Louis Ferdinand ist der Name dreier preußischer Prinzen, deren ältester am 10. Oktober 1806 in einem Gefecht mit französischen Truppen bei Saalfeld, knapp 34 Jahre alt, gefallen ist. Es mag sein, dass der Schlesier Louis Ferdinand Helbig, der am 2. September 2015 in Savoyen/Frankreich seinen 80. Geburtstag feiert, nach diesem preußischen Prinzen im Generalsrang, der schon 1793 an der Belagerung von Mainz teilgenommen hat, benannt ist.
Er wurde 1935 in Liegnitz, einer der Hauptstädte der drei schlesischen Regierungsbezirke Breslau, Liegnitz, Oppeln, geboren, besuchte aber in Sagan am Bober die Volksschule, floh dann 1945 mit Eltern und Geschwistern nach Heidelberg, wo er 1955 am 1835 gegründeten Helmholtz-Gymnasium das Abitur bestand. Nach einer Lehre als Großhandelskaufmann in Ludwigshafen am Rhein wanderte er 1958 nach Kanada aus, wo er zunächst in der Industrie arbeitete. Nach dem Erwerb eines Zertifikats über gutes Englisch nahm er 1963 ein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der University of Edmonton/Aberta auf, wo er 1966 und 1967 die Examina zum „Bachelor of Arts“ und „Master of Arts“ bestand. Den Doktortitel erwarb er 1969 an der University of Waterloo/Ontario mit einer Dissertation über „Das Geschichtsdrama Georg Büchners“ (1973).
Als ich Louis Ferdinand Helbig im Herbst 1971 in Bloomington/Indiana kennen lernte, war er seit vier Jahren Germanistikprofessor an der Indiana University und Direktor des von der VW-Stiftung finanzierten „Institute of German Studies“, an dem ich dann 1972/73 auch selbst arbeitete. Im Jahr 1990 wechselte er an die University of Arizona in Tucson, wo er fünf Jahre blieb. Seit 1995 lebt er mit seiner zweiten Frau in Les Echelles/Frankreich und unterrichtete bis 2000 als Lehrbeauftragter an der Université de Savoie in Chanberry. Von 2000 bis 2004 war er Gastprofessor am Germanistischen Institut der Universität von Zielona Góra (Grünberg) in Schlesien.
Wenn man sein umfangreiches Veröffentlichungsverzeichnis durchsieht, das 159 Einträge aufweist, stößt man ständig auf Aufsätze und Rezensionen zu Autoren, die aus dem historischen Ostdeutschland stammen und über Flucht und Vertreibung geschrieben haben. Um sie dem Alter nach zu nennen: Der Niederschlesier Friedrich Bischoff (1896-1976) aus Neumarkt, der 1925 literarischer Leiter der „Schlesischen Funkstunde“ wurde; der Theologe und Pfarrer Kurt Ihlenfeld (1901-1997), der mit seinem schlesischen Vertreibungsroman „Wintergewitter“ (1951) berühmt wurde; die Erzählerin Ruth Storm (1905-1993) aus Kattowitz/Oberschlesien; der schlesische Lyriker Ernst Günther Bleisch (1914-2003), der nach dem Krieg in München lebte; der aus dem böhmischen Riesengebirge stammende Franz Fühmann (1922-1984) mit seiner vertreibungskritischen Erzählung „Böhmen am Meer“ (1962) ; der oberschlesische Lyriker Heinz Piontek (1925-2003) aus Kreuzburg, der einen Roman (1993) über Goethes schlesische Reise 1790 geschrieben hat; die 1929 geborene, heute in Wien lebende Ilse Tielsch mit ihrer südmährischen Romantrilogie 1980/88; die in Landsberg an der Warthe jenseits der Oder geborene Christa Wolf (1929-2011), die ihre Flucht aus der Neumark im Januar 1945 als 15jährige Schülerin im Roman „Kindheitsmuster“ (1976) verarbeitet hat; Horst Bienek (1930-1990) aus Gleiwitz in Oberschlesien mit dem Gedichtband „Gleiwitzer Kindheit“ (1976) und seiner Romantetralogie 1975/82; der ostpreußische Erzähler Arno Surminski (1934) mit seiner Romantrilogie über die Flucht aus dem fiktiven Jokehnen 1974/80 und schließlich der Schlesier Harald Gerlach (1940-2001), der nach der Flucht in Thüringen aufgewachsen ist und mit seinem Gedichtband „Sprung ins Hafermeer“ (1973) und seinem Roman „Windstimmen“ (1997) an die alte Heimat erinnerte.
Bei dieser Fülle von Veröffentlichungen zu einem Thema, das von der Universitätsgermanistik weitgehend ignoriert wurde, war es unausbleiblich, dass Louis Ferdinand Helbig eines Tages auch eine Synthese seiner literaturwissenschaftlichen Bemühungen vorlegen würde. Das Buch erschien 1988 unter dem Titel „Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit“ (296 Seiten) im angesehenen Verlag Harrassowitz in Wiesbaden und liegt inzwischen als Taschenbuch in der dritten Auflage (1996) vor, die auf den neuesten Stand gebracht wurde. Die Entstehung dieses Buches, das in seiner wissenschaftlichen Strenge nur einer deutschen Habilitationsschrift vergleichbar ist, basiert auf zehnjähriger Forschungsarbeit, deren Stationen in einer Vielzahl von Aufsätzen und Vorträgen dokumentiert sind. Der Forschungsbericht „Das Flucht- und Vertreibungsgeschehen in Belletristik und Literaturforschung 1945-1985“ (1986) war wohl die gewichtigste Vorarbeit. Der Titel geht aus das „Tagebuch 1946-1949“ (1950) des Schweizer Schriftstellers Max Frisch (1911-1991) zurück, der 1948 während eines Besuchs in Breslau notierte, dass Schlesien für die Nachkriegspolen ein „ungeheures Geschenk“ gewesen wäre. Der Verfasser griff dieses Wort auf und interpretierte die Abtrennung der deutschen Ostgebiete als „ungeheuren Verlust“ für die Deutschen.
Zu würdigen ist auch, dass er den Blick auf die DDR-Literatur, wo es anderthalb Dutzend Autoren mit ostdeutscher Biografie gab, nicht aussparte und damit dem weitverbreiteten Vorurteil widersprach, im SED-Staat hätte es keine literarische Verarbeitung von Flucht und Vertreibung gegeben. Bei solchen Verdiensten fragt man sich, warum der Autor bisher nur mit dem „Georg-Dehio-Preis“ (1993) ausgezeichnet wurde, nicht aber mit dem Bundesverdienstkreuz, das ihm seit Jahrzehnten zustünde. Zum 70. Geburtstag erschien unter dem Titel „Zwischen Verlust und Fülle“ (2006) eine Festschrift, die man noch heute mit Gewinn und Vergnügen liest.
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