Mittlerweile hat sie acht Romane, fünf Essay-Bände und einen Gedichtband geschrieben. Ihre Werke wurden jeweils in viele Sprachen übersetzt. Im Rowohlt-Verlag erschienen von ihr dreizehn Bücher in deutscher Übersetzung. Mehrere europäische Literaturpreise wurden ihr verliehen. Sie hielt im Jahr 2011 in Wien die angesehene Sigmund-Freud-Vorlesung und vertrat im Jahre 2016 die Tübinger Poetik-Dozentur. Deutsche TV-Sendungen über Siri Hustvedt verdeutlichen ihre große Resonanz in Deutschland.
Eines ihrer wichtigsten Bücher ist ihr autobiographischer Roman „Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven.“ (2010) Die Rezensentin Meike Feßmann der „Süddeutschen Zeitung“ hält dieses Werk für ihr „wirkmächtigstes Buch“. Die Rezensionen über ihr Buch in deutschen Zeitungen waren fast alle durchwegs positiv bis begeistert.
Das Rätsel von Körper und Geist
In ihrem Roman dringt Siri Hustvedt in die Rätsel des Zusammenspiels von Körper und Geist ein, oder – um mit Sigmund Freud zu sprechen – in den „geheimnisvollen Sprung von der Seele in den Körper“. Der berühmte Neurowissenschaftler und Miterfinder der Spiegelneurone Vittorio Gallese bezeichnete ihr Buch „Die zitternde Frau“ als eine „wirkliche Offenbarung“. Seither lese er alles, was Hustvedt schreibt. In der „Zeit“ erschien 2017 ein langes gemeinsames Gespräch dieser beiden Grenzgänger, die Wissenschaft und Kunst verbinden wollen. Anlässlich des Neuropsychoanalyse-Kongresses in Berlin erschien im TV ein gemeinsames Gespräch zwischen Siri Hustvedt und dem bekannten Hirnforscher Antonio Damasio und Gert Scobel. Der Essay-Band „Die Illusion der Gewissheit“ aus dem Jahre 2018 vertiefte nochmals die neurowissenschaftlichen und psychoanalytischen Erkundungen von Siri Hustvedt.
Bizarre Zitterattacken – wie eine Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl
Im Jahr 2006 hält Siri Hustvedt einen wichtigen Vortrag. Dabei kam es zu sehr bizarr aussehenden Zitter-Attacken. Die Autorin beschrieb dies in ihrem Buch wie folgt:
„Ich öffnete den Mund zu meinem ersten Satz und begann vom Hals an abwärts zu zittern. Meine Arme zuckten. Die Knie knickten ein. Ich zitterte so stark, als hätte ich einen Krampfanfall. Komischerweise war meine Stimme nicht betroffen. Sie veränderte sich überhaupt nicht. Verblüfft von dem, was mir geschah, und die Angst und Schrecken, ich könnte umkippen, gelang es mir, das Gleichgewicht zu wahren und weiterzureden, obwohl die Karten, die ich in der Hand hielt, vor mir hin und her wackelten. Als die Rede zu Ende war, hörte das Zittern auf. Ich sah auf meine Beine hinunter. Sie waren dunkelrot angelaufen und schimmerten bläulich (Die zitternde Frau, S. 9).
Ihre bereits hochbetagte Mutter, die bei dem Vortrag anwesend war, sagte zu ihr anschließend, das Ganze habe ausgesehen „wie eine Hinrichtung auf einem elektrischen Stuhl“.
Eine besondere Situation – der Auslöser
Beim ersten Zitteranfall im Jahre 2006 war Siri Hustvedt bereits 51 Jahre alt, weltbekannte Schriftstellerin, durchaus routiniert im Präsentieren von Vorträgen und Lesungen vor einer großen Zahl von Zuhörern. Ihr Vortrag mit dem ersten Zitteranfall fand vor etwa fünfzig Personen statt. Für die versierte, eloquente und erfahrene Vortragende, also eigentlich alltägliche Routine. Doch es kam ganz anders. Die erste Zitterattacke bei diesem Vortrag im Jahr 2006 verweist auf die besondere Situation des Vortrags. Es handelte sich um ihre Gedenkrede, die sie für ihren verstorbenen Vater hielt. Ihr Vater, Lloyd Hustvedt, starb am 2. Februar 2004 im Alter von 81 Jahren. Siri Hustvedt als eine seiner vier Töchter, hielt damals die Trauerrede mit fester Stimme. Nun sollte im Jahr 2006, – also zweieinhalb Jahre später – zum Gedenken an Professor Hustvedt, der fast vierzig Jahre lang die Norwegische Abteilung dieser Universität geleitet hatte, eine nordische Fichte gepflanzt werden. Seine Tochter Siri Hustvedt war eingeladen, dort über ihren Vater zu sprechen. Da gerade hier und gerade jetzt die erste Zitterattacke auftrat, stellt sich biographisch die Frage, worin das Besondere dieser Situation bestand. Denn Siri Hustvedt hielt ja jahrzehntelang zahlreiche Vorträge ohne jegliches Zittern.
Warum zittere ich? – Jahrelange Spurensuche nach den Wurzeln ihrer Krankheit.
