Wie viele Gedichte aus dem Widerstand gegen das NS-Regime sind uns präsent? Selbst von Wolfgang Borchert, dem der Glauben im Krieg abhanden kam, und von Werner Bergengruen, der zum Katholizismus konvertierte, ist es meist die Prosa-Texte, teils auch größere Romane, die prägend waren. Dabei haben Borchert, Bergengruen und weitere Literaten, die in der allgemeinen Wahrnehmung als Romanciers durchaus verankert sind, ein bedeutendes lyrisches Werk hinterlassen, das aber bis dato weitgehend unbeachtet blieb. Nicht jeder ging mit Geräusch und Presserummel ins Exil wie Thomas Mann.
Unter denen, die im Lande blieben, ist Dietrich Bonhoeffer die Ausnahme – seine Lyrik ist überkonfessionell sehr bekannt. Doch es ist nur logisch, dass sich hinter ihm ein ganzer literarischer Kosmos verbirgt. Umso spannender ist eine frisch erschienene Anthologie, in der eine ganze Epoche lyrischer Dichtung sichtbar wird. Und von Seite zu Seite wird dem Leser rätselhafter, wie die über so viele Jahre hinweg verborgen sein konnte. Entlastend ist zu bemerken, dass zur Zeit des Dritten Reiches diese Texte schlichtweg nicht verlegt werden konnten. Sie mussten vielmehr verborgen werden, gingen von Hand zu Hand, wurden geradezu geschmuggelt. Zum Kontext dieses Verschwinden gehört auch, dass nach dem Ende des Alptraums, in der jungen Bundesrepublik, Nierentische, das erste Auto und der Humor à la Heinz Ehrhardt im Brennpunkt des Interesses standen.
Ein Desiderat erster Güte ist dieser Doppelband – soviel ist klar. Das literarische Wirken einer ganzen Generation von Lyrikern, das Hitler verbieten ließ, hat schlichtweg gefehlt. Durch die vorliegende Anthologie wird die geistige Welt, die unter dem Nationalsozialismus zu Bruch ging, verfemt war, in Strömen von Tränen und Blut unterging, in kaum je dagewesener Breite und Tiefe aufgearbeitet und strukturiert. Auf 571 gedrängt vollen Seiten präsentiert der Lepanto-Verlag nun mit seinen „Eisblumen“ die verdrängte Lyrik, mit der sich die Breite des geistigen Widerstands gegen den Nationalsozialismus ermessen lässt. Wichtige Gedichte, die unser aller Leben begleiten, stehen dort neben völlig unbekannten Texten, die in zuweilen ergreifender Tiefe und Intensität vom Leid unter dem Hakenkreuz künden. Diese Anthologie ist, daran gemessen, die vielleicht wichtigste Neuerscheinung des gesamten Bücherherbstes 2024.
Der erste Band, der die Texte der Gedichte enthält, ist nach Themengebieten geordnet. Das wirkt auf den ersten Blick etwas sperrig, ist man doch die Sortierung nach Autoren eher gewohnt. Es ist eben eine ganze Geisteswelt, die in dieser Anthologie aufgeblättert wird. Zunächst treten Protagonisten des Widerstands in „Gesichtern aus der inneren Emigration“ auf, gleich danach wird der Leser in „Mythische Welten“ entführt. Exemplarisch sei noch das vierte Kapitel unter dem Rubrum „Den Feind im Visier“ herausgehoben, in dem sich Bergengruens polemisches Gedicht „Auf Schicklgruber“ befindet – deutlicher geht es nicht. Der Glaube war den Dichtern in ihrem inneren Exil so wichtig und so präsent, dass die Herausgeber auch diesem Aspekt ein eigenes Kapitel gewidmet haben, und in diesem Zusammenhang dürfen dann auch Namen wie Gertrud von le Fort nicht fehlen. Eindeutig zur Inneren Emigration gezählt wird in dieser Anthologie Georg Britting, der seinerzeit nicht als öffentlich Widerstandskämpfer exponierte, der aber gegen das Regime schrieb. Auch seiner Lyrik wird eine breite Bühne geboten. Abermals ist es Bergengruen, der dem Verderben ein trotziges „Fürchtet Euch nicht“ entgegenstellt. Einzig das Kapitel „Tiere und Tierkreiszeichen“ kann nicht ganz überzeugen – es steht ein wenig quer zur ansonsten christlich geprägten Gesamtedition dieses Werkes, und vieles aus diesem Abschnitte hätte gut in anderen Kapiteln unterkommen können.
