Die Folgen der Stasi bis heute

Stasi, Rechte: SGL

Zwanzig, dreißig, vierzig Jahre sind im Lauf der Geschichte ein Klacks, doch dem Einzelnen können sie als  eine endlose, bleierne Zeit vorkommen, besonders dem, der einst wie der zweimal wegen kritischer  Malereien eingesperrte Künstler Sieghard Pohl die „Menschenveredelungsanstalt“ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) absolvieren musste. Zwischen 1950 und 1990 waren Millionen Bewohner der beiden Teile Deutschlands neben einigen Ausländern mit dem MfS, heute kurz Stasi genannt, in  Berührung gekommen oder bekamen deren Auswirkungen mehr oder weniger zu spüren. Die wenigsten davon würden sich als Opfer empfinden, denn Hunderttausende profitierten während dieser Jahre als inoffizielle Mitarbeiter (IM) – als Zuträger, Denunzianten und Spitzel – oder gar als hauptamtliche „Kämpfer an der unsichtbaren Front“ in günstiger Weise von dieser Verbindung oder einträglichen Anstellung.

Es gibt also mindestens zwei Perspektiven – von der Betrachtungsweise mutiger Stasi-Aussteiger einmal abgesehen – aus denen das Wirken des militanten Instruments der SED und die Folgen bis in die Gegenwart zu bewerten sind. Leider lässt sich bestätigen, was besonders die Opfer schmerzhaft wahrnehmen, dass die „Täter“ im Großen und Ganzen ungeschoren davongekommen sind, obwohl sie massenhaft gegen Menschenrechte verstoßen haben. Sie begründen oft ihr ruchloses Handeln damit, dass sie glaubten, einer „guten Sache“ gedient zu haben, zum Beispiel dem Frieden, der Verteidigung der Heimat oder den angeblich humanen Idealen des Kommunismus und Sozialismus. Das entlastet sie nach Meinung vieler Politiker und Richter von ihren massenhaft begangenen kriminellen Taten an Menschen, Natur, Religion, Kultur, Wirtschaft und Zivilisation, da eine strafrelevante Vorsätzlichkeit ihres Tuns nicht nachweisbar oder zu unterstellen sei. Im Gegensatz zu den Nationalsozialisten, denen der Massenmord schon im Programm nachgesagt wird, schonte man also die Realsozialisten, als ob heute nicht jeder – spätestens nach dem Erscheinen des „Schwarzbuches des Kommunismus“ – wissen könnte, dass die Opferzahl der internationalen Sozialisten dreimal höher ist als die der Nationalsozialisten. Der ebenfalls zum Demokraten geläuterte Ex-Maoist Gerd Koenen schrieb dazu lapidar:

„Wenn Auschwitz das ‚absolute Böse‘ war, dann ist alles andere eben relativ. Das ist allerdings der absurdeste Gebrauch, der sich von dieser Menschheitserfahrung machen lässt.“

Wer die Ideologie des Marxismus genau studiert, auf die sich alle Massenmörder von Lenin über Trotzki, Stalin, Mao Tse-tung bis hin zu Pol Pot beriefen oder wie Kim Jong-un und Putin weiterhin mehr oder weniger offen berufen, wird dort humanes Gedankengut in sinnvollen Zusammenhängen auch mit der größten Lupe nicht finden, dafür neben lächerlichen Utopien jede Menge Hass gegen alles und jeden. Unzählige Straßen und Plätze sind noch immer im ehemaligen Ostblock nach diesen „Jakobinern“ und Widersachern des Humanismus benannt. Noch konsequenter als die Nationalsozialisten verkehrten die Realsozialisten alle Werte der Zivilisation in ihr Gegenteil. Im Namen der Arbeiterklasse wurden die Arbeiter im Arbeiter-und-Bauern-Staat schlimmer ausgebeutet als in jedem vergleichbaren „kapitalistischen“ Land; Verrat und Denunziation wurden zur revolutionären Tugend erhoben; im Namen der „objektiven Wahrheit“ brachte man es fertig, aus einem Gemisch von Lüge, Betrug und Utopie unter der Etikett „Marxismus-Leninismus“ eine Wissenschaft zu machen, um die Realität durch eine Fiktion ersetzen zu können; den Untertanen musste das historische Gedächtnis ausgelöscht werden, um ihre Geschichte im marxistischen Sinne neu zu erfinden, während man zynisch verkündete, sie seien gerade dabei, „Geschichte zu machen“; man isolierte die Bewohner im Zeichen des Internationalismus vom Rest der Welt; man beraubte Millionen ihres Eigentums, ihrer Freiheit und persönlichen Würde, und das stets in Übereinstimmung  mit dem von Marx angeblich erkannten Geschichtsgesetz; und schließlich ließ man mit unerschütterlich gutem Gewissen Menschen zu Hunderten an der Berliner Mauer und der Grenze zum Klassenfeind abknallen, Hunderttausende einsperren – alles im Namen der Freiheit, ja, der gesamten friedliebenden Menschheit und ihres Fortschritts.

