Sieh, ohne zu sehen!

„Aber Großmutter, was hast du nur für große Augen!“
Auch im Zeitalter von Smartphones und Wii-Konsole hat beinahe jedes Kind bei diesem Satz das Bild des kleinen Mädchens im Kopf, das unter seiner roten Mütze hervor ängstlich auf sein Gegenüber blickt, bevor das Unglück in Gestalt des Wolfes seinen Lauf nimmt. In solchen Momenten schlägt die Fantasie der kleinen Zuhörer Purzelbäume, malt Bilder in ihren Köpfen. Märchen wirken auf den Seelen der Kinder ähnlich wie ein frisch gepflügtes Feld. Denn dieses Aufgeraute und Durchackerte macht Luft für die neuen Keimlinge, die darauf wachsen soll. Eine Saat, die der Mensch zum Leben braucht. Mut gehört auf jeden Fall dazu, aber auch die Zuversicht, dass es immer eine Lösung gibt, mag die Situation noch so ausweglos erscheinen. Letztendlich entwickeln sie natürlich Fantasie. Märchen lehren den Kleinen, aber auch den Großen, wie wichtig es ist, auf die innere Stimme zu hören, der Intuition zu folgen.
Nun hat Jonas T. Bengtsson, einer der beachtenswertesten jungen Autoren Dänemarks, ein solches für Erwachsene geschrieben. „Et eventyr“ heißt es im Original, „ein Märchen“. Allerdings ist seine Handlung nur subtil märchenhaft, denn die darüber gelegte Realität schlägt dem Leser so manches mal ziemlich heftig um die Ohren. Er begegnet zu Beginn einem sechsjährigen Jungen, der allein bei seinem Vater lebt. Beide müssen wieder einmal ihren Platz verlassen, um an einem anderen, sicheren Ort unterzukommen. Dort, wo sie vor den Häschern der „weißen Königin“ sicher sind. In der Stadt, in der sie stranden, finden sie eine weitere ärmliche Unterkunft im Hinterhof eines verfallenen Mietshauses. Immer in der Hoffnung für den kleinen Burschen, dass diese länger Heimstatt werden könnte. Der Vater verdingt sich derweil mehr schlecht als recht als Handlanger bei diversen Unternehmen. Wenn der spärliche Lebensunterhalt dennoch nicht zu finanzieren ist, dann, ja dann hat es vielleicht den Anschein, „als würden wir stehlen, aber wir nähmen nur, was wir dringend brauchten, und das sei nicht schlimm.“, erklärt ihm sein Vater. Zur Schule geht der Junge gleichfalls nicht. Doch er hat in seinem Vater einen exzellenten Lehrer, der ihm neben Lesen und Rechnen etwas noch viel Wichtiges beibringt: zu sehen! „Mein Vater sagt, dass die meisten Menschen die Welt nicht sähen. (…) Die meisten sehen nur, was sie wollen. Sie trauen sich nicht, die Welt zu sehen, wie sie ist. (…) Dass man etwas nicht sieht, heißt nicht automatisch, dass es nicht existiert.“.
„Irgendwann haben wir aufgehört, an Dinge zu glauben, die wir nicht verstehen. Die feinen Nackenhaare sind uns ausgefallen, seit wir in Städten wohnen.“ Diese vergessenen Instinkte der Menschheit lehrt der Vater seinem Sohn an den immer wieder wechselnden Lebensplätzen zu aktivieren. Der kleine Bube, aus dessen Sicht der Roman in der Ich-Form erzählt wird, benutzt dafür seine Augen wie Kameras. Die Erlebnisse seiner über große Strecken allein entdeckten Kindheit fokussiert er Tag für Tag und bannt sie danach auf Papier. Zeichnend verarbeitet er seine Erlebnisse und Eindrücke. Die tägliche Abendgeschichte des Vaters, die er seinem Jungen vor dem Einschlafen erzählt, kumuliert sein „verstehende Archivieren“ noch. Dieses Märchen handelt von einem König und einem Prinzen, die in die Welt hinausgezogen sind, um die „Weiße Königin“ zu töten, die die Menschen mit einem Zauber belegt hat. „Der König und der Prinz sind nämlich die letzten Menschen, die die Welt noch sehen können, wie sie wirklich ist. Die Einzigen, die nicht vom Zauber der Weißen Königin geblendet sind.“
So begleitet der Leser Vater und Sohn über vier Jahre, beginnend im Jahr 1986, auf ihrer „Odyssee“ oder „Mission“ durch die untersten Schichten der Gesellschaft. Um die Ursache dieses gesellschaftlichen Abstiegs bleibt weitestgehend Ungewissheit. Eines wird allerdings klar, sein Vater befand sich nicht immer auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter. Im Jahr 1989 kumuliert das schon diffus zu erahnende Zusammentreffen von Fiktion und Realität zu einem dramatischen (vorläufigen) Endpunkt. Zehn Jahre später setzt der Roman wieder ein, um erneut über vier Jahre den nun herangewachsenen, immer noch malenden Jungen („Ich werde die ganze Welt zeichnen, sonst gerät sie aus den Fugen.“) auf der Suche nach dem Geheimnis um seinen Vater zu begleiten. Und wieder steht die Frage im Raum: Kann der Bann der „Weißen Königin“ gebrochen werden? Vielleicht ist er es schon…
Ohne Fantasie gibt es keine Märchen, aber ohne Märchen haben wir auch keine Fantasie. Für den Gehirnforscher Gerald Hüther sind Märchen das beste Doping für die grauen Zellen, da es kaum etwas besseres für Kinder gibt, als ihnen zu helfen, sich in die Figuren hineinzuversetzen. Und diese versteht der dänische Autor auf imposante und nachhaltige Art und Weise anzuregen. Jonas T. Bengtsson hat einen tief beeindruckenden, einen großartigen Roman geschrieben. „Wie keiner sonst“ ist ein Buch, das man nicht aus den Händen legen kann, eine umwerfende Geschichte, die einen förmlich atemlos durch die Zeilen treibt. In kurzen und prägnanten Sätzen entwickelt er eine Aura, nein, nicht unbedingt des Märchenhaften, obwohl dessen Elemente durchaus enthalten sind, sondern eher des diffus Diffizilen, des raffiniert Sensiblen und heikel Unerklärlichen. Mit den Augen des Ich-Erzählers führt der dänische Autor nicht nur seinen literarischen Helden, sondern auch den Leser an das Sehen heran, gestattet ihm verlässliche Differenzierungen zwischen Gut und Böse. Auch wenn die Erzählung zutiefst emotional ist, so changiert sie doch weitab von weinerlichem Pathos und Rührseligkeit. Frank Zuber, der den Text aus dem Dänischen ins Deutsche übertragen hat, trifft Bengtssons Ton großartig. Auch ihm ist es zu verdanken, dass eine derart spannungsgeladene Aura über dem Buch und seiner Handlung liegt.
Fazit: Jonas T. Bengtssons Roman vermittelt, ganz genau wie es Märchen tun, eine Botschaft: dass es nichts Traurigeres gibt, als keinen Sinn in seiner Existenz zu finden – und nichts Tröstlicheres als die Tatsache, dass jeder eine Aufgabe hat in diesem Abenteuer, das Leben heißt und manchmal wie ein (bitterböses) Märchen ist.

Jonas T. Bengtsson
Wie keiner sonst
Aus dem Dänischen von Frank Zuber
Titel der Originalausgabe: „Et eventyr“
Kein & Aber Verlag (Februar 2013)
447 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3036956689
ISBN-13: 978-3036956689
Preis: 22,90 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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