Sigmund Freud und Stefan Zweig – 30 Jahre Freundschaft mit Bewährung

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 Sigmund Freud (1856 – 1939) und Stefan Zweig (1881 – 1942) verband eine außergewöhnliche und jahrzehntelange Freundschaft. Freud unterhielt auch langjährige Freundschaften mit anderen Schriftstellern, doch hatten vor allem bei den männlichen Vertretern eine gewisse Distanz, die für Freud geradezu typisch war. So waren die Beziehungen zu Thomas Mann, Romain Rolland, Hermann Hesse und Arnold Zweig tiefgründig, doch sie hatten nicht diese Art von fachlichem Austauch. Freud besprach mit Stefan Zweig ausführlich dessen Werke und war dabei fast in der Rolle eines Literaturkritikers. Umgekehrt verstand sich Stefan Zweig als „Psychologe der Leidenschaften“ und gilt sowohl in den Literaturwissenschaften als auch in der Psychoanalyse als der „psychologische Dichter“ oder Vertreter der psychologischen Literatur. Es gab in Wien einen zweiten psychoanalytisch interessierten Schriftsteller zu Lebzeiten Freuds, mit dem dieser auch Kontakt hatte – Arthur Schnitzler. Doch hier war der Austausch nicht so intensiv, lang anhaltend und wechselseitig wie mit Stefan Zweig. Freud geriet mit männlichen Denkern oder Psychoanalytikern leicht in eine gewisse Rivalität mit der Neigung zu abrupten Beziehungsabbrüchen. Das erlebten viele seiner Schüler – wie Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Viktor Tausk, Sandor Ferenczi, Wilhelm Reich oder Otto Rank. Konfliktloser waren Freuds Beziehungen zu Schriftstellerinnen, die er verehrte und wertschätzte. Hier sind vor allem Lou Andreas Salome und Marie Bonaparte zu nennen, mit denen er bis zum Lebensende eine gute Beziehung aufrechterhielt.

Freud war 25 Jahre älter als Stefan Zweig und deshalb in vielfacher Hinsicht eine Vaterfigur für den Jüngeren. Der ersten 37 Jahre seines Lebens verbrachte Zweig in Wien und war damit in der Nähe Freuds. Durch ihre jüdische Herkunft mussten beide vor dem Naziregime fliehen und wählten als Ort für ihr Exil London. In den Jahren 1938 und 1939, die Freud in London verbrachte, lebte Stefan Zweig ebenfalls dort. Nach Freuds Tod hielt der an seinem Sarg eine Trauerrede.

30 Jahre Freundschaft zwischen Sigmund Freud und Stefan Zweig

Einen ersten Austausch gab es über die Novellen von Zweig, die Freud gelesen hatte und schätzte. Es folgte einige persönliche Begegnungen in Wien.  Die persönliche Beziehung begann im Jahr 1908, als Zweig dem 51jährigen Freund ein handschriftlich gewidmetes Exemplar seines Dramas „Tersites“ übersandte. Freuds wertschätzender Antwortbrief auf dieses Geschenk war der Auftakt der 30 Jahre dauernden Freundschaft. Es folgte ein reger Briefwechsel, in dem meist Freud sich zu den Werken von Stefan Zweig äußerte. Der zweite Brief Freuds folgte auf Zweigs Balzac-Essay. Von den zahlreichen Briefen sind bisher 77 publiziert (Keller 2009). Der Großteil der Freud-Zweig-Korrespondenz ist leider nicht erhalten geblieben. Stefan Zweig sandte Freud die wichtigsten seiner Bücher, die meisten mit Widmungen wie „dem großen Wegweiser ins Unbewußte. In immer wieder erneuter Verehrung“ oder „in unveränderlicher Liebe und Verehrung“. In der Freudschen Privatbibliothek in London stehen 15 Bücher von Stefan Zweig (Cremerius 2003, S. 59). Höhepunkte des brieflichen Austausches oder der Auseinandersetzung sind die über Dostojewski (1920) und über die Freud-Biographie, die Zweig 1931 veröffentlichte. Alle später erschienenen Werke von Zwei wurden nicht mehr ausführlich in den Briefen diskutiert. Das bedeutsame Spätwerk Zweigs (der Roman „Ungeduld des Herzens“, die Schachnovelle und die Autobiographie „Die Welt von gestern“) konnte ja Freud nicht mehr lesen, da er 1939 in London starb.

