Lutz Rathenows Buchdebüt im neuen Berlin Verlag
Lutz Rathenow mußte nicht überzeichnen, als er in einem Gedicht schrieb:
„…Dem Problemkind mache er,
treu vorm Frühstück, einen Hitlergruß,
dann ist der Junge lieb, erledigt alle Wege.
Langsam schläft dein rechter Arm dir ein.“
Nachzulesen in dem Gedichtband „VERIRRTE STERNE oder WENN ALLES WIEDER MAL GANZ ANDERS KOMMT“. Der erschien im Merlin Verlag – soeben in seiner zweiten Auflage.
Im Erzählband „Sisyphos“ werden potentielle und unvermittelt ausbrechende Gewalt ebenfalls thematisiert. In der Geschichte „Drei Leute und einer freut sich immer“ ist die unbestimmte Freude des auf der Straße gehenden L. Anlaß für einen, sein „Messer mit allerlei Klingen“ zu zücken. „Der zweite zeigt seinen auffälligen Schlagring…“ Pistole, Wurfmesser und Schlagstock kommen im weiteren Verlauf zum Vorschein. Die Bedrohung wird zum Muster für das Eskalieren und Kippen der Situation. Wer Rathenows ersten, 1980 erschienenen Erzählband unter dem Titel „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“ kennt, wird feststellen, diese Parabel ist nicht neu. Damals nannte er sie „ein Vormittag“. Der Unterschied: Die Bedrohung kam noch ohne Messer und Schlagring aus. Sie war diffuser und rein verbal und las sich so: „Da tritt der eine zwei Schritte zurück, die geöffnete Faust in die Hosentasche steckend. Sein spöttischer Blick, Sekunden nur der. Dann die beiläufige Rede. Er solle gehen, und zwar besser schnell als langsam.“
Indem Rathenow einige seiner früheren Erzählungen fortschreibt, erlangen sie Gültigkeit über ihre DDR-Bezogenheit hinaus. Seine einstigen Spötteleien und bissigen Satiren gegen die perverse Macht im Staate DDR sind in der vorliegenden Auswahl kaum noch berücksichtigt. Diese Texte haben ihr Ziel verloren. Rathenow kommt zu dem Schluß: In Zeiten, da in der Satire jedem fast alles erlaubt ist, gelinge selten mehr, als oberflächliche Polemik. Seine Konsequenz: Er reflektiert genau beobachtete Alltagsbegebenheiten und persönlich geprägte Kindheitserinnerungen. Der Ton wirkt nachdenklicher als früher. Ironische Auslassungen klingen weniger radikal. Mehrere Geschichten spüren der Frage nach: Welche Entwicklung nimmt einer, der unter den abgeschotteten Bedingungen der DDR aufwuchs? Sie erzählen von den Sorgen, Nöten und Phantasiegegenwelten eines Heranwachsenden, der von den Medieneinwirkungen der West-68er Bewegung politisiert wurde. Dadurch lebte er nicht nur in der DDR, im elterlichen Haus in Jena und in der Schule, die er wegträumte. Als eine frühe Form des Versuchs auszubrechen, bastelte er mit Freunden die Weltkarte neu. Machtgelüste, erotische Obsessionen und politische Verweigerung bestimmen die Erlebniswelt des jungen Kopfrebellen. In der Eröffnungsgeschichte „Der Weg hin und der zurück“ heißt es „…Wenn ich keinen Studienplatz bekomme, bekomme ich eben keinen. Dann werde ich etwas anderes oder gar nichts… Ich muß lächeln und begreife meinen Ernst noch nicht.“ „Ich lerne glaubhaft zu lügen“, bekennt der Junge, den der Schuldirektor überführen will, Westfernsehen gesehen zu haben. Das ist der Nährboden, der Gegner hervorbringen kann. Wut treibt an. Das Durchstehen von Konflikten wird zur Kernfrage der literarischen Gestaltung. Immer wieder durchdringen sich bei Rathenow private und politische Ebenen. Er wechselt die Perspektiven, verknüpft Ernstes mit Komischem, Reales mit Absurdem. Als eine „gespaltene Persönlichkeit“ mit einer Axt im Schädel darauf aus ist, dem Icherzähler die Haare zu stutzen, wirkt sogar im Traum die Unfehlbarkeit des verblüffenden Arguments: „Geh voraus!