In der griechischen Antike vermutete man die Götter in einer höheren Sphäre, metaphorisch hoch oben auf dem Olymp, von wo sie neben ihren eigenen verwickelten Familienangelegenheiten auch die Menschen beobachteten und hier und da in deren Leben eingriffen, oft genug in ihre Liebeshändel, aber noch mehr in ihre Kriege. Würden sie uns im Jahre 2022 derart von oben herab und mit einem weltweiten Überblick betrachten können, würden ihnen sicher zahlreiche Probleme sofort ins Auge fallen. Von oben sehr gut sichtbar wären die wachsenden Umweltprobleme, die Ausbreitung von Dürrezonen, Flutkatastrophen und Tornados, das Ausufern der Städte und in der Nacht die Lichterflut ihrer Beleuchtung. Beim Beobachten der Menschen würde ihnen auffallen, dass erstaunlich viele damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu massakrieren oder solche Massaker durch die Entwicklung neuer Waffensysteme und Aufrüstung technisch vorzubereiten. Drohnen- und Cyberkrieg und die Fernsteuerung aus dem All scheinen im Moment viele alte Konzepte obsolet zu machen.
Rüstungsausgaben weltweit
Weil bekanntlich der Beste nicht in Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt (Friedrich Schiller), und weil es heute allzu viele Länder gibt, die ihre Nachbarn für gefährlich halten, wird in militärische Rüstung investiert wie selten zuvor, wenigstens seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI hat die weltweiten Rüstungsausgaben 2021 mit mehr als zwei Billionen Dollar berechnet, in Zahlen erschreckende 2.113.000.000.000 US$ (Quelle: Trends in World Military Expenditure, 2021 | SIPRI). Den weitaus größten Anteil davon investieren die USA in ihre vermeintliche Sicherheit, offiziell mehr als 800 Milliarden. Einige Beobachter rechnen noch die verschiedenen sicherheitsrelevanten Behörden wie CIA, FBI oder NSA dazu, die das gesamte Budget über die Billionengrenze erhöhen. China liegt bei stetig steigender Aufrüstung mit geschätzten 290 Milliarden weit dahinter und Russland gibt mit knapp 66 Mrd. sogar weniger aus als Großbritannien, wenigstens bis zum 24. Februar. Dagegen steigerten die europäischen Nato-Staaten ihre Militärausgaben 2021 um 3,1 Prozent auf 342 Milliarden US-Dollar, zusammen also mehr als fünfmal so viel wie Russland. Dieses eklatante Ungleichgewicht hatte offenbar wenig oder keinen Einfluss auf Sicherheitsempfinden oder Bedrohungsgefühle in der europäischen Politik und Militärstrategie. Die NATO bereitet sich durch Planung und Manöver darauf vor, dass Russland auch die Baltischen Staaten oder Polen angreifen könnte, im Extremfall sogar Schweden, Norwegen und Finnland. Deutschland will in den nächsten Jahren zusätzliche 100 Milliarden in die Nach- und Aufrüstung der Bundeswehr investieren, und die Ukraine fordert mehr schwere deutsche Waffen mit der Begründung, dass auch Deutschland bedroht sei, wenn Russland gewinnt. Dabei zeigen die vergangenen acht Kriegsmonate eigentlich mehr die Schwächen der russischen Armee in Strategie, Ausrüstung, Taktik, Logistik und nicht zuletzt Motivation der Truppen. Die Zielvorgabe des amerikanischen Verteidigungsministers Lloyd Austin, Russland militärisch so zu schwächen, dass es nie wieder angreifen kann, scheint inzwischen längst erreicht. Als unberechenbare Bedrohung bleiben nur die russischen Atomwaffen und die Gefahr eines Dritten Weltkriegs, falls sie in der Ukraine eingesetzt werden sollten.