Siri Hustvedt hatte bereits in ihrem 15. Lebensjahr Werke von Sigmund Freud gelesen und wollte ursprünglich selbst Psychoanalytikerin werden. Sie hat sich jahrelang mit Psychoanalyse und Neurowissenschaften beschäftigt, bevor sie diese Gedenkrede im Jahre 2006 hielt. Nun war ihr ja selbst bewusst, dass diese erste Zitterattacke etwas mit dem besonderen symbolischen Anlass der Gedenkrede und mit ihrer intensiven Beziehung zu ihrem Vater zu tun haben müsste. Sie begab sich auf die Suche, was Psychoanalyse, Neurologie, Psychiatrie und andere Wissenschaften zur Klärung solcher Symptome anbieten. Zusätzlich suchte sie persönlich zahlreiche berühmte Vertreter dieser Fachgebiete auf und führte mit ihnen ausführliche Gespräche. Die Ergebnisse dieser Erkundungen finden sich in ihrem Buch. Insofern ist dieses Buch nicht nur ein autobiographischer Roman, es ist auch ein sehr fundiertes Sachbuch. Vielleicht sogar das Beste, das über derartige Zusammenhänge geschrieben wurde. Es wurde zurecht mit dem Bestseller des weltberühmten Neurologen Oliver Sacks verglichen, der in seinem Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ einen ähnlichen Versuch unternommen hat. Die höchste Auszeichnung für Siri Hustvedts Buch dürfte die Würdigung von Oliver Sacks sein, die auf dem Buchumschlag zu lesen ist:
„Siri Hustvedt, eine unserer herausragenden Schriftstellerinnen, gehört seit langem zu den brillantesten Erforschern von Gehirn und Geist. Kürzlich jedoch wandte sie ihr Forschungsinteresse sich selbst zu: Knapp drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters, während einer Gedenkrede auf ihn, fand sie sich plötzlich von Konvulsionen geschüttelt. War das Hysterie, eine Übertragung, ein „zufälliger“ epileptischer Anfall? „Die zitternde Frau“ – provokant und amüsant, umfassend und niemals abgehoben – erzählt von ihren Bemühungen um eine Antwort darauf. So entsteht eine außergewöhnliche Doppelgeschichte: zum einen die ihrer verschlungenen Erkenntnissuche, zum anderen die der großen Fragen, die sich der Neuropsychiatrie heute stellen. Siri Hustvedts kluges Buch verstärkt unser Erstaunen über das Zusammenspiel von Körper und Geist“.
Bemerkenswert sind 192 Anmerkungen im Anhang des Buches, die überwiegend wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema anführen. Der Verfasser dieses Beitrags, der als Professor für Psychosomatik an einer Universitätsklinik tätig ist, würde sich durchaus freuen, alle seine Studenten und Doktoranden hätten diese Fülle an wissenschaftlicher Literatur parat. Siri Hustvedt ist ein Brückenschlag zwischen Literatur und moderner Wissenschaft (Neurologie, Psychiatrie, Psychoanalyse) gelungen. Wer an komplexen Zusammenhängen der Psychosomatik zum Zusammenhang von Körper und Geist oder von Leib und Seele interessiert ist, sollte dieses Buch nicht ignorieren.
„Ich bin die zitternde Frau“
Im Verlauf ihrer Erkundungen stellte Siri Hustvedt fest, dass die Medizin sehr unterschiedlich mit körperlichen und psychischen Erkrankungen umgeht. Sie spricht vom „Haben“ oder „Sein“ von Krankheiten. Eine körperliche Krankheit „hat man“. Eine psychische Erkrankung „ist man“. Die Sprache offenbart das Bewusstsein. Man hat also eine Grippe oder eine Krebserkrankung. Aber man ist schizophren, Epileptiker oder narzisstisch.
Siri Hustvedt hat in den vier bis fünf Jahren zwischen ihrer Gedenkrede und dem Erscheinen ihres Buches die bittere Erfahrung machen müssen, dass trotz aller Erklärungs- und Behandlungsversuche ihr Zittern ihr ständiger Begleiter geblieben ist. Sie konnte zwar mit Medikamenten (Betablocker) die Ausprägung der Symptome etwas reduzieren und die Frequenz der Zitterattacken verringern.
Das Zittern blieb jedoch eine ihrer persönlichen Eigenschaften. Es ist bei öffentlichen Vorträgen immer wieder aufgetreten, nicht jedoch in Ruhe zu Hause oder bei banalen Alltagssituationen. Der Blick der Anderen und die Öffentlichkeit spielt offensichtlich bei diesen Symptomen eine zentrale Rolle. Dies hat Siri Hustvedt im Verlauf ihrer Selbsterkundung erkannt. Insofern endet das Buch mit dem Satz: „Ich bin die zitternde Frau“.
Literatur:
Feßmann, Heike (2019) Wie sehr ist unser Körper an das eigene Ich gebunden? Süddeutsche Zeitung vom 9. April 2019
Hustvedt, Siri (1993) Die unsichtbare Frau. Rowohlt, Reinbek
Hustvedt, Siri (2003) Was ich liebte. Rowohlt, Reinbek
Hustvedt, Siri (2010) Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. Rowohlt, Reinbek
Hustvedt, Siri; Gallese, Vittorio (2017) „Dieses tiefe Begehren, zu begreifen, wer wir sind“. Interview mit Bernd Eberhart und Jessica Sabasch. DIE ZEIT vom 12. Januar 2017
Sacks, Oliver (1987) Der Mann, der seine Frau mit dem Hut verwechselte. Rowohlt, Reinbek