zum gegenseitigen Vorteil eng miteinander verflochten. Westliche Firmen befinden sich im Wettbewerb mit chinesischen Firmen um Marktanteile und Innovationen.

Daher ist ein Decoupling nicht die richtige Antwort. Stattdessen brauchen wir eine europäische Resilienzstrategie, die Risiken verringert (De-Risking), auch mit Blick auf den Schutz kritischer Infrastruktur in Europa. Zudem geht es um die Diversifizierung der Wirtschaftsbeziehungen, um wirtschaftliche Abhängigkeiten von China zu minimieren, beispielsweise bei der Rohstoff-Beschaffung nach dem Prinzip „China plus eins“, bei dem wir neben China immer auch einen alternativen Lieferanten haben. Wir müssen Anreize für deutsche Unternehmen setzen, ihre Wertschöpfungsketten und Absatzmärkte zu diversifizieren. Dazu gehört auch, dass wir über ein europäisches Lieferkettengesetz den Import von Produkten aus Zwangsarbeit untersagen.

Schließlich hat sich China unter Xi Jinping zu einem Systemrivalen gewandelt. Mit seinem Streben nach wirtschaftlicher und militärischer Dominanz im indopazifischen Raum, der Ausweitung seines politischen und wirtschaftlichen Einflusses im Globalen Süden und seiner Kritik an den Regeln und Grundsätzen der internationalen Ordnung arbeitet China an einem Umbau des internationalen Systems zu seinen Gunsten.

Der Aufstieg Chinas bedarf einer gemeinsamen europäischen Chinapolitik. Europa darf sich nicht von Peking auseinanderdividieren lassen, sondern muss seine geopolitische Macht nutzen und mit einer Stimme für Europas Interessen und Werte sprechen. Die Lehre aus Russlands Angriffskrieg muss ebenso sein, dass wir mit Partnern weltweit enger zusammenarbeiten. Im indopazifischen Raum fühlen sich viele unserer Partner von China bedroht. Diese Sorgen und Ängste müssen wir ernst nehmen und in unserer Politik gegenüber China berücksichtigen.

Der Dialog mit China sollte gesucht und robust und konstruktiv-kritisch geführt werden. Menschenrechtsverstöße oder Protektionismus gehören genauso angesprochen wie unser Bekenntnis zur Ein-China-Politik und zu der Überzeugung, dass die Taiwan-Frage nur einvernehmlich in einem friedlichen Verfahren geklärt werden kann.

Sicherheit in Europa vor Russland organisieren

Einige Länder Europas und vor allem Deutschland haben zu lange ausschließlich auf eine kooperative Zukunft mit Russland gesetzt und dabei versäumt, Szenarien für einen anderen Umgang mit Russland zu entwickeln. Dies wäre nach der russischen Invasion in Georgien, spätestens aber nach der Annexion der Krim 2014 dringend erforderlich gewesen.

Deutschland und Russland verbindet eine besondere Geschichte. Aus dieser Geschichte haben wir die Verantwortung abgeleitet, das Verbindende in den Mittelpunkt unserer Politik zu rücken. Dadurch wurde der Blick für das Trennende getrübt, auch als Putins Regime sich immer weiter von Europa entfernt hat. Entsprechend hat Deutschland nicht ausreichend auf die autokratischen Entwicklungen in Russland und dessen immer aggressiveres Auftreten in der Außenpolitik reagiert. Das zunehmend mangelnde Interesse Russlands an gemeinsamen Institutionen wie dem Europarat oder der OSZE war ein weiteres Anzeichen der Entfremdung.

Das Festhalten an der Annahme, mit immer stärkeren wirtschaftlichen Verflechtungen langfristig zu einer Demokratisierung und Stabilisierung Russlands beizutragen, war ein Fehler. Stattdessen hat Deutschland sich energiepolitisch in eine einseitige Abhängigkeit von Russland begeben, die die sicherheitspolitische Dimension seiner Energieversorgung verkannt hat. Auch andere Länder in Ost-, Mittel-, und Südeuropa haben ihre Energieversorgung nicht ausreichend diversifiziert. Eine europäische Resilienzstrategie muss verhindern, dass solch einseitige Abhängigkeiten in Zukunft erneut entstehen können.

Solange das Putin-Regime sein imperialistisches Ziel der Eroberung und Unterdrückung souveräner Staaten verfolgt, kann es keine Normalisierung des Verhältnisses zu Russland geben. Langfristig halten wir am Ziel einer gemeinsamen Sicherheitsordnung in Europa fest. Das wird erst dann funktionieren, wenn auch Russland wieder ein Interesse daran hat und Grundprinzipien der regelbasierten Ordnung anerkennt. Klar ist: Solange sich in Russland nichts fundamental ändert, wird die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden müssen.