Die wechselseitige Analyse von Dostojewski

Stefan Zweig schrieb eine Trilogie unter dem Titel „Die Baumeister der Welt. Versuch einer Typologie des Geistes“. In jedem Band befinden sich jeweils drei biographische Essays von berühmten Dichtern und Denkern. Im ersten Band „Drei Meister“ aus dem Jahre 1920 steht das Porträt von Dostojewski. Die beiden anderen in diesem Band sind von Balzac und Charles Dickens. Freud ist voll des Lobes über dieses Buch: „Die Vollkommenheit der Einfühlung im Verein mit der Meisterschaft des sprachlichen Ausdrucks hinterlassen einen Eindruck von seltener Befriedigung“ (zit. n. Keller 2009, S.3). Dostojewski steht im Mittelpunkt des folgenden Briefwechsels. Zweig spricht Dostojewski eine überragende Bedeutung zu: „Nicht die Psychologen, die Wissenschaftler, haben die moderne Seele in ihrer Tiefe erkannt, sondern die Maßlosen unter den Dichtern, die Überschreiter der Grenzen.“  Für ihn ist er „der Psychologe der Psychologen“ und der Beginner einer „neuen Psychologie“. Freud ist in seinem Urteil über Dostojewski deutlich nüchternen und kritischer. Er teilt nicht die „schwärmerische Heroisierung“ Zweigs. Vielmehr bezeichnet er Dostojewski als einen „schwer perversen Neurotiker“ mit einer „perversen Triebanlage, die ihn zum Sado-Masochisten oder zum Verbrecher veranlagen musste“ (zit. n. Keller 2009, S.4).

Das Fazit Freuds lautet:

„Dostojewski hat es veräumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu werden, er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt, die kulturelle Zukunft der Menschen wird ihm wenig zu danken haben. Es lässt sich wahrscheinlich zeigen, dass er durch eine Neurose zu solchem Scheitern verdammt wurde. Nach der Höhe seiner Intelligenz und der Stärke seiner Menschenliebe wäre ihm ein anderer, ein apostolischer Lebensweg eröffnet gewesen.“

(zit. n. Keller 2009, S.4)

Die Auseinandersetzung mit Dostojewski hat Freud in der Folgezeit keine Ruhe gelassen. Sieben Jahre später schrieb er den Aufsatz „Dostojewski und die Vatertötung“, eine psychoanalytische Deutung des Romans „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski.

Der Freud-Essay in „Die Heilung durch den Geist“ (1931)

Als Zweig Freud vorschlug, eine Biographie über ihn zu schreiben, war dieser wenig erfreut und ablehnend. Freud hielt wenig von Biographien. An seinen Vertrauten und Freund Arnold Zweig, der mit Stefan Zweig nicht verwandt ist, schrieb Freud am 31.5.1936:

„Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.“

(Sigmund Freud, zit. nach Cremerius 2003, S.31)

In einem früheren Brief schrieb Freud an Arnold Zweig: „Er (Stefan Zweig, HC) verarbeitet mich gegenwärtig zu einem Essay“. Stefan Zweig ließ sich also nicht von seinem Vorhaben abbringen und der vollendete Essay landete 1931 in dem Sammelband „Heilung durch den Geist“ (1931).

Trauerrede von Stefan Zweig am Sarg von Sigmund Freud

Ab 1934 war Stefan Zweig als jüdisch Verfolgter im Exil in London. Freud emigrierte dorthin unabhängig von Zweig auch nach London. Dort besuchte der jüngere Stefan Zweig den gebrechlichen und krebskranken Freud einige Male. Nach dem Tod von Freud hielt Stefan Zweig an seinem Sarg bei der feierlichen Einäscherung im Krematorium Golder’s Green in London am 26.9.1939 eine Rede. Es gab drei Trauerreden – die beiden anderen waren von Ernest Jones und Peter Neumann.

Zuerst würdigte er Freud als Wahrheitssucher und Forscher:

„Der Unbeirrbare, der reine Wahrheitssucher, dem nichts in dieser Welt wichtig war als das Absolute, das dauernd Gültige. Hier war er endlich vor unseren Augen, vor unserem ehrfürchtigen Herzen, der edelste, der vollendetste Typus des Forschers mit seinem ewigen Zwiespalt – vorsichtig einerseits, sorgsam prüfend, siebenfach überlegend und sich selber bezweifelnd, solange er einer Erkenntnis nicht sicher war, dann aber, sobald er eine Überzeugung erkämpft, sie verteidigend gegen den Widerstand einer ganzen Welt.“

Es folgte die Bewunderung des großartigen Menschenverstehers mit dem Hang zum Absoluten:

„Dieser tiefe Zweiklang – die Strenge des Geistes, die Güte des Herzens – ergab am Ende seines Lebens die vollendetste Harmonie, welche innerhalb der geistigen Welt errungen werden kann: eine reine, klare, eine herbstliche Weisheit.“

Stefan Zweig beendete seine Rede mit einer überschwenglichen Lobeshymne und Dankesworten:

„Dank für ein solches Vorbild, geliebter, verehrter Freund und Dank für Dein großes schöpferisches Leben, Dank für jede Deiner Taten und Werke, Dank für das, was Du gewesen und was Du von Dir in unsere eigenen Seelen gesenkt – Dank für die Welten, die Du uns erschlossen und die wir jetzt allein ohne Führung durchwandeln, immer Dir treu, immer Deiner in Ehrfurcht gedenkend, Du kostbarster Freund, Du geliebtester Meister, Sigmund Freud.“

(Rede zit. nach Zweig 1981, S. 235 – 237)

Das Pathos und die überschäumenden Emotionen dieser Rede zeugen von dem, was der Psychoanalytiker Johannes Cremerius bei Zweig als durchgängig wahrnahm – „ein breiter, nie versiegender Strom von Bewunderung, Verehrung und Zuneigung für die Person Freuds“ (Cremerius 2003, S. 27/28).

