Zwei sind gelieben

Paulskirche, Frankfurt, Deutschland, Quelle: rotbart 94, Pixabay License, Freie kommerzielle, Nutzung, Kein Bildnachweis nötig

Menschen mit jüdischen Wurzeln waren in Politik und Gesellschaft zur Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreicher vertreten, als spätere, unselige Zeitläufte vermuten lassen. Zu den 809 Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche auch gehörten 19, die jüdischer Abstammung waren. Zwei blieben ihrem Glauben treu – und leisteten bedeutende Beiträge zu einer ersten demokratischen Kultur in Deutschland.

Viele jüdisch geborene Menschen machten im 19. Jahrhundert, vor dem Aufkommen des rassisch motivierten Antisemitismus, innerhalb oder außerhalb der Paulskirche, aber auch vor oder nach einem Mandat dort eine steile Karriere – beruflich, politisch oder gesellschaftlich. Dies geschah aber zumeist um den Preis eines Übertritts zur protestantischen oder katholischen Christentum. Begünstigt durch den 1804 veröffentlichten Code Civile, den Code Napoléon, der die Grundgedanken einer Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz aufgriff und auf die europäische, auch die deutsche Rechtsentwicklung großen Einfluss ausübte, war das Judentum in Deutschland damals kulturell und national fast vollständig assimiliert. War die Taufe gar das „Entrée-Billet zur europäischen Kultur“? So hat es immerhin Heinrich Heine, selbst gebürtiger Jude, nicht ohne einen gewissen Anflug von Sarkasmus formuliert. Und übrigens auch selbst vollzogen.

Zwei Paulskirchen-Abgeordnete jedoch blieben beim jüdischen Glauben ihrer Väter – oder besser: dem Glauben ihrer Mütter. Das waren Gabriel Riesser und Johann Jacoby. Diesen beiden haben die Herausgeberin der Machloket-Reihe beim Verlag Hentrich & Hentrich, Elisa Klapheck, sowie die Autoren Abraham de Wolf und L. Joseph Heid nun ein literarisches Denkmal gesetzt.

Am 29. August 1848 setzte sich Gabriel Riesser in der Debatte um die Religionsfreiheit in der Frankfurter Paulskirche eindrucksvoll durch. Ihm, der von 1806 bis 1863 lebte, ist es wesentlich zu verdanken, dass die am 27. März 1849 nach langen Auseinandersetzungen, in denen er immer zentral beteiligt war, schließlich eine Verfassung für ein zukünftiges Deutschland verabschiedet wurde, die gleichen Rechte für alle Religionen – de facto die Religionsfreiheit – enthielt. Riessers rhetorischer Gabe ist es größerenteils zu verdanken, dass damals eine Neutralität des Staates in religiösen Fragen, fußend auf den Werten des napoleonischen Code Civile, verfassungsmäßigen Rang erhielt. Das arbeitet Abraham de Wolf, der diese Biographie in dem Band betreut, sehr deutlich heraus – fast schon ein wenig redundant.

Auch Riessers Herkunft aus einer alten Rabbinerfamilie thematisiert de Wolf. Sehr interessant sind die Ausführungen dazu sowohl in soziologischer wie historischer Sicht. In einem dritten Abschnitt thematisiert de Wolf das liberale Judentum, wobei er darauf hinweist, dass Riesser sich strikt weigerte, im Sinne der Mehrheitsgesellschaft „gebildete“ oder reformierte Juden besser gestellt zu sehen als orthodoxe Glaubensbrüder, vor allem solche, die aus Osteuropa kamen. Er war es schließlich, der 1849 die Delegation anführte, die dem Preußischen König Friedrich Wilhelm IV. – erfolglos – die Kaiserkrone des Deutschen Reiches antrug. Hätte es ohne den Anstoß jüdischer Denker, ohne das Beispiel des Judentums, dem zu seinem Recht verholfen werden musste, eine demokratische Entwicklung für Deutschland geben können? Diese berechtigte Frage zieht sich durch den schmalen, aber inhaltlich gewichtigen Band.