Globaler Süden als gleichberechtigter Partner

In einer multipolaren Weltordnung können Regierungen und Gesellschaften die Spielräume einer brüchigen internationalen Ordnung zu ihrem Vorteil nutzen. Es gibt Alternativen zum westlichen Entwicklungsmodell. Vor allem Länder, die zu den Hauptempfängern von Entwicklungsleistungen der OECD-Länder gehören, nutzen ihre Möglichkeiten, zwischen unterschiedlichen Angeboten zu wählen. Im Schatten dieser Entwicklungen haben autoritäre Regime an Stärke gewinnen können. Viele Staaten im Globalen Süden haben sich von den Verheißungen liberaler Demokratien abgewendet, weil sie ihre Erwartungen nicht erfüllt sehen.

Darauf muss Europa reagieren und strategisch in Partnerschaften mit Ländern des Globalen Südens investieren. Europa ist für viele Staaten der Partner der ersten Wahl – allerdings haben wir es in den letzten Jahren versäumt, dieses Kapital auszuschöpfen und attraktive Kooperationsangebote zu machen, im Gegensatz zu China oder auch Russland. Ein wichtigerSchritt ist die Reform multilateraler Organisationen und Regeln, um dem Wunsch nach besserer Repräsentation des Globalen Südens nachzukommen.

Für einen Multilateralismus ohne Doppelstandards

Wir wollen partnerschaftliche Zusammenarbeit als Win-Win-Modell ausbauen und damit einen Multilateralismus ohne Doppelstandards etablieren. Dafür ist die Europäische Union als ein globales Zentrum in der Welt von großer Wichtigkeit: Europa kann mit attraktiven, fairen Angeboten viele Länder als Mitstreiter für gemeinsame Projekte gewinnen.

Es ist Zeit für eine neue internationale Politik, die zukunftsfähig, krisenfest und sozial gerecht ist. Ungleiche und neoliberale Machtstrukturen in den Nord-Süd-Beziehungen wollen wir aufbrechen, Menschenrechte stärken, Demokratie und Wohlstand fördern.

Gradmesser für die Zusammenarbeit mit globalen Partnern sind die von der Weltgemeinschaft gemeinsam verabschiedeten 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. In diesen Zielen sind viele Kernüberzeugungen sozialdemokratischer Politik enthalten, und sie sind damit für uns vielversprechende und nachhaltige Anknüpfungspunkte für bilaterale und multilaterale Projekte.

Dialog auch mit schwierigen Partnern

Dabei dürfen wir den Dialog und die Kooperation mit Staaten nicht ausschließen, die nicht unsere Werteordnung teilen. Wenn mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in autokratisch regierten Ländern lebt, dann kann sich eine Partnerschaftspolitik nicht nur auf Demokratien beschränken. Zentral für mehr globale Sicherheit sind beispielsweise die internationale Rüstungskontrolle, die Nichtverbreitung nuklearer Waffen oder der gemeinsame Kampf gegen die Klimakrise. Dafür ist es wichtig, Gesprächskanäle offen zu halten – auch mit schwierigen Partnern. Deshalb wird es unterschiedliche Sphären der Kooperation geben, die auch nicht- demokratisch geführte Staaten mit einbeziehen.

Dies setzt im Rahmen einer werteorientierten Interessenpolitik die Identifikation von gemeinsamen Interessen voraus. Es sind jedes Mal schwierige Abwägungen notwendig, wie weit eine Kooperation gehen kann und an welchem Punkt unsere Grundsätze und Werte eine solche Zusammenarbeit verhindern.

Nichtsdestotrotz gehört es zu unserem Selbstverständnis als sozialdemokratische Partei, dass wir mit progressiven und demokratischen Kräften weltweit zusammenarbeiten. Dem Aufstieg von autoritären Kräften weltweit muss die verstärkte Solidarität unter Demokratinnen und Demokraten entgegengesetzt werden. Dazu gehören auch die Unterstützung und der Schutz demokratischer Zivilgesellschaften, die immer stärker bedroht sind.

Gemeinsame Antworten auf globale Herausforderungen

Die Herausforderungen der globalisierten Welt sind vielschichtig, kein Staat kann sie allein meistern:

Der Kampf gegen die Klimakrise braucht Partnerschaften bei der Entwicklung und Bereitstellung von Klimatechnologien. Mit seiner Initiative, einen Klimaclub mit Staaten aus dem Globalen Norden und Süden zu gründen, zeigt Bundeskanzler Olaf Scholz Führung und schafft ein neues Forum für ambitionierte und koordinierte globale Klimaschutzpolitik.

