Ein alter, nie erloschener Konflikt an der indisch-pakistanischen Grenze, der Line of Control, flammt erneut auf. Kaschmirische Gesichter werden von Projektilen der indischen Armee durchsiebt. Daliten, einst auch Unberührbare genannt, protestieren gegen ihre Unterdrückung. Soweit Indiens Schlagzeilen der letzten Monate.
Trotzdem heißt es immer wieder, Indien sei ein, wenn nicht das Land der Toleranz. So tolerant, dass die damit einhergehende Offenheit trotz unzähliger Umwälzungen, Eroberungen und Vermischungen durch und mit anderen Kulturen der Grund für das Fortbestehen Indiens bis in die Gegenwart sei.
Doch ist Indien – mal abgesehen von der Frage, seit wann Indien als solches existiert – in seiner Essenz wirklich tolerant? Und falls dies der Fall ist, kann die Nation ihre Offenheit gegenüber dem Anderen und sich selbst wiedererlangen? Können gar wir in Europa dem etwas abgewinnen?
Zumindest Neohindus wie Swami Vivekananda, Sarvepalli Radhakrishnan und einige andere würden dies bejahen. Sie betonen die tolerante Seite des indischen Denkens (wenn es so etwas wie das „indische Denken“ denn gibt), insbesondere des Hinduismus, auf ihrer Suche nach einer vorzeigbaren indischen Identität.
Dies ist nicht nur eine indische Anschauung. Auch westliche Denker zu Beginn des 19. Jahrhunderts teilten diese Meinung. Man erlangte jene Einsicht beispielsweise durch Abschnitte in der Rig Veda (1:164:46): „Ekam sat vipra bahudha vadanti“ (Es gibt eine Wahrheit, die Weisen benennen sie verschieden). Oder durch die Bhagavad Gita (7:21): „Welche Gestalt auch immer ein sich fromm Hingebender gläubig zu verstehen wünscht, ich befestige diesen seinen Glauben.“
Natürlich variiert die Definition von Toleranz. So versteht Radhakrishnan Toleranz nicht nur als friedliche Koexistenz, sondern das kollektive Bestreben einer Bruderschaft. Ebendiese Toleranz soll es gewesen sein, die dafür verantwortlich war, dass verschiedene Religionen und Ethnien über Jahrtausende hinweg relativ friedliebend miteinander im Subkontinent auskamen.
Ungeachtet der Tatsache, dass Indien nicht immer eine Hochburg der Toleranz war – weder gegenüber Ausländern noch untereinander -, argumentieren einige Gelehrte, dass das, was hier beschrieben wird, eher dem Inklusivismus entspricht, nicht der Toleranz.
Inklusivismus wird grob als Ansicht definiert, die das Andere als identisch gegenüber dem Eigenen erachtet, wenn auch meistens als etwas minderwertiger. Besonders wenn man die Passage der Bhagavad Gita liest (auch 9:23), macht dies Sinn.
Anstatt zu sagen, du bist anders, aber ich akzeptiere dich, scheint hier die Aussage zu sein: Du bist gar nicht so anders, eigentlich glaubst du an die gleichen Dinge wie ich – mit dem Unterschied, dass du auf dem Weg zur Wahrheit einen kleinen Umweg gehst. Der oft doktrinäre Standpunkt der Neohindus passt hier gut ins Bild.
Das erinnert an folgende Anekdote. Als christliche Missionare nach Indien kamen, um die Götzendiener zu bekehren, sie zu überzeugen, dass Jesus der anzubetende Prophet sei, antworteten die Inder angeblich so etwas wie: Vielen Dank für ihr freundliches Angebot, allerdings haben wie bereits eine Art Jesus – er ist ein wenig bläulicher als ihr Christus und nennt sich Krishna.
Dies bedeutet laut dem Philosophen Anand Amaldass nicht unbedingt etwas Negatives. Denn wann auch immer der Hinduismus etwas Fremdes in sich aufnimmt, ändert er etwas in sich selbst, was letztendlich in einer Haltung der Offenheit resultiert.
Wie Indien ist auch Europa gegenwärtig mit dem vermeintlich Anderen, dem „Fremden“ konfrontiert. Und wie Indien würde Europa von einer Absorption dieses Anderen profitieren – kulturell, aber auch in seinem einfachen Fortbestand. Beides, Inklusivismus als auch Toleranz, ist auch in der hiesigen Kultur, der – wie heißt es doch so schön – „Leitkultur“ vorhanden.Sei es im Christentum oder in „okzidentalen“, nicht-religiösen Philosophien.
Wie schnell, zu welchem Grat, unter welchen Rahmenbedingungen und ob dies mit Toleranz oder Inklusivismus vonstattengeht, wird sich im Diskurs herauskristallisieren. Denn nicht nur Indiens Geschichte zeigt, dass gerade eine Haltung der Verschlossenheit und Abwehr, den Ansichten vieler entgegen, genau das Gegenteil hervorrufen wird: den vielbesungenen Niedergang Europas.
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