… Ich warte auf Regen, feucht hacken sich die Haare besser.“ Es sind traumatische Erlebnisse alltäglicher Monstrosität, aus denen sich schon das Kind durch seine Aufmüpfigkeit löst. Rathenow schreibt: „Er bringt die Zäune zum Klingen. Konzert für verschiedene Latten, nuancenreich, dumpf bis schrill. Dies aufmunternde Konzert entschädigt für die Schule. Nun brauchen die Lehrer wieder zwei, drei Stunden, alle geweckten Energien einzuschläfern.“
Zunehmend rücken Großstadterlebnisse ins Zentrum, unter ihnen Erzählungen über Einsamkeit, Geschichten, die Spannungen und Entfremdung zwischen Partnern bloßlegen. Nicht immer gelingt es dem Autor, sich in seiner Lust am Spiel mit den Figuren und Situationen völlig zurückzunehmen. Wo er es schafft – am klarsten interessanterweise in den Frauengeschichten – entstehen überzeugende Texte. „Lieblos Leben“ wird so zu einer fesselnd quälenden Studie über eine, die ihren Liebhaber und vielfachen Vergewaltiger ins Gefängnis bringt. Doch während er an der Haft zerbricht, gelingt es ihr nicht, sich von ihm zu lösen. Denn, Zitat: „Perversion ist die normale Art, auf den Alltag zu reagieren.“
Dieser Satz könnte als Motto über den meisten der 27 Geschichten stehen, egal ob sie davon erzählen, wie ein Vater die Katze umbringen will und die Tochter die Vorbereitungen immer wieder stört, oder wie einer Leben lang nach einer Flaschenpost sucht – bis er eine findet, die ihn in die Berge lockt. Provozierend wirken die Texte immer dann, wenn eine verkehrte Welt und die Sehnsucht nach Glück aufeinanderstoßen. Dann träumen Rathenows Gestalten schon einmal, davonzufliegen und die „gigantische Leere“ hinter sich zu lassen. Nicht selten agieren komische Käuze und verschrobene Einzelgänger, die sich trotzig so einrichten, daß die Welt sich wie von selbst in Frage stellt. Und doch verbirgt sich hinter den Texten immer auch die Suche nach menschlicher Nähe und Verständnis. Diese Suche nach dem Glück findet sich selbst in der schrägen Karikatur einer deutschen Lieblingsbeschäftigung, in der Kleingartenakuratesse des Herrn Leibling, der dem Unkraut und den Insekten den Krieg erklärt hat. Er siegt: kompromißlos, entschlossen und endgültig. – Die Zerstörung des Gartens nimmt er dafür in Kauf.
Die Welt ist seit dem Wegfall der DDR verrückter geworden. Rathenows Erzählungen kommt das entgegen. Sie erscheinen heute normaler. Furios beginnt die Titelgeschichte „Sisyphos“ mit dem Wunsch nach einer Zelle: „Schön klein soll sie sein. Hineinsperren solle man ihn. Da paßt der Stein nicht rein.“ Später stellt sich heraus, daß ein ehemaliger Stasi-Offizier sein ehemaliges Opfer weiter überwacht. Er sammelt dessen Notizen aus dem Müllcontainer für potentielle spätere Auftraggeber. Der Text bietet mehr als Stoff, als er auserzählt. In ihm zeigen sich Chancen und Probleme des Autors, der sich bisher dem Roman verweigert. Dennoch: Als Dissident bekannt, als politischer Kommentator respektiert und von Gegnern attackiert, als Lyriker und Dramatiker umstritten, als Kinderbuchautor gut verkauft, empfiehlt sich der Erzähler Rathenow als ein Chronist mit erstaunlichem Gespür für die Merkwürdigkeiten und Deformationen im Hier und Heute.
Lutz Rathenow, „Sisyphos“, Berlin Verlag, Berlin 1995, 160 S., 32 DM
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