Darüber hinaus wollen wir gemeinsam mit Ländern des Globalen Südens Strategien zur Emissionsminderung und Anpassung an den Klimawandel entwickeln, etwa durch neue Energie- und Klimapartnerschaften. Diese Partnerschaften nutzen dem Ausbau der Energieversorgung und der Wirtschaft vor Ort. Zudem unterstützen sie den Umbau der europäischen Energieversorgung mit Solar- und Windstrom sowie Grünem Wasserstoff. Darüber hinaus werden wir uns dafür einsetzen, dass Deutschland und Europa die Länder, die am stärksten mit Verlusten und Schäden durch den Klimawandel zu kämpfen haben, nicht alleinlassen. Wir wollen den globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken weiter ausbauen.

Der globale Kampf gegen Armut und Hunger ist präventive Friedenspolitik. Daher ist eine solide Finanzierung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen eine wichtige Solidarleistung des Globalen Nordens. Darüber hinaus kommt diplomatischen und entwicklungspolitischen Bemühungen hinsichtlich wachsender Verteilungskämpfe aufgrund der Klimakrise oder kriegerischen Auseinandersetzungen, die den Welthandel mit Lebensmitteln beeinträchtigen, eine existenzielle Bedeutung zu.

Der Abschluss von weitreichenden Handels- und Investitionsabkommen (bspw. EU-Mercosur- Abkommen), die auch die sozialen Rechte stützen, Umwelt und Klima schützen und langfristige Perspektiven für Wachstum und Wohlstand für alle Vertragsparteien schaffen, wäre ein wichtiger Meilenstein, um robuste Allianzen und Partnerschaften zu etablieren. Im Angesicht wachsender Handelsstreitigkeiten machen wir uns zudem für eine Reform der Welthandelsorganisation (WTO) stark. Europas Wohlstand, aber auch die Entwicklungsperspektiven vieler Staaten des Globalen Südens hängen stark von einem regelbasierten, diskriminierungsfreien globalen Handelsregime ab.

Das Vertrauen des Globalen Südens in die Solidarität der Weltgemeinschaft wurde in den vergangenen Jahren durch eine Abschottungspolitik bei der Bekämpfung der Corona- Pandemie beschädigt. Im Rahmen einer globalen Gesundheitspolitik müssen künftig schnellere, grenzüberschreitende Unterstützung und unbürokratische internationale Kooperationen ermöglicht werden – zum Beispiel durch den schnelleren dezentralen Aufbau von Produktionsstätten für Impfstoffe. Die Schaltzentrale bei einer solchen Gesundheitskrise sollte eine breit getragene und breit unterstützte Weltgesundheitsorganisation sein.

Auch der Themenbereich Flucht und Migration wurde von Europa bislang wenig partnerschaftlich behandelt – was dem Vertrauen in unsere Haltung zu Menschenrechten schadet. Das Sterben und das Leiden an den europäischen Außengrenzen muss ein Ende haben. Europa braucht eine wertebasierte Flüchtlings- und eine kooperative Migrationspolitik. Dazu wollen wir Migrationspartnerschaften ausbauen und regelbasierte Migration nach Europa, etwa für Studierende, Fachkräfte oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, fördern. Zugleich wollen wir gemeinsam mit Partnerländern die zirkuläre Migration ausbauen und attraktiver gestalten, um Entwicklungspotenziale von Migration stärker zu nutzen.

Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, hohe Energie- und Lebensmittelpreise gekoppelt mit einem deutlichen Anstieg der Zinsen haben die Schuldentragfähigkeit vieler Länder des Globalen Südens verschlechtert und ihre politische Handlungsfähigkeit beeinträchtigt. Vielen Staaten droht eine Verschuldungskrise, die weitere internationale Instabilitäten auslösen könnte. Um dem zu begegnen, sollte Deutschland gemeinsam mit anderen Gläubigern für eine solidarische Lösung eintreten (z. B. einen anteiligen Schuldenerlass). Zudem brauchen wir eine Neuausrichtung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF). Sie stammen aus einer anderen Zeit und sind für die aktuellen Herausforderungen nicht gut aufgestellt. Es gilt, Strukturen an das 21. Jahrhundert anzupassen und öffentliche wie auch private Finanzmittelzu mobilisieren, um wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungsprozesse vor allem in schwächeren Ländern zu finanzieren. Diese Reform wollen wir in Europa gemeinsam mit Partnerländern aus dem Globalen Süden angehen.

