Wer erinnert sich noch an K.I.T.T.? In der erfolgreichen US-Fernsehserie „Knight Rider“ aus den 80er Jahren kämpfte das sprechende und selbstdenkende Superauto zusammen mit David Hasselhoff alias Michael Knight für Recht und Gerechtigkeit. Immer wieder rettete der sprechende Pontiac Firebird Trans AM seinem Fahrer den Hintern und hatte dabei stets einen passenden, witzigen oder manchmal ziemlich altklugen Spruch parat. In der fiktionalen Filmwelt funktioniert so etwa problemlos. Im wahren Leben sieht es etwas anders aus. Da schweigt die Blechkarosse im Großen und Ganzen (noch), fällt höchstens einmal mit quietschenden Reifen auf. Doch eine derart „intelligente Fahrzeugkommunikation“ ist keineswegs mehr ferne Zukunftsvision, vielleicht gar kombiniert mit der einen oder anderen Prise Lebensweisheit? Vertraut der moderne Mensch heutzutage doch mehr und mehr seinem Smartphone, das den besten Weg, den idealen Partner und sogar den eigenen Pulsschlag kennt.
Für Wunderlich, einen etwas planlos durchs Leben treibenden, sagen wir ein bisschen langweiligen Mann in den Dreißigern wird dieses Fantasieprodukt Wirklichkeit. Und noch ein wenig mehr. War ihm sein Handy bisher „Wecker und Pizzaservice, Arbeitsvermittler und Liebesbote – ein Kompass durch sein seltsames Wunderlich-Leben“, scheint es ab sofort das Zuhause einer anonymen, unheimlichen Intelligenz zu sein, die alles über ihn, aber auch die Menschen, denen er begegnet, weiß. Zudem scheint es „gerade der einzige Freund zu sein, den er hatte.“ Denn Wunderlich wird von seiner Freundin Marie verlassen. „'Es geht nicht', hatte sie gesagt. 'Wir können nicht zusammen sein. (…) Mach's gut, Wunderlich', hatte sie gesagt. 'Ich wünsch dir Glück.' Dann war sie gegangen. (…) Sein größtes Glück hatte sich durch einen einzigen Satz in sein größtes Unglück verwandelt und ihm Glück gewünscht. Das ergab überhaupt keinen Sinn. 'Marie, das ergibt überhaupt keinen Sinn', sagte er in die Nacht. 'Schnauze!', antwortete die Nacht aus einem geöffneten Fenster im Haus gegenüber. Sonst wusste sie nichts zu sagen…“ Wunderlich droht in einer riesengroßen Wolke Selbstzweifel und -mitleid zu versinken.
Da tritt „Anonym“ auf die Bildfläche oder besser: auf das Display seines Handys. „Guck nach vorn.“, schreibt dieses ihm per SMS. Fortan wartet es mit jeder Menge Insiderinformationen auf oder schaut sogar in die Zukunft, nicht nur in seine, sondern in die aller Personen, die Wunderlich bald treffen wird. „… ein Fremder, der mehr über ihn wusste als jeder andere? Der sogar seine Gedanken lesen konnte? Das widersprach jeder Logik, und Dinge, die der Logik widersprachen, waren ihm suspekt.“ Auch wenn er sich anfänglich weigert und vehement versucht, sich nicht von seinem Telefon lenken zu lassen, so wird jenes doch mehr und mehr zu seinem Motivator, seiner unbewussten Steuerungseinheit.
Wie durch Zauberhand – oder von „Anonym“ arrangiert – beginnt für den Protagonisten eine im wahrsten Sinne seines Namens wunderliche Reise. Züge halten an Bahnhöfen, die schon lange stillgelegt wurden, Bäume sondern ein seltsames, magisches Blauharz ab und mitunter recht eigentümliche Personen streifen seinen Weg. Wunderlich trifft Finke, der ihn in sein „Schloss“ einlädt und ebenso mysteriös verschwindet wie die junge Toni auftaucht. Bei ersterem findet er einen Hut, der ihn fortan begleid/ten wird. Sein nunmehr behütetes Eigenleben scheint ihn Dinge sehen zu lassen, die andere nicht wahrnehmen, so wie zum Beispiel Lennon Felljacke, den mysteriösen Radfahrer, der von Zeit zu Zeit seine Bahnen kreuzt. Immer wieder trifft er auf andere verlorene Seelen, verirrt sich im Wald und zieht sich nicht nur eine Schramme zu. Lädiert aber irgendwie befreit und zunehmend losgelöst schlägt er sich nach Norden, bis zum Meer durch…
Was ist ein glückliches Leben und wie lebt man es? Gibt es Vorherbestimmungen? Hat alles im Leben einen Sinn? Können Träume wahr werden oder bleiben sie auf ewig in uns eingeschlossene Illusionen? Kann man über seinen eigene Schatten springen? Dies sind nur einige Fragen, die Marion Brasch in ihrem Buch stellt und ihren Protagonisten auf wunderlich-wundervolle Weise nach Antworten suchen lässt. Verpackt in einen scheinbar leichten, unbeschwerten, gut und flüssig lesbaren Text, der trotzdem niemals trivial oder seicht daherkommt, offenbart sich zwischen den Zeilen eine tieferliegende, schnörkellose Lebensphilosophie. Die Autorin versteht es nahezu brillant eine gewisse Spannung und Erwartungshaltung aufzubauen, die sie dennoch niemals klischeehaft bedient.
„Wunderlich fährt nach Norden“ entpuppt sich als wunderschöner, mitunter verwunschener Text, der trotz seiner verlorenen Seelen und derer scheinbar kleinen, engen und begrenzten (Lebens-)Wege eine rundweg weite, befreiende und positive Grundstimmung ausstrahlt. Ein Buch, das Ruhe atmet, ohne langweilig zu sein; das aufrührt, ohne spektakulär genannt zu werden. Ein Roman, den man am besten auf einer grünen Sommerwiese liest. Der nachfolgend zitierte Auszug gibt meines Erachtens den Duktus perfekt wieder: „Irgendwann fing es an zu regnen. Es war ein leichter, feiner Nieselregen, der auf das Verandadach fiel und sich anhörte wie ferner Applaus. Wunderlich schloss die Augen und lauschte. Je mehr er sich auf das Geräusch konzentrierte, desto stärker wurde es, schwoll an, breitete sich in seinem Kopf aus, und irgendwann durchschwamm es seinen ganzen Körper, der leicht zu vibrieren begann.“
Fazit: Ein Buch, das durchaus das Zeug zum Bestseller hat, ohne es damit in eine bestimmte Ecke zu drängen. Kongruiert doch jene Charge nur selten mit wirklich guter Literatur. Doch dieser Roman vereint zwei entscheidende „Bewertungskriterien“ raffiniert und subtil: eine flüssig zu lesende, positive Leichtigkeit und gleichzeitig eine hintergründige, tiefgehende und fein nuancierte philosophische Betrachtungsweise des Lebens an sich. Danke dafür!
Marion Brasch
Wunderlich fährt nach Norden
S. Fischer Verlag (Juli 2014)
288 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100013689
ISBN-13: 978-3100013682
Preis: 19,99 EUR
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