Sind die Ostdeutschen nur unzufriedene Ignoranten?

Trabis in Berlin, Foto: Stefan Groß

Unzufriedene Ignoranten?

Haben die Ostdeutschen aus der Diktatur des DDR-Regimes so wenig gelernt, dass sie wieder für radikale Parteien anfällig sind? Müssten die Bewohner zwischen Insel Rügen und Erzgebirge, zwischen Eisenach und Görlitz nicht dankbar dafür sein, dass das marode Wirtschaftssystem des Sozialismus samt Repression, Überwachung und Kollektivierung endlich auf dem Müll der Geschichte gelandet ist, müssten sie sich nicht wenigstens darüber freuen, in einem Land zu leben, wo Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit herrschen und wo der Gang zur Wahlurne Ausdruck persönlicher Entscheidungsfreiheit bleibt?  Was gefällt ihnen nicht an der freiheitlichen Ordnung des liberalen Rechtstaates?

Vor fast 30 Jahren ist die Berliner Mauer gefallen. Das galt als der Sieg der Freiheit und das Ende des totalitären Sozialismus. Und es war das wohl positivste Ereignis im sonst so dunklen 20 Jahrhundert. Nach 40 Jahren DDR fiel der ungeliebte Staat und seine Bürger hatten das totalitäre Regime auf den Friedhof der Geschichte getragen und begraben. Eine nie bis dahin bekannte Solidarität wehte durch die Reihen der Protestierenden, ein bis dahin unbekannter Volkswille entzündete die Fackel der friedlichen Revolution. Und seit den Tagen des Oktobers 1989 hatte es in der Bundesrepublik nie wieder einen solchen Aufstand der Massen gegeben.

Der Osten als Protestkultur

Doch seit diesen Tagen gehört der Protest zur Kultur der neuen Länder. Deutschland ist zwar geographisch zusammengewachsen, die blühenden Landschaften von Helmut Kohl gibt es, doch die Mauer in den Köpfen zwischen West- und Ostdeutschen bleibt. Sie ist nach Chemnitz noch größer geworden. Die Schablone vom bösen Nazi-Ossi, der undankbar ist und für dessen antidemokratische Gesinnung die Bundesschatulle noch weit geöffnet wird, zieht weiterhin Kreise und stiftet böses Blut.

Der Osten war zu DDR-Zeiten eine Solidargemeinschaft, die sich durch feinsinnige Ironie, Sarkasmus und indirekte Provokation gegen das Regime am Leben hielt, eine nach Innen gepresste Versöhnungs- und Solidargemeinschaft mit Freiheitsspielräumen, die man geschickt inszenieren musste, um am repressiven Überwachungsstaat sich vorbei zu manövrieren. Die Mehrzahl der Ostdeutschen hatte sich dieses feine Gespür in den Jahren peu à peu angeeignet, Techniken entwickelt, wie der Überwachungsstaat auszutricksen ist. Und so war das Gros der Ostdeutschen keineswegs eine Schar von sozialismus-affinen Mitläufern, die das System goutierten, sondern private Widerständler, die sich ein Stück individuelle Freiheit eroberten und damit immer wieder der Parteien- und Machtclique Paroli boten. Wenn auch nach dreißig Jahren, gerade aus westdeutscher Sicht, Sachsen und Thüringen als intellektlose AfDler gebrandmarkt und deklassifiziert werden, so stimmt das für die große Bevölkerungsmehrheit nicht. 

Viele Ostdeutsche waren Protestler, nichtreligiöse Protestanten sozusagen. Im Kernland des Protestantismus, wo einst Luther die Reformation entzündete, ist der Geist der Revolte geblieben. Nur eben nicht in Form des Protestantismus, weil der Osten die in Zeit geronnene Säkularisierung war, die das Religiöse zwar geduldet, es aber in den individuellen Lebensraum verabschiedete. Vielmehr hat umgekehrt eine Weltanschauung herausgebildet, die nicht im Religiösen, sondern in einem sozialen Humanismus ihren solidarischen Anker und zivilreligiösen Aspekt fand, der bis tief hinein in die existentielle Mitte des ostdeutschen Bürgertums reichte und der mit dem Mauerfall und der einbrechenden Marktwirtschaft über Nacht seine Geltungskraft und alle seine Haltseile verlor. Geblieben ist eine zerrüttete Nation, der neben dem Staat auch ihre Gemeinschaft verloren ging.

Man mag von einer ostdeutschen Depression sprechen, die auch nach 30 Jahren im Land grassiert. So zumindest hatte diese einst das intellektuelle Gewissen, der Chronist der innerdeutschen Geschichte, Arnulf Baring, beschrieben. Doch so sehr Baring von der Gespaltenheit der ostdeutschen Identität überzeugt war, von den desolaten Wirtschaftsstrukturen, individuellen Schicksalen, die unfähig zur Selbstbestimmung seien, weil sie Objekte reiner Bevormundung gewesen sind, so sah er dennoch im Osten den Geist der Revolte, das große Potential einer Protestkultur verankert.

Bürger auf die Barrikaden

In einem damals viel beachteten und diskutierten Beitrag in der „FAZ vom 19. 11 2002 mit dem Titel „Bürger, auf die Barrikaden“! hieß es dann auch: „Wir dürfen nicht zulassen, daß alles weiter bergab geht, hilflose Politiker das Land verrotten lassen. Alle Deutschen sollten unsere Leipziger Landsleute als Vorbilder entdecken, sich ihre Parole des Herbstes vor dreizehn Jahren zu eigen machen: Wir sind das Volk!“ Und der jüngst verstorbene Ulrich Schacht titelte einst im „Cicero“: „Aus dem Osten kommt das Licht“. Was Schacht und Baring kritisierten war der lethargische Wohlstandswesten, der sich in seiner Behaglichkeit als Wohlstandskultur etablierte und dem der Sinn für die Revolte abhanden gekommen war. Und Baring forderte, dass das Parteiensystem selbst auf den Prüfstand müsse. „Die Situation ist reif für einen Aufstand gegen das erstarrte Parteiensystem. Ein massenhafter Steuerboykott, passiver und aktiver Widerstand“.

Nach 30 Jahren gilt dieser Satz umso mehr. Die Volksparteien verlieren an Stärke, sie wirken kraftlos, zermürbt und müde. Die Große Koalition ist ein Scherbenhaufen von Eitelkeiten, denen schiere Machtverwaltung  das Gebot der Stunde zu sein scheint. Anstatt zu regieren, herrscht eine unproduktive Schlaffheit, die in Personalaffären zu ersticken droht. Das Land bewegt sich so auf einen rasenden Stillstand zu und die kritischen Stimmen werden, ganz wie einst in der DDR, ignoriert. Wen verwundert es da, das die kampferprobten Ostdeutschen wieder auf die Barrikaden gehen und das System samt seinen Eliten abwählen wollen. Denn so hat sich der Osten die Demokratie nicht vorgestellt und die Rebellion ist nur die Antwort auf eine sich als unterdrückt verstandene Gemeinschaft, die sich von den Amtsträgern nicht repräsentiert sieht.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2154 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".