Gegen Ende bewegt sich die große Anthologie auf eine Klimax zu. Das Kapitel „Krieg und Soldatentum“ behandelt nicht den Widerstand im engeren Sinne, sondern das Leid. Das eigentlich unaussprechliche Leid, das nur durch die Verdichtung in der Lyrik annähernd fassbar wird. Dieses Kapitel liefert den Grund, ja den unmittelbaren Beweis dafür, dass auch 1944 jeder Widerstand wichtig war, jedes Attentat versucht werden musste. Ein sehr hypothetisches Kriegsende nach einem erfolgreichen Stauffenberg-Attentat hätte noch Millionen von Menschenleben gerettet, hätte über die Hälfte der bis April 1945 zerstörten Altstädte vor dem Bomben bewahrt. Hier liegt also der Grund, warum die letzthin von interessierter Seite betriebene Demontage der Erinnerung an den Grafen Stauffenberg keine historische Grundlage hat. Von der Geißel des Zeitgeistes, als „Dekonstruktion“ bekannt, hält sich diese wichtige Arbeit völlig fern. Ein weiterer Grund dafür, dass dieser Lyriksammlung eine langanhaltende Wirkung vorhergesagt werden kann.
„Schicksale und Gestalten“ – Albrecht Goes und Werner Bergengruen markieren den Beginn des zentralen Abschnittes, in dem der Glaubensbezug nochmals stärker als zuvor in den Mittelpunkt tritt. Hier wird mit jedem einzelnen Gedicht auf erschütternde, nach Autor unterschiedlich stark hervortretende Art und Weise Bezug auf den christlichen Glauben genommen. Echte und tiefe Glaubenszeugnisse, wie sie von Frontsoldaten, verfolgten Menschenfreunden, Alten, Kranken und Verzweifelten kommen, wenn die Nacht der Diktatur hereingebrochen ist. Hellsichtig und in der Rückschau höchst politisch dichtete Jochen Klepper in seinem Weihnachtslied „Die Nacht ist vorgedrungen“ in der abschließenden Strophe: „Gott will im Dunkel wohnen / und hat es doch erhellt. / Als wollte er belohnen, / so richtet er die Welt.“ – Doch der Autor und seine aus jüdischem Hause stammende Ehefrau sollten die Morgenröte nach der Diktatur nicht erleben. Sie wählten mit ihrer Familie den Freitod. So ernst ist er, der Hintergrund dieser Anthologie, und das übrigens fast durchgängig. Das macht sie so eminent wichtig.
Im Laufe der Lektüre lernt der Leser, den Herausgebern zu vertrauen. Die Sortierung, die sie vornahmen, ist ein wesentliches Merkmal dieser Anthologie, denn nun werden die Bezüge der Texte zueinander deutlich, die Interaktionen der Autoren erkennbar. Die herausgeberische Leistung ist überzeugend. Albrecht Haushofer, Gertrud Kolmar, Jochen Klepper – gewiss sind uns die Namen derer, die das Hitler-Regime nicht überlebten, einigermaßen geläufig, Bonhoeffer wurde ja bereits genannt. Da sind aber auch die Literaten, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht als Widerstandskämpfer hervortraten, einige blieben trotz ihrer Haltung unbehelligt. Die Diktatur kannte keine Logik. Die Verfolgten, diejenigen, die verborgen blieben – es eint sie das beredtes Zeugnis von stillem Widerstand, unhörbarer Weigerung, unbeugsamer Ablehnung ist. Ihre Gedichte reihen sich nahtlos und bruchlos zwischen den Texten Schneiders und Bonhoeffers ein.