Nur wenige „Täter“ brachten Mut, Einsicht und Anstand auf, wie zum Beispiel Ex-Politbüromitglied Günter Schabowski, sich bei den Opfern zu entschuldigen, Verantwortung nicht zu bestreiten oder sogar eine Strafe anzunehmen. Das konnte jedoch nur dem gelingen, der sich gründlich und ehrlich mit den Gründen des Scheiterns der Ideologie und DDR-Wirklichkeit auseinandergesetzt hat. Wenige, zumeist unentwegte Verantwortungsträger des MfS brachten sich unmittelbar nach dem Zusammenbruch ihrer Ordnung ums Leben, sei es aus Schuld- und Schamgefühl oder in Angst und Panik. Mit Anstand und Mut hat das wenig zu tun. Doch die übergroße Mehrheit der Täter und schuldhaft Verstrickten, also Parteibonzen und Feindbildeinpeitscher, kam bevorrechtet in der demokratischen Ordnung an, da sie ihre weit über dem Durchschnitt liegenden Gehälter nun als dementsprechend hohe Renten vergütet bekommen, um nur ein befremdendes Beispiel anzuführen. Außerdem haben sie sich in der vorerst zur PDS umbenannten SED, in deren Umfeld „Milliarden öffentlicher Gelder versickerten“ (Hubertus Knabe), ein mächtiges Instrument sowie einen wirkungsvollen Interessenvertreter bis in die höchsten Gremien unseres Staates, sogar bis ins Europaparlament hinein bewahren und gehörig ausbauen dürfen.

Die Leidtragenden hingegen scheinen, wie Spötter anmerken, nur damit beschäftigt zu sein, noch immer ihre Wunden zu lecken und sich untereinander zu streiten. Das stößt die modernen Medienvertreter und Zeitgenossen ab, die lieber Solidarität mit jenen üben, die auf anderen Erdteilen leiden. Bisher hat es keine Bundesregierung fertiggebracht, die zwar juristisch entschuldigten jedoch keinesfalls „angemessen“ entschädigten Opfer der zweiten Diktatur in Deutschland den Opfern der ersten Diktatur gleichzustellen, wie das in Sonntagsreden auf oberster politischer Ebene mehrmals gefordert worden war. So kam es nicht nur dazu, dass die Schere zwischen den ehemals bevorzugten  Schergen der zweiten deutschen Diktatur und den Betroffenen immer weiter auseinander ging, sondern überdies zu der absonderlichen Schieflage, dass von den Opfern des NS-Regimes 95 % Versorgungsleistungen ihrer Gesundheitsschäden wegen erhalten, von denen des SED-Regimes  hingegen 95 % keine. Immerhin wurde nach 31 Jahren eine „Bundesbeauftragte für die Opfer der  SED-Diktatur“ zugelassen. Was das bringt, bleibt abzuwarten. Sie hätte vor allem den Politikern das Buch „Opferentschädigung nach zweierlei Maß?“ der leider jung verstorbenen Rechtsanwältin Ulrike Guckes unter die Augen zu halten.

