Rückkehr des Freund-Feind-Denkens
Eine dynamische Gesellschaft ist dauernd in der Krise. Die Öffentlichkeit erwartet politische Steuerung, und die Politik pflegt selbst einen Steuerungsanspruch – dem ihre Steuerungskapazität nicht entspricht. Komplexe Probleme lassen sich nicht oder nicht auf die Schnelle lösen. Die Gestaltungs- und Kontrollillusion führt zu „Staatsversagen“, Politikverdrossenheit, Radikalisierung, Abwahl von Regierungen. Populisten präsentieren einfache „Lösungen“ und verbreiten Verschwörungstheorien, nach denen eine abgehobene Elite das Volk betrügt. Die etablierten Parteien schießen auf gleicher Ebene zurück und ächten Populisten als Demokratiefeinde, Lügner, Faschisten. Und die nationalen Fronten spiegeln zugleich die international verschärfte Situation wider.
Damit kommt Carl Schmitt zu neuen Ehren, der bekanntlich die Politik durch den Freund-Feind-Gegensatz bestimmt sah. Der Souverän (etwa die Verfassung) bestimmt über den jeweiligen Feind (so grenzt sich das Grundgesetz selbst als verbindlich von Feinden der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ ab). Schmitt wollte diese Abgrenzung nicht moralisch verstanden wissen, weil hier nur noch Eigeninteressen, im Extremfall Überlebensinteressen, zählen. Die eigene Politik muss sich jedoch immer als legitim ausweisen. So werden Gewalt und Krieg von jeder Seite als Verteidigung oder „Schutzverpflichtung“ gerechtfertigt und gilt der Feind als moralisch zu verurteilender Aggressor. Moralische Verurteilung und Freund-Feind-Denken gehen Hand in Hand und nehmen zugleich mit den Krisen national und international zu. Moralische Kommunikation ist ein Krisenindikator – und heizt Krisen zusätzlich an.
Schutz des Unverzichtbaren
Auf Moral kann nicht einfach verzichtet werden, ist sie doch eine Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Moral schützt die Interessen der Anderen gegen ungebremstes Eigeninteresse, sichert mittels Normen, festliegenden Erwartungen, ein friedliches Zusammenleben, legt die gemeinsamen Verhaltensgrundlagen fest. Sie grenzt mit den Unterscheidungen gut/böse (schlecht) akzeptables von inakzeptablem Verhalten ab, spricht Achtung oder Missachtung aus. Moral wird in der Sozialisation gelernt und emotional, im Gewissen, verankert, der Mensch so zur (berechenbaren) Person. Moralisches Verhalten sichert die Anerkennung durch Andere und die Selbstachtung.
Moral betrifft zunächst und vor allem den Nahbereich, das konkrete Verhalten gegenüber Anderen, die Interaktion. In der Interaktion wird unterstellt, dass jede für ihr Verhalten verantwortlich ist, sich für es entscheidet, dass sie handelt. Nur für Taten, für die man verantwortlich ist, kann man moralisch beurteilt werden.
Verstöße gegen Moralregeln führen zu emotionalen Reaktionen, lösen Mitleid, Zorn, Empörung, aber auch, ästhetisch-moralisch, Ekel, Abscheu aus (eigene Verstöße Schuld-, Reue-, Schamgefühle) und führen zu Missbilligung, Ermahnung, Achtungsentzug, Kommunikationsabbruch. Würde man einen empörenden Verstoß hinnehmen, stände die Selbstachtung auf dem Spiel. Moral ist Voraussetzung geregelten Handelns, aber moralische Ermahnung der letzte Schritt vor Abbruch einer Beziehung.
Historisch regelte Moral alle Lebensbereiche. Nach dem 30jährigen Krieg wurde Religion in Europa zunächst zwischenstaatlich, dann innerstaatlich nicht mehr als politisch-moralisches Problem behandelt, sondern neutralisiert. Andere Bereiche wie Kleidung, Ehe, Sexualität folgten, wurden ästhetische, ins Belieben der Einzelnen gestellte Fragen. Moral wurde auf ihren Kernbereich eingeschränkt. Heute sollen die Menschenrechte die Grundinteressen aller Menschen sichern (leibliche Unversehrtheit, materielle Grundversorgung, „relative“ Freiheit). Oberstes Ziel ist die Leidvermeidung. Weltweit gibt es eine Grundmoral der Gegenseitigkeit („Goldene Regel“): das Schädigungsverbot als unbedingte Pflicht und das Hilfegebot als wünschenswert, verdienstlich (nur in Notsituationen verpflichtend). Umstritten waren nie die Grundinteressen, sondern „nur“, wem sie zu Gute kommen sollen. Moral ist zunächst Gruppenmoral, Recht Gruppenrecht (bis in die Neuzeit nach Ständen unterschiedlich). Die Anerkennung der Grundinteressen als Menschenrechte (und konsequenterweise auch als Tierrechte) ist heute plausibel, da sie bei allen gleich sind, sich die Menschenrechte aus der Natur des Menschen ableiten lassen – wenn man, ein Zirkel, die Grundinteressen (und nicht Stand, Rasse) als entscheidend für Moral ansieht. Bei den Menschenrechten geht es „nur“ um die Ausdehnung des Geltungsbereichs einer weltweit mehr oder weniger einheitlichen Grundmoral.
