Um nur wenige Meisterwerke der Kunstgeschichte rankt sich so viel Unerklärliches und Mysteriöses. Das Lächeln der Mona Lisa gilt als Inbegriff des Weiblich-Rätselhaften, ihr Porträt als Symbol des Geheimnisvoll-Distanzierten. Die einen behaupten, es stelle die namensgebende florentinische Kaufmannsgattin Lisa Giocondo dar (im Italienischen heißt das Bild „La Gioconda“ im Französischen „Joconda“), andere sehen in ihr die aus Neapel stammende Edel-Kurtisane Isabelle Gualandi. Auch eine Mätresse von Charles d'Amboise oder Isabella d'Este, die Marquise von Mantua sowie die Mutter Da Vincis werden in die Waagschale geworfen. Allerjüngste Versuche, die Identität der Dame mit dem Silberblick herauszufinden, gehen sogar soweit, den auf Chateau Clos Lucé vermuteten Leichnam von Leonardo Da Vinci zu exhumieren und durch eine Gesichtsrekonstruktion herauszufinden, ob es sich bei der Mona Lisa tatsächlich um ein Selbstporträt des Renaissance-Künstlers und Erfinders handelt.
In Angelika Overaths Roman geht es gleichfalls um mehr oder weniger bekannte Gemälde von ebensolchen mehr oder weniger bekannten Malern, unter ihnen Gauguin, Vilhelm Hammershøi, Gustave Caillebotte, Edward Hopper oder Jean-Auguste-Dominique Ingres. Allerdings wenden sich in ihnen die abgebildeten Personen dem Betrachter nicht zu oder lächeln ihn geheimnisvoll an. Ihre Rückenansicht, allenfalls ihren Nacken zeigen sie Anna, einer fünfzig Jahre alten Journalistin, „frischverlassen, sich wie fünf fühlend. Wie fünf, oder fünfzehn. Ein Alter, in dem man gerade schreiben lernt. Oder lieben. Frisch verlassen, mit einem flatternden Ich.“ Um Erdung in ihrer Lebenskrise zu finden (ihr Mann offenbart ihr eine jüngere Geliebte zu haben, die sich ein Kind von ihm wünscht), begibt sie sich auf eine Reise ins Ungewisse, in Städte, die sie nicht kennt und in denen sie zum ersten Mal ist. Eine Art Treibenlassen, um ihre verletzte Seele zu betäuben.
Erster Anlaufpunkt ihres diffusen, schemenhaften Parcours sind dabei stets die Gemäldegalerien der Stadt. „Museen waren sichere Orte. Tarnkappen. In ihren Räumen musste man sich nicht verhalten. Im Grunde war man gar nicht da. Die Bilder waren da, und man selbst konnte untergehen in ihrem Muster oder sich wegschauen in das Leben anderer. (…) Bilder hatten eine einladende Überzeugungskraft. Sie waren versöhnlich, gesammelte Zeit. Schon geleistete Erfahrung.“ Doch diese Gemälde verlassen ihren Status eines künstlerischen Betrachtungselements: Sie sprechen mit Anna. „Ihr Hinschauen war kaum merklich in ein Hinhören übergegangen. Nun war es wieder still. Aber genau in dieser Stille hallte nach: das Bild sprach.“ Die abgebildeten Frauen auf ihnen erzählen ihrer Betrachterin mit leiser Stimme etwas über deren Seelenleben, über ihre Erschaffer und diverse Hintergründe. Und sie geben Anna stets einen vagen Hinweis auf ihr nächstes Ziel, ihren nächsten akustisch-visuellen Aufenthaltsort. Anna geht deren Spuren nach: „Sie spürte, dass ein Spiel beginnen könnte, ein kleines Überlebensspiel in Etappen, dessen Regeln sich ja erst nach und nach erschließen würden.“ Sie reist von Edinburgh über Kopenhagen nach Boston und weiter nach St. Moritz im Engadin, nach Paris und schlussendlich bis an die Nordspitze Dänemarks, nach Skagen. Am Ende findet sie so etwas wie Erdung für sich. „Und wenn sie jetzt zurückdachte, dann hatte sie durch die Bilder, die sie jeweils sah, doch einiges verstanden von der fremden Stadt, die sie nur flüchtig besuchte. Und konnte dort auf ihre Weise zu Hause sein.“
„Sie dreht sich um“ ist alles andere als laut und geräuschvoll, sondern die Erzählung fungiert beinahe wie eine stille Insel der Ruhe. Der Leser wird in einen autarken Raum der Lautlosigkeit, des Loslassens mitgenommen und nimmt nur verschwommen die Unruhe der Umgebung wahr. Mit klaren, präzisen, fast stakkatoartigen Sätzen ohne Tand und Schnörkel, aber unglaublich sensibler Beobachtungsgabe, nähert sich die Autorin zart, behutsam und beinahe lautlos dieser künstlerischen Fata Morgana an. Sie öffnet über ihre Protagonistin dem Leser die vermeintlich geräuschlose Welt der Bilder. Mit nur wenigen Worten gelingt es ihr, eine immense Fülle bildhaften Beschreibens opulenter Szenerien oder Landschaften zu erzeugen. Ihr kluges Buch sollte man intuitiv lesen, sich dabei fallen lassen und ihre Semantik in sich hineinfließen und dort wirken lassen. Overath vermittelt eine grazile, aber gerade deshalb intensive Nachdenklichkeit.
Fazit: „Vieles ist möglich, was man nicht für möglich hält.“ Vielleicht, weil Malerei „im Rücken des verständigen Sehens gemalt“ wird. „Sie dreht sich um“ ist ein Buch „quer durch die Zeiten, über die unsicheren Aggregate der Realität hinweg.“ Angelika Overath zeigt, dass alles mit allem zusammenhängt und dies mit einer fein abgestimmten Balance aus Einsamkeit und Bewegung. Denn es „gibt Augenblicke, auf die muss man sich einlassen. Erst dann kann man weiter.“ Ein wundervolles Buch in Farben und Formen.
Angelika Overath
Sie dreht sich um
Luchterhand Literaturverlag (August 2014)
279 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3630873499
ISBN-13: 978-3630873497
Preis: 19,99 EUR
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