Die Bewaffnung der Ukraine
Seit der Unabhängigkeit 1991 war übrigens auch die Ukraine ein erfolgreicher Waffenexporteur mit einer Reihe staatlicher Firmen und dem Knowhow aus der sowjetischen Ära. Nach der Krim-Annexion 2014 hörte der Export weitgehend auf, weil die ukrainische Armee massiv aufgerüstet wurde und Waffen und Munition selbst brauchte. In der SIPRI-Statistik der 40 Länder mit den höchsten Militärausgaben rangiert die Ukraine mit geschätzten 5,9 Milliarden auf Platz 36 – Deutschland zum Vergleich wie bereits ein Jahr zuvor auf Platz 7. 2014 begann die Militärhilfe der USA, die sich inzwischen auf offizielle 18 Milliarden Dollar summiert hat. Der gesteigerte Waffenbedarf lockte aber auch private Anbieter und Zwischenhändler an, die Kontrollen und Sanktionen leichter umgehen können. Zwar hat die Biden-Regierung die administrativen Hürden gelockert und die Genehmigungsverfahren stark beschleunigt, aber in den USA wachsen Sorgen, dass die Waffen in die falschen Hände geraten und gegen die eigenen Interessen eingesetzt werden könnten. Die New York Times schrieb dazu am 6. Oktober, dass die Ukraine auch private Angebote braucht, um ihren Bedarf an Waffen und Munition zu decken (Some Unlikely Dealers Are Selling Weapons to Ukraine – The New York Times (nytimes.com)). Der Artikel beginnt mit dem Beispiel von zwei Ukrainern in den USA, die vorher nichts mit Waffenhandel zu tun hatten, nun aber Raketen, Granatwerfer und Munition für 30 Millionen Dollar aus den USA, Bulgarien und Bosnien an das ukrainische Verteidigungsministerium verkaufen. Deshalb wachse die Sorge, dass über diesen grauen Markt Waffen an Terroristen und sonstige Feinde der USA gelangen. Von privaten Waffengeschäften im Wert von 15 Millionen Dollar 2021 seien die vom State Department genehmigten Lieferungen in den ersten vier Monaten 2022 bereits auf 300 Millionen gestiegen. Man darf auch vermuten, dass die Ukraine nicht wählerisch mit Angeboten aus Drittländern umgeht, die westlichen Finanzhilfen machen vieles möglich. Aber der Schwarzmarkt liefert auch an Russland. CNN berichtete am 22. Oktober, dass das US-Justizministerium gegen eine Reihe von Händlern und Firmen vorgeht, die Waffen, einschließlich nuklearer Bauteile, an Russland liefern, teilweise auch Material, das aus den ukrainischen Schlachtfeldern abgezweigt wird (Multiple foreign nationals charged in alleged schemes to send military technology to Russia | CNN Politics). Dass die Selensky-Regierung solche Berichte als russische Propaganda und Fake News abtut versteht sich von selbst. Zu denken gibt aber, dass amerikanische Politikwissenschaftler in dem NYT-Artikel mit der Einschätzung zitiert werden, dass die Ukraine auch nach einem Ende des Krieges ein Umschlagplatz für illegale Waffenverkäufe bleiben wird.
Waffenschmieden ohne Kontrolle?
Wie weit die in der westlichen Welt kommerziellen Waffenschmieden mit ihren Exporterlösen in die Gesamtbeurteilung der Rüstungsausgaben eingehen, wird schwer zu beziffern sein. Sie sind auf jeden Fall höchst lukrativ, weil Verteidigungsausgaben in Krisenzeiten und besonders bei Kriegsbeteiligungen leicht bewilligt werden. Zu den 15 größten Waffenherstellern weltweit gehörten 2020 allein sieben amerikanische Firmen, allen voran Lockheed Martin mit 58,2 Milliarden Dollar und an zweiter Stelle Raytheon Technologies mit knapp 37 Milliarden. Die drei chinesischen Firmen, die den amerikanischen Giganten bereits auf den Fersen sind, Norinco, Avic und CETC, produzierten zusammen Kriegswaffen für 49,5 Milliarden, in Europa ist nur die britische BAE Systems mit 24 Milliarden unter den großen 15. Gemeinsam ist wohl allen Firmen, dass sie höchst innovativ an der ständigen Verbesserung der letalen oder defensiven Wirkung ihrer Waffensysteme arbeiten. Auch Deutschland gehört zu den erfolgreichsten Waffenexporteuren, erreicht aber 2021 nur neun Milliarden Euro Umsatz. Wie der Beschaffungsskandal für die malaysische Marine in den letzten Monaten gezeigt hat, sind in der gesamten Branche überzogene Provisionen sowie Scheinfirmen und Zwischenhändler nicht unüblich, in diesem Fall auch bei dem deutschen Marktführer Rheinmetall. Die amerikanischen Waffenfirmen beschäftigen ein Heer von Mitarbeitern und werben in den USA als „army friendly employer“ zahlreiche Soldaten an, die relativ jung aus dem aktiven Dienst ausscheiden. Von den Führungsetagen der großen Hersteller gibt es zudem die berühmte Drehtür in entsprechende Regierungspositionen. Ein prominentes und aktuelles Beispiel ist Verteidigungs-minister Lloyd Austin, der von der Armee zum Rüstungsgiganten Raytheon wechselte und von dort ins Pentagon. Von einer möglichen Interessenkollision ist bislang nicht die Rede.
Die große Frage: Schaffen Waffen wirklich mehr Sicherheit?