Die Grundmoral schützt die Grundinteressen aller Menschen, sonstige Moralregeln die selbstverständlichen Grundlagen der jeweiligen Lebensform. Moral bezeichnet Nicht-Verhandelbares, ist die Grundlage der eigenen kulturellen, nationalen oder Gruppenidentität. Wer die spezifische Moral einer Gruppe angreift, stellt ihre Lebensform, ihre Identität, ihre Werte in Frage. Dann interessieren nicht mehr die gemeinsamen Grundinteressen, sondern nur noch die Verurteilung aufgrund unterschiedlicher Moralregeln. Moral ist bei Konflikten immer das letzte „Argument“, das auf unterschiedliche Weltsichten verweist.
Wenn man moralisch kommuniziert, hat Moral versagt. Jede Art von Moraleinsatz ist problematisch, greift die Person oder eine Lebensform an. Moralische Kommunikation ist hochemotional, macht Kompromisse schwierig oder unmöglich, verhindert Verständigung, erzeugt Konflikte oder heizt sie an, kann Gewaltanwendung mit bestem Gewissen zur Folge haben. Moral verabsolutiert den eigenen Standpunkt und polarisiert, schafft mit dem Guten auch das Böse. Eine gemeinsame Sichtweise, „Objektivität“, wird so verunmöglicht. Tatsachen mögen dann zwar unbestritten sein – Russland marschierte in der Ukraine ein –, doch politisch entscheidend ist ihre moralische Interpretation als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt. Und selbst offensichtliche Lügen können heute politisch und moralisch dauerhaft genutzt werden.
Moral in der Demokratie
Die Grundaufgabe der Politik ist die Sicherung von Leib und Leben, der Grundmoral, über den Nahbereich hinaus. Immer drohen Eigeninteressen gegen Fremdinteressen zu verstoßen. Die Politik soll mit ihrem Gewaltmonopol dafür sorgen, dass das Allgemeinwohl berücksichtigt wird.
Damit das Gewaltmonopol nicht selbst zum Eigeninteresse missbraucht wird, schränken es Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat ein und ermöglichen den gewaltlosen Machtwechsel durch Wahlen. Das bedeutet zugleich den Verzicht auf die Freund-Feind-Konfrontation und den Verzicht auf Moral. Die Parteien müssen sich „nur“ über die demokratische, rechtsstaatliche Verfassung einig sein. Der Grundkonsens über die Verfassung wird vorausgesetzt und sichert die Legitimität, die moralische Rechtfertigung der Politik. Ansonsten verfährt man amoralisch: Die Mehrheit entscheidet. Die Idee der Aufklärung war dabei die deliberative Demokratie, bei der im Gespräch das bessere Argument, „die“ Vernunft, entscheidet. Faktisch setzen sich die stärkeren Interessen durch, die sich immer auf gute Gründe berufen können.
„An sich“ soll Moral die Andere schützen. Das liegt im Eigeninteresse aller, ist man doch immer auch Andere. Im Umkehrschluss kann das aber auch als Anspruch an die Andere, repräsentiert durch die Politik, verstanden werden. Dabei beruft man sich auf Gerechtigkeit. Liberale wollen Leistungsgerechtigkeit, Pädagogen zunächst einmal Bildungsgerechtigkeit, Sozialpolitiker Verteilungsgerechtigkeit, Klimaaktivisten Umweltgerechtigkeit. Faktisch wird es immer Ungleichheiten und entsprechend unterschiedliche Interessen geben, die sich alle auf Gerechtigkeit berufen und sich als Allgemeininteresse sehen.