Stefan Zweig und die Psychoanalyse

Stefan Zweig war am persönlichen Austausch mit Sigmund Freud interessiert und nicht an der psychoanalytischen Bewegung. Er hatte deshalb keine Beziehung zu anderen Psychoanalytikern. Zweig selbst bezeichnete sich als einen „Psychologen der Leidenschaften“ (Haenel 1995). Was er durch seine fundierte Freud-Lektüre an psychoanalytischem Wissen erworben hatte, fand seinen Niederschlag in seinen Novellen und Essays. Besonders in seinem Spätwerk wird dies deutlich. „Die Ungeduld des Herzens“ ist ein psychologischer Roman.

Die andere Seite der Rezeptionsgeschichte zeigt, dass Stefan Zweigs Werk nach seinem Tod großes Interesse bei Psychoanalytikern fand. Viele Literaturwissenschaftler betonen seine außergewöhnliche psychologische Empathie und Psychoanalytiker beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit seinem Werk (Cremerius 1987; Kory 2007). Bei den Freiburger Literaturpsychologischen Gesprächen und in der Marburger Arbeitsgruppe „Literatur und Psychoanalyse“ von Thomas Anz gibt es zahlreiche Beiträge über Stefan Zweig, deren Umfang so groß ist, dass sie den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würden (Vgl. Anz 1999,2006, 2018; Keller 2009)

Literatur

Anz, Thomas (Hrsg., 1999) Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Königshausen & Neumann, Würzburg

Anz, Thomas (2006) Verwirrung des Gefühls. Stefan Zweig und Sigmund Freud. Literaturkritik.de. Nr. 11

Anz, Thomas (2018) Psychologie und Psychoanalyse. In: Larcati, Arturo, Renolder, Klemens, Wörgötter Martina (Hrsg.) Stefan-Zweig-Handbuch. De Gruyter, Berlin, Boston, S. 73 – 85

Cremerius, Johannes (1987) Der Einfluß der Psychoanalyse auf die deutschsprachige Literatur. Psyche 41: 39 – 54

Cremerius, Johannes (2003) Stefan Zweigs Beziehung zu Sigmund Freud. Eine heroische Identifizierung. In: Cremerius, Johannes, Freud und die Dichter. Imago Psychosozial Verlag, Gießen, S. 23 – 60

Dines, Alberto (2006) Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt

Fetz, Bernhard, Inguglia-Höfle, Arnhilt, Larcati, Arturo (Hrsg., 2021) Stefan Zweig Weltautor. Paul Zsolnay Verlag, Wien

Haenel, Thomas (1995) Stefan Zweig – Psychologe aus Leidenschaft. Droste Verlag, Düsseldorf

Keller, Jasmin (2009) Eine Psychoanalytiker als Literaturkritiker. Sigmund Freud interpretiert Stefan Zweigs Werk. Literaturkritik.de vom 3.12.2009

Kory, Beate (2007) Im Spannungsfeld zwischen Literatur und Psychoanalyse. Die Auseinandersetzung von Karl Kraus, Fritz Wittels und Stefan Zweig mit dem „großen Zauberer“. Ibidem Verlag

Larcati, Arturo, Renolder, Klemens, Wörgötter Martina (Hrsg., 2018) Stefan-Zweig-Handbuch. De Gruyter, Berlin, Boston

Zweig, Stefan (1920) Drei Meister: Balzac – Dickens – Dostojewski. Insel, Leipzig

Zweig, Stefan (1925) Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin – Kleist – Nietzsche. Insel, Leipzig

Zweig, Stefan (1928) Drei Dichter ihres Lebens. Casanova – Stendhal – Tolstoi. Insel, Leipzig

Zweig, Stefan (1931) Die Heilung durch den Geist. Mesmer – Mary Baker Eddy – Freud. Insel, Leipzig

Zweig, Stefan (1939) Ungeduld des Herzens. Roman. Bermann-Fischer, Stockholm

Zweig, Stefan (1942) Schachnovelle. Buenos Aires

Zweig, Stefan (1942) Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Bermann-Fischer, Stockholm

Zweig, Stefan (1981) Worte am Sarge Sigmund Freuds. In: Stefan Zweig. Menschen und Schicksale. Fischer, Frankfurt am Main, S. 235 – 237

Zweig, Stefan (1987) Briefwechsel mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitzler. Hrsg. Von Jeffrey B. Berlin et al., S. Fischer, Frankfurt am Main

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

 

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.