Dr. Franklyne Ogbunwezeh ist Senior research fellow und Direktor für Genozidprävention bei der in der Schweiz ansässigen und international tätigen Hilfsorganisation Christian Solidarity International (CSI). Sebastian Sigler befragte ihn zur politischen Lage in Nigeria nach der Präsidentschafts- und vor den Gouverneurswahlen, insbesondere zur systematischen Benachteiligung von Christen bis hin zu Mordanschlägen aus religiösem Hass, speziell bei den aktuellen Wahlen.
Sigler: Dr. Ogbunwezeh, am 25. Februar 2023 wurde in Nigeria ein neuer Präsident gewählt, und zwar Bola Tinubu von der APC, obwohl der Sozialdemokrat Peter Obi vorher in den Umfragen deutlich vorn lag. Ging bei der Wahl alles glatt?
Ogbunwezeh: Es war leider Wahlbetrug in großem Ausmaß im Spiel. Und das lief wohl wie folgt: Die Independent National Electoral Commission, kurz INEC, hatte angekündigt, flächendeckend eine elektronische Stimmenzählmaschine zu nutzen. Diese Maschine wurde auch genutzt, aber für die anderen Abstimmungen des Tages, die Parlamentswahl fand gleichzeitig statt. Merkwürdigerweise wurden die Stimmabgaben für die Präsidentenwahl weder dokumentiert noch transparent dargestellt.
S.: Sogar in Internetforen wie der Wikipedia steht zu lesen, daß es zu massiven Unregelmäßigkeiten gekommen sei…
O.: Es ist ganz offensichtlich. Bewaffnete Banden haben in Gebieten, in denen Peter Obi von der Labour Party besonders stark ist, Wahllokale überfallen und die Wahlurnen komplett verbrannt.
S.: Gab es auch Gewalt gegen Menschen?
O.: Ja, Angriffe gab es im ganzen Land, viele, täglich kommen neue Nachrichten dazu. Eine Frau, Jennifer Efidi, möchte ich als Beipiel nennen. Sie wurde in Lagos mit dem Messer attackiert, als sie zur Wahl gehen wollte. Frau Efidi wurde stark an den Augen verletzt, droht zu erblinden. Aber nach der notärztlichen Behandlung ging sie zum Wahllokal und hat gewählt. Das ist eine meiner persönlichen Heldinnen Nigerias.
S.: Gerade die jungen Nigerianer haben ganz offensichtlich den Sozialdemokraten Peter Obi gewählt. Falls Obi nun der Wahlsieg gestohlen wurde – was sind die Folgen?
O.: Die herrschende Politikerkaste in Nigeria zerstört die Hoffnungen einer ganzen Generation. Die Enttäuschung ist riesig. Das junge Nigeria ist ganz fest davon überzeugt, dass Peter Obi um seinen Wahlsieg betrogen wurde. Die Wut wächst.
S.: Wie könnte sich das auswirken?
S.: Die APC-Vertreter predigen doch damit de facto eine Spaltung des Landes, oder sehe ich das falsch?
O.: Leider ist es so. Dabei gibt es nur ein Nigeria – Hass zwischen den Ethnien dieses Landes zu säen, ist ein klarer Bruch der Verfassung. Bestimmten Kandidaten das Recht zum Kandidieren abzusprechen ist ein Rückfall in den Tribalismus. Die Yoruba-Prediger fördern eine Denkweise, die die Grundlage für Hass ist…
S.: Der wozu führt…?
O.: Oh, Menschen, die aus einem anderen Landesteil kommen, von der Wählbarkeit auszuschließen, fördert die Xenophobie, die Fremdenfeindlichkeit. Das ist sehr gefährlich.
S.: Halt, einen Schritt zurück – Nigeria ist für uns Europäer ein Land – wie soll es da untereinander Fremdenfeindlichkeit geben?
O.: Nigeria ist größer, als viele Europäer denken. Das Land ist fast dreimal so groß wie Deutschland, wir haben über 350 verschiedene Stämme mit jeweils eigenen Sprachen. Das Land ist wie eine kleine EU, und die Menschen werden nun von der APC, der regierenden Partei, gegeneinander ausgespielt. Dass diese Partei versagt hat, ist der Grund dafür, dass junge Nigerianer monatelang durch die Sahara gehen, und zwar häufig zu Fuß, warum sie auf dem Mittelmeer sterben.
S.: Was wird die Folge im Land sein?
O.: Ich kann es nur wiederholen. Wenn die Menschen voneinander entfremdet werden, wird die Xenophobie wachsen, die Angst vor dem Fremden. Und wenn die Xenophobie an die Macht kommt, ist ein Völkermord die logische Folge.
S.: Wirklich Völkermord?
O.: Wir haben das in Ruanda gesehen. Nigeria steht momentan an der Schwelle dazu. Die jungen Nigerianer haben Peter Obi gewählt, einen Sozialdemokraten, der zwei Abschlüsse aus Harvard hat, ein wirklich kluger Mann. Für ihn haben die jungen Wähler jetzt erstmals die Zukunft in die Hand – bisher waren sie apathisch, aber jetzt sind sie motiviert. Und nun werden sie enttäuscht, und sie stehen an der Schwelle zur Gewalt.
S.: Was könnte die Gewalt verhindern?
