Nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes in Syrien droht die Errichtung eines radikalen sunnitischen Kalifats, genau so, wie es der Islamische Staat (IS) vor wenigen Jahren erst – für kurze Zeit nur, aber umso brutaler – im Osten Syriens errichtet hatte. Der Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Dr. Kamal Sido, der aus dem nordsyrischen Städtchen Afrin stammt, sagt ahnungsvoll: „Ich wünsche mir, dass ich die Gräber meiner Eltern in dem 2018 von der Türkei besetzten Afrin besuchen und mich anschließend unter einem Olivenbaum ausruhen kann ohne Angst haben zu müssen, dass Männer mit langen Bärten vorbeikommen, ‚Allahu Akbar‘ rufen und mich verhaften, verschleppen oder gar töten.“
Menschenrechtler Sido weist damit auf gleich zwei akute Probleme hin, die für die Mehrheit der Menschen in ganz Syrien sehr schnell zur tödlichen Gefahr werden können – die radikale moslemische Gesinnung der Eroberer in Syrien und die aktive Rolle der Türkei in diesem Krieg. Denn die Türkei unterstützt sunnitische Moslems, die radikal alle Andersgläubigen töten, wenn sie sie nicht sofort bekehren können. Sido warnt: „Die Lage in Syrien ist aktuell von großer Unsicherheit geprägt. Viele Menschen in Syrien freuen sich zu Recht über den Sturz Assads, denn sie haben unter der brutalen Diktatur gelitten, Angehörige verloren oder warten auf ein Lebenszeichen von Verwandten im Gefängnis. Doch die Islamisten, die nun die Macht übernehmen wollen, warten auf Rache oder darauf, endlich einen islamistischen Staat in Syrien zu errichten.“ Betroffen sind Christen, Juden, Maroniten genauso wie Moslems anderer Richtungen – Schiiten sind hier ebenso zu nennen wie die Alawiten, zu denen der gestürzte Diktator Assad gehört. In Syrien findet also ein Religionskrieg statt – nicht mehr und nicht weniger.
Die Warnung des Syrers Sido könnte deutlicher kaum sein: „Viele Syrerinnen und Syrer blicken deswegen auch mit Sorge in die Zukunft: Sie wissen, dass der Islamismus noch nie etwas Gutes gebracht hat. Gleichzeitig ist ihr Alltag von großer Unsicherheit geprägt. Viele wissen nicht, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen, ob sie für sich und ihre Kinder ein Stück Brot finden werden.“ Seine Worte sind klar und deutlich: „Wie die Zukunft der Zivilbevölkerung in Syrien aussehen wird, kommt darauf an, ob die demokratischen, säkularen Kräfte, die Minderheiten wie Kurden, Armenier, Assyrer, Aramäer, Chaldäer, Christen, Yeziden, Drusen, Ismailiten, Schiiten, die syrischen Frauen, die den Kopftuchzwang ablehnen, und die Sunniten, die kein sunnitisch-islamistisches Regime wollen, durch die internationale Staatengemeinschaft, durch Nachbarstaaten wie Israel, Jordanien und den Irak, aber auch durch die USA und Russland unterstützt werden. Oder ob Erdoğan und die von der Türkei und dem Emirat Katar unterstützten Muslimbrüder gestärkt werden, die mit aller Macht versuchen, die Selbstverwaltung im Nordosten Syriens zu zerstören und Hunderttausende Kurden und die letzten Christen und Yeziden aus der Region zu vertreiben.“
Die türkische Armee und ihre Söldner nutzen derweil die Gunst der Stunde und verstärken ihre Angriffe auf die „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) in Manbidsch und östlich des Euphrats, wo in den letzten Tagen rund 200.000 Kurden, aber auch Angehörige anderer Volksgruppen Zuflucht gefunden haben. Auch die mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadtteile Ashrafia und Sheikh Maksud in Aleppo werden weiterhin von den Islamisten belagert. „Es gibt noch keinen Grund zur Freude. Ich werde erst glücklich sein, wenn die türkischen Besatzungstruppen und ihre islamistischen Söldner die kurdische Region Afrin und andere kurdische Gebiete verlassen haben und alle Menschen in Syrien ohne Angst vor Unterdrückung leben können“, sagt der Menschenrechtler, der aus diesem Land kommt, der die Lage kennt und dem unbedingt Glauben geschenkt werden sollte.