Von jenen, die noch unter Stalin die grausamsten Haftverhältnisse erdulden mussten, ob in Sibirien oder hierzulande, lebt ohnehin kaum noch eine oder einer. Es ist deshalb wichtig, die auffälligsten Folgen aus der Perspektive derer zu beleuchten, die sich bewusst dem demokratiefeindlichen System  des Realsozialismus widersetzten oder entfliehen wollten und daraufhin gezwungen wurden, in bis vor kurzem Europas längster Friedensperiode deutsche Geschichte wieder grausam erleiden zu müssen. Da die Opfer und Widerstandleistenden zwar rechtlich rehabilitiert, ihre Peiniger jedoch in den seltensten Fällen zur Verantwortung gezogen wurden, empfinden sich viele nur als „Phantom-Opfer“, das heißt, sie fühlen sich noch immer nicht ernst genommen. Als sie nach Jahren aus den Stasi-Gefängnissen, Zuchthäusern und Lagern wieder auftauchten, waren sie für ehemalige Kollegen, Freunde, Hausbewohner, Bekannte und Verwandte oft „nichts als eine Verlegenheit“ (Jean Améry). Dabei hatte sich für sie so vieles grundlegend verändert. Nicht nur die Berufs- oder Ausbildungsmöglichkeit wurde ihnen in der Regel entzogen, sondern oft auch den Kindern. Nicht selten gerieten sie in die Lage, selbst nach dem Freikauf in den Westen, ihre Glaubwürdigkeit beweisen zu müssen, als hätten sie etwas wieder gutzumachen. Den „Politischen“ wurde grundsätzlich kein Urteil ausgehändigt. Zu den Gerichtsprozessen im Namen des Volkes wurde das Volk zumeist ausgesperrt. Vielen war deshalb der Einblick in die Stasi- und Gerichtsakten nach dem Zusammenbruch der DDR zunächst eine große Genugtuung. Doch es gab auch das große Erschrecken über die Verrätereien von jenen,  die man für integre Würdenträger, enge Freunde oder sogar für liebende Ehepartner gehalten hatte. Aus Gründen des Selbstschutzes vor solchen grauenerregenden Entdeckungen und Enttäuschungen wollen einige Opfer gar nicht in ihre Akten sehen.

Einer der bedeutendsten deutschen Gegenwartsschriftsteller, 1929 in der mecklenburgischen Hansestadt Rostock geboren, war Walter Kempowski. Er hatte sich als Jugendlicher zu neugierig für das Beutegut der Sowjets interessiert und bekam dafür 25 Jahre Zuchthaus aufgebürdet. Davon saß er acht Jahre in Bautzen ab. Als er 1956 in das westdeutsche Wirtschaftswunderland kam, versagte man ihm die Anerkennung als politischer Gefangener, damit auch die Entschädigungsansprüche. Heute sitzen in Mecklenburg-Vorpommern die SED- Kader mit in der demokratisch gewählten Regierung. Kein Wunder, dass ihm seine Heimatstadt „nach wie vor mit beleidigender Ignoranz“ behandelt. Hiervon lässt sich ableiten, mit welchem Desinteresse erst diejenigen geschlagen sind, die sich weder einen großen Namen machen noch sonst wie Gehör verschaffen konnten. In der Tat, diejenigen, die einst unter Bedingungen eines totalitären Systems für Freiheit, Menschenrechte und Wiedervereinigung gekämpft hatten und dabei ihre Freiheit, Gesundheit, Karriere und Familie, in einigen Fällen sogar ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, dürften nur wenige Fürsprecher in unserer  Spaß- und Wohlstandsgesellschaft haben. Der Sprecher einer kleinen Gruppe, die für die Interessen der Opfer des Kommunismus manchen Sonnabend vor dem Berliner Sitz des Bundespräsidenten demonstrierten, sagte in einem Interview:

„Ich glaube, sehr viele der Betroffenen müssen sich einfach als Betrogene fühlen, solange in Festansprachen der Oberen noch die Worte Gerechtigkeit und Menschenwürde vorkommen. Die Verblüffung, die der Widerwille der meisten verantwortlichen Politiker zur Unrechtbereinigung, das Schweigen der Kirchen und Parteien seit 1989/90 bei den Verfolgten erzeugt hat, führte bei vielen zu bitterer Resignation.“

Straflos davon gekommene Stalinisten und Profiteure der zweiten Diktatur durften hingegen wie der Altkommunist Paul Korb im öffentlich-rechtlichen Fernsehkanal ARD skrupellos und unwidersprochen verkünden:

„Ich habe das Kaiserreich erlebt, die Weimarer Republik, das Nazireich, die DDR, aber das jetzt ist das Schlimmste, was ich erlebte.“