Die genannten Zahlen und Beispiele führen zu der Frage zurück, ob es einen Zusammenhang zwischen Rüstung und Verteidigungsbereitschaft auf der einen Seite und empfundener Sicherheit auf der anderen gibt. Im alten Hellas gab es, von Alexanders Großreich abgesehen, überwiegend Stadtstaaten und kleinteilige politische Gebilde, die wirtschaftlich konkurrierten und zur militärischen Durchsetzung ihrer Handelsinteressen oder Gebietsansprüche fast regelmäßig gegeneinander Krieg führten. Im nachfolgenden römischen Imperium wurden alle denkbaren Interessen, von Handel und Rohstoffzugang bis zur Grenzsicherung, mit Hilfe einer konkurrenzlos schlagkräftigen und technisch allen anderen überlegenen Armee durchgesetzt. Der Machterhalt durch Hochrüstung funktionierte trotz gelegentlicher Niederlagen erstaunlich lange, die „Pax Romana“ war ein Frieden für Rom und die unterworfenen Gebiete und Völker, solange die sich das gefallen ließen. Nützlich war das Motto „Si vis pacem para bellum“ vor allem für Rom, nicht aber für die unterworfenen Völker oder den Rest der nicht unterworfenen Peripherie. Mit ausreichend weit entfernten Ländern, die militärisch nicht gefährlich werden konnten, knüpfte Rom vielfältige Handelbeziehungen an. So ist etwa der Fernhandel mit China und Indien inzwischen ausreichend belegt. In der Neuzeit wurden Sieg oder Niederlage in den Konflikten der europäischen Mächte untereinander oder mit den Nachbarn im Süden meist ebenfalls durch waffentechnische Fortschritte entschieden, etwa durch die englischen Langbögen, die immer effizienter werdenden Feuerwaffen oder die Richtkanonen der venezianischen Flotten. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den ersten Atombomben auf Japan gab es dann eine Phase der Besinnung und eine Reihe von Abrüstungsverträgen, von denen viele inzwischen ausgelaufen oder einseitig gekündigt worden sind. Ein Kräftemessen zwischen den USA und der Sowjetunion war durch die „gegenseitig garantierte Zerstörung“ zu riskant geworden. Mit der Doppelbedeutung des englischen Akronyms MAD für „Mutually Assured Destruction“ schon sprachlich ans Absurde grenzend, hat die Waffenentwicklung bisher den Dritten Weltkrieg verhindert. Ähnliche Denkansätze dazu gab es schon früher, etwa von Alfred Nobel oder Nikola Tesla auf der technischen Seite oder Jules Verne literarisch, dass ausreichend schreckliche Waffen künftige Kriege verhindern könnten. In Europa wurde lange über den amerikanischen Nuklearschirm oder sogar eine „Pax Americana“ diskutiert, aber inzwischen sind die Karten ganz anders gemischt. Die Dominanz der USA mit weltweit mehr als 750 militärischen Stützpunkten wird vor allem durch den wirtschaftlichen Aufstieg Asiens nicht mehr als Friedensgarantie, sondern auch als Bedrohung empfunden. Die daraus folgende Aufrüstung Chinas wiederum hat Ängste in Washington und den amerikanischen Denkfabriken ausgelöst, ob mehr als militärische Bedrohung oder eher aus Sorge um die wirtschaftlich wichtige Dominanz wird dabei kontrovers diskutiert. Das faktische Ergebnis ist aber die Rüstungsspirale, die das SIPRI in Stockholm jedes Jahr dokumentiert. Die ständigen Debatten über eine gewaltsame Eingliederung von Taiwan und die amerikanischen Garantien dagegen zeigen, dass weder waffentechnisch noch in den politisch-strategischen Konzepten beider Seiten von einer wirklich konfliktverhindernden Sicherheitsarchitektur die Rede sein kann. Immerhin scheinen wir uns rein militärisch eher dem kriegsverhindernden Gleichgewicht des Schreckens zu nähern als einem atomaren Kräftemessen der Großmächte. Während die Zahl zwischenstaatlicher Konflikte weltweit seit 1946 relativ konstant geblieben ist, stieg die Gesamtzahl aller kriegerischen Auseinandersetzungen durch zivile Konflikte und Bürgerkriege bis 2020 auf knapp 60 pro Jahr an (Statista). Der Ukrainekrieg wurde von russischer Seite zunächst als Bruderkrieg bezeichnet, wird aber inzwischen unter massiver westlicher Unterstützung der Ukraine mit Waffen, Munition und Aufklärung als stellvertretende Verteidigung demokratischer Werte und Freiheiten gegen die Autokratie Russlands unter Präsident Putin interpretiert. Europa und die NATO haben sich dieser Sicht angeschlossen und nehmen durch den Wegfall russischer Gas- und Öllieferungen, vor allem in Deutschland mit seiner Abhängigkeit von russischer Energie, wirtschaftliche Risiken bis hin zu drohender Deindustrialisierung in Kauf. So eindeutig wie in Europa wird das allerdings nicht weltweit gesehen und bewertet. Auch wenn der Krieg als solcher nicht verteidigt oder gerechtfertigt wird, halten sich viele Länder mit der Kritik an Russland zurück und sehen auch die US- und NATO-Beteiligung und die Entwicklung seit 2014 mit kritischen Augen. Kommentatoren in Asien sprechen nüchtern über die Falle, in die Putin gelockt worden sei und sehen den Kampf zwischen Demokratie und Autokratie eher als westliches Narrativ. Wie der Krieg auch ausgeht, die Opfer an Menschen, Material und Infrastruktur sind nicht mehr zu ersetzen. Das sollte mehr Verpflichtung und Anlass sein, das allzu schwammige Konzept der Sicherheitsarchitektur zu hinterfragen und neu zu konzipieren.