Im zweiten Band nehmen die Herausgeber eine Deutung vor. Die beigegebene Lesehilfe, die sich diesen zweiten Band mit den umfangreichen Registern und Anmerkungen teilt, stützt die These: Erst mit der Kenntnis dieser Lyrik des Widerstandes, der stillen Schreie, der hier gezeigt und gewürdigt wird, kann der Kosmos der Literatur unter den Nationalsozialisten vollständig erfasst werden. Bergengruen, sein Name wurde bereits genannt, „entwickelte sich ab 1933 zum reimenden Polemiker, der eine Hundertschaft meist unpublizierter Schüttelreime verfaßte und im Freundeskreis vortrug“, wie die Herausgeber in ihrem nicht weniger als 174 Seiten starken „Leitfaden durch unbekanntes Terrain“ anmerken, einer kundigen interpretatorischen Anleitung, der sie den bescheidenen Titel „Nachwort“ gaben. Der Lepanto-Verlag selbst schreibt völlig korrekt: „Diese Anthologie dokumentiert das Potential und den Facettenreichtum des nonkonformistischen Schreibens auf dem Gebiet der lyrischen Dichtkunst während der NS-Herrschaft und lädt zur Wiederbegegnung mit einer zu Unrecht vergessenen Welt ein!“ Sehr wichtig ist in diesem Kontext der Hinweis, dass diese Lyrik „manchmal das offene Zeugnis mutigen politischen Widerstands, manchmal der erstaunliche Konterpart zu Verwerfungen in der Biographie der Verfasser“ ist – denn mancher, der völlig unauffällig, quasi getarnt weiterlebte, hinterließ wahrlich zu Herzen gehende Widerstands-Lyrik. Weiter sind umfangreiche Register, eine Auflistung der einzelnen Gedichte nach den ersten Worten sowie ein akribisch zusammengestelltes Register in diesem zweiten Band zu finden. Insgesamt ergibt sich eine bestens erschlossene und übersichtlich nutzbare Gesamtedition von nicht weniger als 838 Seiten.
Wie Thomas Mann ins Exil zu gehen, das war für die Schriftsteller deutscher Zunge eine Möglichkeit, die NS-Diktatur zu überstehen, der stille Protest eine andere – Erich Kästner verkörpert diese Gruppe. Welcher Weg „gerecht“ oder „richtig“ war – wer wollte das heute entscheiden? Durch die Anordnung der Texte gelingt es, wenig beachtete oder gar völlig unbekannt gebliebene Autoren ans Licht zu holen. Es kann nur wiederholt werden: Die Gesamtheit, die immense Breite des literarischen Schaffens, das durch die Ablehnung des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist, wird in diesem doppelbändigen, schön und schlicht gestalteten, aber broschierten Werk erfahrbar. Sollten diese „Eisblumen“ eine große Verbreitung finden, was unbedingt zu wünschen ist, hätte diese höchst wichtige Gedichtsammlung eine zweite Auflage in einer noch hochwertigeren, gebundenen Form mit Lesefäden mehr als verdient.
Unbestritten ist das Verdienst der Herausgeber dieser Anthologie, den Autoren der „inneren Emigration“ nun endlich die verdiente Würdigung zu geben, denn wer liest noch Georg Britting, Elisabeth Langgässer, Oskar Loerke? Nun stehen sie gleichberechtigt neben weltweit wirksame Texte wie die Lieder aus der Feder Dietrich Bonhoeffers und Jochen Kleppers. Und so geht der Blick auch über diesen Band hinaus, zum Beispiel zu Paul Celan, der durch Nationalsozialisten in seiner Heimat Czernowitz zum Heimatlosen wurde – und wohl zeitlebens blieb. Seine „Todesfuge“ gehört, so wie Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten still umgeben“, das er 1944 aus dem Gefängnis schmuggeln ließ, wohl zu den wichtigsten zehn Texten des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache. Und dieses Buch bietet den Rahmen, bietet die Einordnung, bietet auch Bereicherung und Ergänzung. Die bei Lepanto erschienenen „Eisblumen“ sind schlichtweg unverzichtbar. Der Titel des Werkes ist so geistvoll wie passend gewählt: Je genauer man hineinschaut, desto großartiger erstrahlen die in kultureller Eiszeit entstandenen Geistesblüten in unendlicher Vielfalt und Schönheit.
Günter Scholdt und Christoph Fackelmann (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Ruth Wahlster: Eisblumen. Nonkonformistische Lyrik im Dritten Reich. Eine Anthologie. Lepanto-Verlag, Rückersdorf über Nürnberg, 2 Bände, zus. 842 S., broschiert, ISBN: 978-3-942605-32-8, 32 Euro.