Dieser gelernte Klempner und Lackierer, der 1927 der KPD beitrat und von 1933 an knapp drei Jahre im KZ Zschorlau und anschließend im KZ Sachsenburg eingesperrt war, übernahm nach dem 2. Welt-krieg im erzgebirgischen Schwarzenberg, das über ein Jahr lang von keiner alliierten Besatzungsmacht besetzt war, sowohl das städtische Polizeiamt als auch das Melde- und das Standesamt. Diese Funktionen waren der Anlass für eine Vielzahl von Ehrungen, die er später in der DDR erhielt. Ab 1956 war er für die Stasi tätig. Später arbeitete er als Leiter der Abteilung Kader beim Rat des Kreises, bald als erster stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises und als Stellvertreter für Inneres und Vorsitzender der Plankommission in Schwarzenberg bis 1961. Dann gab er aus gesundheitlichen Gründen alle Ämter auf. Er wurde nach dem Zusammenbruch seiner geliebten DDR trotz Krankheit fast 98 Jahre alt und bekam bis 2002 seine dicken Funktionärsrenten plus 700 €uro Ehrenpension für seine Haftzeit von jenem Staat weiterbezahlt, den er schlimmer als das Nazi-Regime empfand.

Wer jedoch unter dem ebenfalls totalitäreren und von den Sowjets besetzten System der Kommunisten über zehn Jahre unschuldig in Zuchthäusern zu leiden hatte, bekommt keine Zusatzrente. Dass diese einst 250.000 Betroffenen, von denen nur noch weniger als 100.000 am Leben sein dürften, resignieren und sich deshalb nicht empört zu Massendemonstrationen oder Autobahn-Besetzungen durchringen können, lässt sich als das nachwirkende „Verdienst“ von Stasi-Methoden begreifen. Sie haben nicht nur vielen das Selbstbewusstsein zerstört, sondern unter dem Begriff „Zersetzung“ Zwietracht gesät, die nicht selten bis heute unvermindert unter Freunden, Kollegen, Kommilitonen und Geschwistern anhält.

Dazu ein abschließendes Beispiel:

Am 30. Mai 1968 läuteten in Leipzig alle Kirchenglocken, doch sie konnten weder die Detonation übertönen noch die Sprengung der spätgotischen Universitätskirche Sankt Pauli verhindern. Auf Geheiß Walter Ulbrichts musste die kunsthistorisch bedeutungsvolle Kirche, die alle Kriege überlebt hatte, in Schutt und Asche gelegt werden. Der Schriftsteller Erich Loest, der als einstiger Kommunist und späterer Häftling lange Zeit in Leipzig lebte, hinterließ den Satz: „Wir wussten: Wir erleben eine Barbarei.“

Gern hätte ich wie viele Leipziger auch gegen die Sprengung vor Ort protestiert, doch ich hatte nach meinem 2. Rausschmiss vom Studium Dienst als Motorbootfahrergehilfe auf dem Elsterstausee. Der Physiker Dr. Dietrich Koch wurde dort unter den Protestierern von den wachsamen Augen der Staatsschützer gesehen.  Daraufhin wurde er von seinem Arbeitgeber, der Akademie der Wissen-schaften der DDR, fristlos entlassen. Kurz darauf konstruierte er gemeinsam mit seinem Bruder Eckhard einen zeitgesteuerten Auslösemechanismus, der während der Abschlussveranstaltung des III. Internationalen Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerbs in der Leipziger Kongresshalle am 20. Juni 1968 ein großes Plakat mit der Forderung nach dem Wiederaufbau der Paulinerkirche entrollte. Dieser Skandal löste immerhin internationale Beachtung aus.

Drei Jahre lang versuchte die Stasi mit großem Aufwand, jedoch vergebens der Täter habhaft zu werden. Dem Initiator und einem anderen Mittäter gelang nach der Aktion die Flucht in den Westen. Dort gerieten sie an Bernard Langfermann, der einst die Leipziger mit Literatur aus dem Westen versorgt hatte und deren Vertrauen genoss. Dieser er war jedoch Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins und mutierte bald aus innerer Überzeugung zum Stasi-Mitarbeiter unter dem Decknamen „Boris Buch“. Er ging im Januar 1970 von sich aus zur Stasi in Ost-Berlin und verriet alles: jene Leipziger Freunde, die er mit Büchern versorgt hatte und schilderte die ihm nun bekannten Hintergründe des Vorfalls beim Bachfest und gab so auch den Namen Dietrich Kochs preis. Desweiteren verriet er Namen von jenen, die nach den Westen wollten.

