In Österreich ist es, von Wien über Salzburg, Graz und Linz, längst durch, das aufregende anderthalbstündige Kammerspiel „Jedermann (stirbt)“. Der mehrfach preisgekrönte österreichische Jung-Dramatiker Ferdinand Schmalz (35) setzte das Wörtchen „stirbt“ in Klammern und sich schon damit von der Vorgabe Hugo von Hofmannsthal ab. Eigentlich weiß jedes Kind, dass es beim „Jedermann“ um das Sterben eines reichen Hedonisten geht, für den der ihn am Schlafittchen packende Gevatter Tod keine Ausnahme macht.
Für Berlin wurde es Zeit für Schmalz` Neo-“Jedermann“. Schon deshalb, weil hier am 1. Dezember 1911 Hofmannsthals Salzburger Festival-Dauerbrenner seine Uraufführung erlebte. Vor Betreten der schicken Kammerspiele des feinen Berliner Deutschen Theaters fällt der Blick auf das Denkmal für Groß-Regisseur Max Reinhardt, der den weihevollen Text für den Domplatz der Salzachstadt für immer und ewig – heuer denkt man nicht nur seinethalben 100 Jahre zurück – festzurrte.
Das DT schlug dem georgischen Regisseur Data Tavadze das Schmalz-Stück vor. Mit „Jedermann“ verbindet sich für Tavadze eine Theatertradition. Schmalz verweise mit seiner „Überschreibung“ des Mysterienspiels auf eine „radikale Endlichkeit“. Und: „Noch vor Stückbeginn“ läute „der Titel das Ende ein“; deute er doch „auf die Sackgasse einer Kultur“. Mit dem Verweis auf einen Mythos erzähle Schmalz` Stück etwas über den Status Quo der Gesellschaft von heute.
In seiner „Überschreibung“ der alten Fabel reflektiere, so Tavadze, Schmalz das Genre des „morality play“. Das Moralische sei heute in der Krise. Heute gehe es um mehr: Glaube, Wirtschaft, Klima … Um eine Dekonstruktion des Materials von Hofmannsthal ging es Schmalz. Und er zerlegt die Fabel in ihre Details. Wir hätten es darin mit der schreibend aufgezeigten „Krise der Narration“ zu tun, mit der „Unmöglichkeit, den Jedermann-Stoff in seiner bisherigen Form zu erzählen“.
Aber wie schaut die neue Möglichkeit aus? Poetisch in jeder Hinsicht. Bravourös gesprochen und bildhaft schön performt. Entstaubt vom Streusand der Gefühligkeit. Das Ensemble ist auf fünf Spieler geschrumpft. Zwei junge virile Kerle rangeln sich auf Janja Valjarevics weißer Sandkampfbahn, begrünt von ein paar Zimmerpflanzen für die Garten-Stilisierung, redlich ab: Paul Grill als „dicker Vetter“ und „(teuflisch) gute Gesellschaft“, Niklas Wetzel als dünner Vetter, vor allem aber als „nachbar gott“, alles bewusst klein geschrieben. Auch „jedermanns frau“ und „jedermanns mutter“ (Lorena Handschin), „buhlschaft tod“, „mammon“, „gute werke“ (Natali Seelig). Erst recht „jedermann“ selbst: der kaum als reicher Pinkel erkennbare, eher der Auszehrung nahe bravouröse Jörg Pose. Was die Darsteller in höchst artifiziellem Duktus über die Lippen und in die Mikros bringen, untermalt von einer bis zu kümmerlichem Gegickse im background präsenten Dreier-Band, verweht rasch. Ist generell schwer zu kapieren, ringelt sich und sträubt sich, glättet sich und greift mit jedem neuen auf die Schippe genommenen Motto (schlecht lesbar auf den drei roten Leuchtschriftzeilen) alles an, was heute zum Tode führt. Unweigerlich. So langsam stirbt nicht Jedermann.
„Ein Leben geht so furchtbar schnell vorbei…: Ein gebrochenes Herz, ein Sturz aus letzter Etage, ein aufgehetzter Bluthund, … ein trügerisches Sicherheitsgeländer, und schon ist es vorbei. In Wahrheit sind wir lebend tot. Von Anfang an.“ Die Aufschrift, ein echter Schmalz-Brocken aus dem Topf der „Überschreibungs“-Dichtung mit Tiflis-Touch, liest schwarz auf weißer Wand, wer nach der Premiere noch auf ein Glas „Berliner Kindl“ die lebendig parlierende Theaterbar besucht.