Johann Jacoby, geboren 1805, gestorben 1877, ist der zweite der beiden jüdischen Parlamentarier. Er war 1823 Littauerkränzchen in Königsberg aktiv, das sich aus einer kurzzeitig bestehenden studentischen „Allgemeinheit“ heraus in Königsberg heraus gebildet hatte. L. Joseph Hein, der Autor des Buchabschnitts über Jacoby, beginnt mit einem fünfseitigen Abschnitt über die allgemeine Situation jüdischer Bürger im Deutschen Bund um 1848. Sein zweiter Abschnitt ist dann schon von speziellem Interesse, denn er enthält in kompakter Form einige wichtige statistische Angaben zur Mitwirkung von Abgeordneten jüdischen Glaubens am Werden der ersten demokratischen Verfassung Deutschlands. Jacoby war unter ihnen, wie auch der Studentenhistoriker und Paulskirchen-Spezialist Peter Kaupp bestätigt, der „wohl der bedeutendste Repräsentant des deutschen Judentums in der Frankfurter Nationalversammlung“.

Ein Abschnitt folgt nun, den Heid mit „Johann Jacoby und die Polenfrage“ überschreibt. Das scheint nicht ganz zutreffend, denn zwar wird darin ein freiwilliger medizinischer Einsatz Jacobys in Polen beschrieben, aber in dieser Zeit erwuchs sein Rechtsbewusstsein, und zwar aufgrund der Benachteiligung, die er durch seinen Glauben hatte. Der Kern des Homo Politicus, der Jacoby wurde – hier ist er zu finden. Danach kommt Heid dann, leider die Unterstützung Jacobys für die „Göttinger Sieben“ in den Jahren 1837 und 1838 auslassend, direkt zur aufsehenerregenden Schrift „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen“ aus dem Jahre 1841, in dem er von König Friedrich Wilhelm IV. nicht mehr und nicht weniger die Erfüllung des Verfassungsversprechens von 1815 forderte. Diese galt schon dem Jacoby-Biographen Silberner als „ein Meisterwerk der deutschen Publizistik“. Sehr interessant ist dann sein abschließender Ansatz, die Emanzipation jüdischer Bürger zum Prüfstein für die Demokratie schlechthin zu machen. Ein sehr nachdenkenswerter Ansatz. Denn vice versa trat Jacoby seinerseits ab spätestens 1849 für die absolute Souveränität des Volkes ein.

Im Preußischen Landtag plädierte Jacoby, damals war das eine Position der äußersten Linken, für die Volksbewaffnung und die Rechte der Arbeiter. Massiv kritisierte er die Politik Bismarcks. 1867 rückte Jacoby in die bereits „Reichstag“ genannte Parlamentskammer des Norddeutschen Bundes auf, dort kritisierte er die Rechtmäßigkeit der gesamten preußisch-deutschen Innen- und Außenpolitik und zweifelte deren legitime Grundlage an. 1872 wechselte er schließlich zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Heid schließt dann wie folgt, und das ist zugleich auch eine Art Fazit des Buches: „Für Juden bedeutete die Errichtung einer demokratischen Ordnung, die ausnahmslos allen Bürgern gleiche Rechte gewährte, eine unerlässliche Lebensnotwendigkeit. Demokratie und Judenemanzipation waren also zwei Seiten derselben Medaille.“

Zwei also sind geblieben. Die Herausgeberin, Rabbinerin Elisa Klapheck, resümiert: „Indem der jüdische Anteil in den Entwicklungen zur Demokratie in Deutschland weiterhin ausgeblendet, ja sogar tabuisiert bleibt, entsteht ein missing link. Dieser missing link ist einer der Gründe, warum es immer noch kein kontinuierliches, positives Demokratie-Narrativ für die politische Geschichte Deutschlands gibt, vielmehr die Abgründe und das Scheitern die Sichtweise bestimmen.“ Dem ist lebhaft zuzustimmen! Von Karl Marx bis Walther Rathenau – der Anteil der Deutschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft für die deutsche Demokratie ist unbedingt weiter zu erforschen. Mit überraschenden und erfreulichen Ergebnissen wie dem hier vorliegenden Buch dürfte dann schon bald zu rechnen sein.

 

Über Sebastian Sigler 97 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.