Mehrere wurden daraufhin verhaftet. Dietrich Koch wurde jedoch als Einziger für diese Plakataktion in der Kongresshalle verurteilt. Bereits 1969 hatte ihm Carl Friedrich von Weizsäcker eine Beschäftigung an seinem Institut und Unterstützung für eine legale Ausreise aus der DDR angeboten. Dafür wurde Koch zusätzlich wegen staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme, staatsfeindlicher Gruppenbildung, staatsfeindlichen Menschenhandels und Vorbereitung des „ungesetzlichen Grenzübertritts“ sowie „staatsfeindlicher Hetze“ angeklagt. Dietrich Koch, der standhaft blieb und dem aus ethisch-christlichen Gründen das Lügen schwerfiel, wusste, dass es dennoch nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar moralisch geboten war, „um sich mit dieser Staatsverbrecherbande nicht gemein zu machen – auch nicht durch die Wahrheit“. Da er nur das Nötigste zugab, konnte er lediglich zu zweieinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt werden.

Damit gab sich die Stasi jedoch nicht zufrieden, sodass er anschließend eine unbegrenzte Einweisung ins Psychiatrische Haftkrankenhaus Waldheim erhielt. Zum Glück wollte sich der damals neue Staatsratsvorsitzende Erich Honecker beliebt machen und erließ zum „Tag der Republik“ 1972 eine großzügige Amnestie, Erichs Krönungsamnestie genannt. Zigtausende kriminelle und politische Häftlinge kamen frei, was der Wirtschaft schweren Schaden zufügte, weil das Zwangsarbeitssystem in den Haftanstalten zusammenbrach, wovon besonders viele westdeutsche Unternehmen profitierten. Die universal wirkende Weltgeschichte revanchierte sich auf ihre Weise und fegte das fürsorgliche System zwanzig Jahre später auf die Müllhalde. Ende gut – alles gut? Leider nicht.

Es gehört in einem Unrechtsstaat zu den leichteren Übungen, Freundeskreise und Gleichgesinnte im Gefängnis, die auch während der Untersuchungshaft keinen Rechtsbeistand beanspruchen dürfen, durch Versprechungen, Erpressungen, Lügen, Fälschungen, Drohungen, Misshandlungen, also durch psychologische Folter untereinander auszuspielen und zum gegenseitigen Verrat zu verführen. Ich muss das hier deutlich betonen, denn es gibt leider Anzeichen, dass wir auch im sogenannten freien Westen solchen Verhältnissen, bedingt durch die Corona-Plandemie und das immer dreistere Auftreten sozialistischer Presse-Agitatoren und Politiker, entgegensteuern.

Der Physiker und spätere Philosoph Dr. Dietrich Koch, dessen Erfahrungen ich gut nachvollziehen kann, weil wir nicht nur mit einem Jahr Abstand denselben Stasi-Vernehmer, dieselbe Beschuldigung „staatsfeindliche Hetze“, sondern auch Erfahrungen in der „Klapsmühle“ Waldheim und die vorzeitige  Entlassung durch die Amnestie gemeinsam haben. Er schilderte und dokumentierte alles in seinem dreibändigen Werk „Das Verhör“ genau und überzeugend.

Obwohl heute alle ehemaligen „Freunde“ in einem freiheitlichen Rechtsstaat leben, viele zudem in gehobener Position, sei es als Beamter einer Landesregierung, als Pfarrer, Hochschullehrer oder weltweit anerkannter Wissenschaftler, leiden sie fast alle – wie es hauptsächlich für Spitzel und SED-Verantwortungsträger typisch ist – selber an chronischen Verdrängungssyndromen, ohne es sich eingestehen zu können. Einige versuchten, ihre abenteuerlichen Flucht- oder Hafterlebnisse in Büchern oder langen Artikeln zu bewältigen, die sich spannend lesen und plausibel auf jene wirken, die wenig Ahnung von den tatsächlichen Verhältnissen haben. In Wirklichkeit, und das beweisen nun auch dem Außenstehenden die Protokolle und Unterlagen, haben sie vergessen, dass sie aus Schwäche in der Stasi-Haft zu Verrätern an Freunden und Verwandten geworden waren; sie also unter den heute kaum vorstellbaren Umständen der Untersuchungshaft zu Kollaborateuren jener werden ließ, die man im Tiefsten eigentlich verabscheute. Jeder, der in einem Unrechtsstaat mehr als sein Geburtsdatum zugibt, hat am Ende immer zu viel preisgegeben. Das ist leicht gesagt, doch unendlich schwer durchzuhalten.