Das war schon immer so und gehört zum politischen Geschäft. Der heutige Gerechtigkeitsdiskurs ist faktisch ein Interessenausgleichsdiskurs, betrifft Verteilungskonflikte und wird auch meist so behandelt. Problematisch wird es, wenn man ernsthaft mit Moral „argumentiert“, daraus Weltanschauungs- oder Wertkonflikte macht und den politischen Gegner moralisch verurteilt. Der demokratische Grundkonsens setzt bei aller Polemik voraus, dass der politische Gegner nicht Feind, sondern geachtete Person ist, mit der man sowohl sprechen als auch zusammenarbeiten kann. Echte Empörung über Unrecht kennt hingegen keine Kompromisse.
Verteilungskonflikte sind wie Moral interaktionsnah, so dass die Berufung auf Gerechtigkeit durchaus plausibel ist, wenn es, wie etwa bei der sozialen Frage im 19. Jahrhundert, um Grundbedürfnisse geht. Beruft man sich hingegen bei allen möglichen Forderungen auf Gerechtigkeit oder gar die Menschenrechte, wird Moral inflationiert und entwertet – eine Entwicklung, die inzwischen auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befeuert, wenn er die Schweiz für Versäumnisse im Klimaschutz verurteilt und damit Klimaprobleme implizit etwa mit Folter gleichsetzt.
Wie jedes Problem wirtschaftlich oder rechtlich angegangen werden kann, so aber auch moralisch – unabhängig davon, ob das Sinn macht oder nicht. So geht es bei den Folgeproblemen der Technisierung (Umwelt, Klima) nicht oder nur abstrakt um verantwortbare Handlungen, sondern um Risikoprobleme, für die die Gesellschaft als Ganzes, und zwar die Weltgesellschaft, „verantwortlich“ ist. Man mag deshalb mit Günther Anders die „Antiquiertheit des Menschen“, der seinen Produkten nicht mehr gewachsen ist, mit Ulrich Beck die „organisierte Unverantwortlichkeit“ beklagen, aber ihr Ruf nach dem „Prinzip Verantwortung“ (Hans Jonas) widerspricht der eigenen Analyse, verharmlost Risikoprobleme zu Moralproblemen, als ob die rechte Gesinnung wisse, was „verantwortliches“ Handeln beinhalte. Sprachlich wird dann durch „wir“ („wir“ Menschen müssen uns ändern) nahegelegt, dass es um Interaktion gehe – was Niklas Luhmann mit der Frage nach Name und Adresse ad absurdum führte.
Wenn Probleme wie Klima, Migration nicht mehr einfach durch demokratischen Interessenausgleich und Wirtschaftswachstum gelöst werden können, kommt es zu Remoralisierungen, werden komplexe Probleme auf die einfache Kontrastierung von gut/schlecht und Freund/Feind reduziert. Mit der Grundmoral, auf Leiden, verantwortbare Handlungen und auf die Interaktion bezogene Fragen, hat das bestenfalls noch indirekt zu tun.
Die Polarisierung geht angesichts faktischer Unlösbarkeit vieler Probleme – sie werden mehr oder weniger gut „verwaltet“ – gewöhnlich auf Kosten der jeweiligen Regierung (ein Vorteil der Konkordanzregierung, dass sie – tu felix Helvetia – „nur“ Volksabstimmungen verliert). Auch populistische Parteien in Regierungsverantwortung, wo sie zu Kompromissen gezwungen sind, werden meist schnell entzaubert. Die zunächst zwangsläufige Ausgrenzung (einst, was sie zu vergessen scheinen, auch der Grünen) droht populistische Parteien immer stärker zu machen. Andererseits kann die Polarisierung auch, wie etwa bei mehreren Präsidentschaftswahlen in Frankreich, zu Mehrheiten des „demokratischen Lagers“ verhelfen, wenn sie auf das kleinere Übel vereint und Sachfragen nachrangig erscheinen lässt. Übertreibung, Verzerrung, düstere Prognosen auf allen Seiten führen dann schnell zur „moralischen Panik“, sei es Angst vor Migranten oder Angst vor Demokratieverlust. Statt sich mit komplexen Problemen abzugeben, kann man sich dann an die eigene Moral halten und sich in einer unsicheren Welt die eigene kulturelle, nationale oder Gruppenidentität bestätigen.
… und in der Weltpolitik
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man sich zumindest rhetorisch weltweit auch mit weiterhin moralbestimmten Ländern auf die Menschenrechte einigen, und nach dem kalten Krieg konnten die USA zunächst ihre Version der Menschenrechte weltpolitisch, auch mit militärischen Interventionen, zur Geltung bringen. Wie jeder Rechtfertigungszwang ist die rhetorische Einigkeit sicher nicht wirkungslos, zwingt dazu Mindeststandards, eine Grundmoral (etwa das Verbot der Sklaverei) mehr oder weniger einzuhalten. Aber auch nur die Grundmoral und nur mehr oder weniger: in der islamischen Welt ohne Gleichstellung der Geschlechter, ohne freie Wahl der Religion, in autoritären Staaten mit eingeschränkten persönlichen Freiheiten und übergeordneten sozialen Pflichten. International war die gemeinsame Grundlage immer brüchig. Wie sich jeder Staat als Demokratie behauptet, sieht sich auch jeder in Übereinstimmung mit den Menschenrechten – in seiner Version.