Starke Vereinte Nationen für eine handlungsfähige Weltgemeinschaft

Wir wollen unser Engagement intensivieren, damit die Vereinten Nationen (VN) an Stärke zurückgewinnen, wo sie sie verloren haben, und ausbauen, wo die Weltgemeinschaft internationale Regeln und internationales Handeln benötigt.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat zum wiederholten Male eine Schwachstelle des VN-Sicherheitsrats offenbart: Seine Struktur reflektiert noch die Nachkriegsordnung einer bipolaren Welt mit Kolonialmächten. Das Veto eines ständigen Mitglieds verhindert jede Resolution, die friedensstiftende Maßnahmen einleiten würde. So wie der Sicherheitsrat derzeit arbeitet, kann er seiner Hauptaufgabe, Friedenssicherung und Friedensschaffung, nicht gerecht werden.

Darüber hinaus müssen wir das System der internationalen Strafgerichtsbarkeit stärken. Jeder, der sich eines Kriegsverbrechens schuldig macht, soll befürchten müssen, hierfür auch belangt zu werden. Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen soll es in Zukunft nicht mehr geben.

Eine Welt ohne Atomwaffen bleibt das Ziel sozialdemokratischer Politik. Dafür unterstützen wir dringend notwendige konkrete Fortschritte zur nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle, zuvorderst im Rahmen der Vereinten Nationen. Wir unterstützen überdies Initiativen zum Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen (no first use). Des Weiteren setzen wir uns für eine Beibehaltung, Erfüllung und Verlängerung des New-START-Vertrages zur Begrenzung und Verifikation von strategischen Nuklearwaffen ein.

Die deutsche Bewerbung um einen Sitz im Sicherheitsrat 2027 wollen wir zum Anlass nehmen, Abrüstungsinitiativen auf globaler Ebene wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Darüber hinaus werden wir die Diskussion um eine Reform des VN-Sicherheitsrats neu aufrollen, auch wenn eine Reform angesichts der gegenwärtigen geopolitischen Spannungen schwierig ist. Wir unterstützen Initiativen, die einen zeitgemäßen institutionellen Umbau des wichtigsten VN-Organs im Rahmen einer Charta-Änderung oder einer Überprüfungskonferenz zum Ziel haben, etwa die G4-Initiative Brasiliens. Wir wollen eine angemessene Repräsentation aller Weltregionen in den Institutionen internationaler Organisationen und einen handlungsfähigen Sicherheitsrat der VN. Wir werden pragmatische Vorschläge wie eine Begrenzung des Vetos unter Einbindung der Generalversammlung weiterverfolgen.

Allein mehr Geld wird nicht zum Erfolg führen. Deutschland wird auch personell stärker gefordert sein – bei Friedensmissionen, zivilen Projekten und in VN-Polizeimissionen. Wir haben gut ausgebildetes Personal, das beispielsweise bei VN-Peacekeeping-Missionen entscheidend zum Gelingen beitragen kann. Dafür wollen wir eine notwendige Bund-Länder- Vereinbarung auf den Weg bringen. Wir wissen, dass eine Reform des VN-Systems ein schwieriges Unterfangen ist. Deshalb wollen wir bestehende multilaterale Foren und Plattformen (G7, G20, OECD) nutzen und weiterentwickeln. Darüber hinaus gehen wir anlassbezogen mit zusätzlichen Initiativen wie etwa dem Klimaclub voran, um dem Kampf gegen die Klimakrise eine neue Dynamik zu verpassen.

5. Schlusswort

Die internationale Ordnung ist im Umbruch. Deswegen müssen wir unsere Außen- und Sicherheitspolitik an die neuen Bedingungen anpassen und uns den neuen Herausforderungen stellen. Die globalen Krisen sind zu komplex, als dass ein einziges Land sie alleine lösen kann. Das geht nur gemeinsam und in Kooperation mit anderen Staaten. Unser Ziel ist es, die regelbasierte internationale Ordnung zu stärken und weiterzuentwickeln. Basierend auf unserer internationalistischen Tradition wollen wir mit einem starken Europa in Partnerschaft mit anderen Staaten und Regionen Lösungen für die globalen Herausforderungen finden. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik steht dafür, dass Menschen in Sicherheit, Frieden und Wohlstand leben können.

Als Partei können wir den Weg dafür ebnen. Wir werden die regionalen und globalen Netzwerke unserer sozialdemokratischen Parteienfamilie nutzen. Mit der Unterstützung progressiver Organisationen und im Dialog mit unseren Schwesterparteien und der Gewerkschaftsbewegung wollen wir gemeinsame Initiativen entwickeln, um die Welt friedlicher, gerechter, feministischer und zukunftssicherer zu machen.

Quelle: SPD Bundestagsfraktion

Über Autor kein 3279 Artikel
Hier finden Sie viele Texte, die unsere Redaktion für Sie ausgewählt hat. Manche Autoren genießen die Freiheit, ohne Nennung ihres eigenen Namens Debatten anzustoßen.