Die Mutter eines Zwillingspaares, die mit dem Versprechen, dass sie zu Weihnachten wieder bei ihren Kindern sein könne, wenn sie „auspacken“ würde, bekam, obwohl sie dann mehr zugab als nötig gewesen wäre, nach zweijähriger Untersuchungshaft eine fünfeinhalbjährige Freiheitsstrafe zudiktiert. Obwohl sie vorzeitig in den Westen freigekauft wurde und bald als Gymnasiallehrern arbeiten konnte, musste sie diesen geliebten Beruf bald wieder aufgeben. Eine heimtückische Krankheit suchte sie heim, unter der sie lange litt und schließlich daran starb. Dietrich Koch, der wie kein anderer zuvor schonungslos diese Geschichte aufdecken wollte, wurde von seinen Ex-Freunden auf verschiedenste Weise bedroht; sie setzten Himmel und Hölle in Bewegung, das Erscheinen des Buches „Das Verhör“ zu verhindern. Ein schon versprochenes Vorwort eines Ministers sowie Veröffentlichungsangebote wurden zurückgezogen, Institutionen, Verleger und Unterstützer mit Protestbriefen und Falschmeldungen behelligt, nur weil es sich Intellektuelle selber nicht verzeihen wollen, dass sie einmal fanatisierten Geheimpolizisten auf den Leim gegangen waren – hilflos, ängstlich, verzagt und versagend.

Aus einem Dresdner Freundeskreis, der sich den Künsten verbunden fühlte und durch die Stasi ebenfalls „erfolgreich zersetzt“ wurde, in dem zeitweise auch der im Westen einst hochge- priesene Autor Sascha Anderson als Stasispitzel sein Unwesen trieb, gelangte noch zehn Jahre nach der Maueröffnung folgender Satz aus einem persönlichen Brief eines seiner Kumpanen in die Öffentlichkeit:

„Ich bin noch kräftig genug, Dir bei einer zufälligen Begegnung so in die Fresse zu hauen, dass Du ohne Lufthansa ins Bayrische fliegst, wohin Du sowieso willst, und wo Du kompostieren kannst.“

Der Briefempfänger gelangte schon 1976 nach zweimaliger Haft wegen „staatsfeindlicher Hetze“ in den Westen. Nach dem Fall der Mauer wollte er sich in alter Verbundenheit zu seiner Heimat dort nützlich machen. Was ihm jedoch neben vielem Positiven an aufgestautem Hass, Frust, Neid, Intrigen und psychischen Verletzungen begegnete, gehört neben der religiösen Entwurzelung der ehemaligen DDR-Bevölkerung zu dem giftigen Erbe der SED- und Stasi-Diktatur. Es wird noch einige Zeit und Geduld nötig sein, um auch die innere Wiedervereinigung unter uns Deutschen erleben zu können; vor allem, wenn man nicht versucht, dieses zweite Terrorregime auf deutschem Boden schön zu reden oder gar zu ignorieren. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien.

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Über Siegmar Faust 46 Artikel
Siegmar Faust, geboren 1944, studierte Kunsterziehung und Geschichte in Leipzig. Seit Ende der 1980er Jahre ist Faust Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), heute als Kuratoriums-Mitglied. Von 1987 bis 1990 war er Chefredakteur der von der IGFM herausgegebenen Zeitschrift „DDR heute“ sowie Mitherausgeber der Zeitschrift des Brüsewitz-Zentrums, „Christen drüben“. Faust war zeitweise Geschäftsführer des Menschenrechtszentrums Cottbus e. V. und arbeitete dort auch als Besucherreferent, ebenso in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er ist aus dem Vorstand des Menschenrechtszentrums ausgetreten und gehört nur noch der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik und der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft an.