Im Krieg greifen die moralisch begründeten internationalen Rechtsnormen sowieso nur bedingt – und nur in Ländern, die weltpolitisch im Blickfeld stehen. Hält sich eine Seite nicht an Menschenrechtsnormen, zwingt sie der anderen ihre Kampfweise auf – und beklagt sich dann darüber. Jede Seite sieht sich bei Gewalteinsatz im Einklang mit den Menschenrechten oder nennt triftige Gründe für ihre Einschränkung (Bekämpfung von Kriminellen, Terroristen, Terror als legitimes Mittel des „Freiheitskampfs“).
Mit der unterschiedlichen Interpretation der Menschenrechte und einer multipolaren Welt fällt man in Gruppenmoralen zurück, und das immer mehr auch national. Die westliche Menschenrechtsmoral ist nur noch eine Moral unter vielen – und schon das europäische Verständnis unterscheidet sich vom amerikanischen bezüglich Todesstrafe, Folter. Das universal gemeinte liberale Verständnis, für das der Fortschritt der Moral gerade im Verzicht auf Moral, in der Beschränkung auf die Grundmoral besteht, wird als Bedrohung anderer Lebensformen verstanden und als westlicher Imperialismus denunziert und bekämpft. Nicht mehr die Gruppenmoralen sind heute in der Defensive, sondern der Universalismus, der sich zur Gruppenmoral erklärt sieht.
Damit wird man faktisch in die Freund-Feind-Konstellation gezwungen. Beim Gazakrieg versucht der Westen noch hilflose Menschenrechtsappelle an beide Seiten zu richten, eine quasi universalistische Position zu beziehen, die, sollte sie sich durchsetzen, immer zugunsten der Partei geht, die sich nicht an Menschenrechte gebunden sieht. Im Falle der Ukraine ist man faktisch Kriegspartei, moralisch engagiert und entsprechend zu Kompromissen, die man beim Gazakrieg fordert, nicht bereit.
Die Moralisierung des Krieges macht Friedensschlüsse, die meist erst nach einer Niederlage erfolgen, noch schwieriger. Heute ist es ausgeschlossen, mit der Oblivisionsklausel auf „wohltätiges Vergessen“ des Kriegsgeschehens zu setzen, über Kriegsverbrechen einfach hinwegzusehen. An eine Aussöhnung ist so erst gar nicht zu denken.
Die westlichen Demokratien können ihre Menschenrechtsstandards nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Sie müssen die zentralen Menschenrechte schützen, was, etwa bei der Frage des Umgangs mit Flüchtlingen, schon schwer genug ist. Menschenrechtsverstöße sind „an sich“ nicht hinnehmbar, die für sie Verantwortlichen können keine anerkannten Gesprächspartner sein. Ähnlich sahen das aber auch die Gegner in den Religionskriegen. Bisher hat man die Folgen des Moraleinsatzes beachtet, nach politischer Opportunität entschieden, nur selten und nur gegen schwache Staaten interveniert, hat Weltanschauungskonflikte auf Kosten der Menschenrechte zu Interessengegensätzen entschärft. Jetzt ist man national und international moralisch engagiert, und es ist (noch?) nicht zu sehen, wie die Freund-Feind-Konstellationen auf eine gemeinsame Grundlage und bloße Interessenkonflikte zurückgeführt werden können.
Auf Konfrontationskurs – Die Remoralisierung der nationalen und internationalen Politik[1]
[1] Eine gekürzte Version erschien in der NZZ 11. Mai 2024
Sigbert Gebert, Dr. phil., Dipl.-Volksw., geboren 1959, studierte Philosophie, Politik, Soziologie und Volkswirtschaft in Freiburg (Brsg.) und Basel. Lebt als Privatgelehrter in Freiburg und Zürich. Veröffentlichungen u.a. „Sinn – Liebe – Tod“ (2003), „Die Grundprobleme der ökologischen Herausforderung“ (2005), „Philosophie vor dem Nichts“ (2010), „Summa philosophiae“ (2024), zahlreiche Aufsätze/Essays zu philosophischen, psychologischen, soziologischen, politischen Fragen.