O.: Noch liegen die exakten Wahlergebnisse nicht vor, der oberste Gerichtshof verhandelt darüber. Noch halten die jungen Nigerianer still. Falls aber der Wahl nicht durch den obersten Gerichtshof korrigiert wird, könnte die Wut explodieren. Denn sie haben mehrheitlich die Labourparty und Peter Obi gewählt, aber sie werden nicht gehört Die Wut kommt aus diesem neuen Bewusstsein für die Politik bei den jungen Leuten, und sie wird nicht zu stoppen sein.
S.: Welches Szenario ist zu befürchten?
O.: Wenn die Jugend zur Gewalt greift, werden die Militärs sie zu stoppen versuchen. Es wird ein Blutbad geben. Noch ruhen alle Hoffnungen auf dem Gerichtshof. Noch hoffen die jungen Menschen mehrheitlich, noch glauben sie an die höchste Instanz. Wenn die versagt, ist das der Weg in die Anarchie. Ich kann nur die Warnung vor einem Völkermord, vor einem zweiten Ruanda wiederholen.
S.: Ist die staatliche Integrität des Vielvölkerstaates Nigeria dann auch ernsthaft in Gefahr?
O.: Kein Land dieser Größe kann einen Völkermord und den damit einhergehenden schweren Bürgerkrieg unbeschadet überleben. Gerade Nigeria, dieses große und inhomogene Land, kann das nicht. Es wird zerbrechen, und ungeahntes Leid wird die Folge sein. Der heutige Staat Nigeria kann in einem fürchterlichen Bürgerkrieg gänzlich untergehen.
S.: Und wieder spielt die Religion eine Rolle?
O.: Leider ja, denn Peter Obi ist christlich. Der Religionsaspekt ist klar zu sehen. Der gewählte Präsident hat ein „Moslem-Ticket“, wie es in Nigeria genannt wird. Niemand im Land glaubt, dass er ehrlich gewonnen hat, aber moslemische Kreise sagen nichts. Viele Menschen in den mittleren Landesteilen kennen aber moslemische Extremisten als Angreifer, die ihnen Hab und Gut rauben und die sie töten wollen. Sie glauben dem neuen Präsidenten nicht, dass er auch ihr Präsident sein möchte. Sie befürchten vielmehr, dass Schlimmes bevorsteht.
S.: Christen und Moslems haben ungefähr gleich große Bevölkerungsanteile in Nigeria. Wurde das bei den Wahlen berücksichtigt? Gibt es wenigstens eine Art von Proporz?
O.: Leider nein. Präsident und Vizepräsident – beide sind moslemisch. Das wurde früher anders gehandhabt, die beiden großen Religionen waren in der Staatsführung vertreten. Die Christen sehen diesen moslemischen Durchmarsch als schlimmes Vorzeichen, denn sie glauben ja, dass die Wahl gefälscht wurde, ich sagte das ja schon. Es droht Blutvergießen, es droht ein Völkermord.
S.: Zu wessen Lasten kann das gehen – sieht man da schon etwas?
O.: Ja, wir sehen Tendenzen. Die christlichen Igbo aus dem Südosten des riesigen Landes werden als Sündenböcke genommen. Sie werden regelrecht zu Untermenschen erklärt.
S.: Nur aus Glaubensgründen?
O.: Indirekt schon. Bis heute spielt die Biafra-Krise eine Rolle. Viele Menschen in den APC machen die Igbo von heute für die Biafra-Krieg verantwortlich, nimmt sie in Sippenhaft, dabei ist das über 50 Jahre her. Das verursacht Hass, denn es ist ein Narrativ, das spaltet. Und wenn erst Hass durch Narrative in den Köpfen verankert ist, wird der Völkermord zu realen Möglichkeit. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis zu Beispiel die moslemischen Yoruba anfangen, die Verleumdungen gegenüber den Igbo zu glauben. Und sie zu ermorden beginnen. Ich kann immer nur warnen – diese Möglichkeit ist real. Wir haben es in Ruanda gesehen. Dort hat es genauso angefangen!
S.: Betrifft das auch den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Obi?
O.: Ja, ganz direkt. Peter Obi gehört zum Volk der Igbo.
S.:ungläubig): Und er wird wirklich für die Biafra-Krise in Geiselhaft genommen?
O.: Ja, es ist ganz sicher so. Die Igbo wurden in der Biafra-Krise beschuldigt, Nigeria spalten zu wollen, dabei wollten sie nur als Christen nicht mehr von bestimmten Moslems verfolgt werden. Und das ist bis heute so. Deswegen hat die Kabale aus Militärs und moslemischen Kräften alles daran gesetzt, daß kein Igbo gewinnt. Aber es ist Wahlbetrug. Und es ist eine Diskriminierung.
S.: Wie sieht es denn jetzt, heute in der Haupstadt aus, in Lagos?
O.: Die Gewalt liegt förmlich in der Luft, die Gefahr steigt jeden Tag. Ganz besonders in Lagos. Die riesige Stadt mit rund 20 Millionen Menschen, denn die Vororte müssen mitgezählt werden, wenn es um mögliche Gewaltausbrüche geht, diese Riesenstadt ist jetzt ein einziger „battle ground“.
S.: Im Englischen ist das im übertragenen Sinne gemeint…
O.: Es gibt dort viel Gewalt, aber noch keinen Bürgerkrieg. Also ist das so zu verstehen, dass dort jedenfalls eine harte Auseinandersetzung bevorsteht. Wir können nur hoffen und beten, dass es nicht ein wirkliches Schlachtfeld wird.
S.: Spielt auch in Lagos das Narrativ der Xenophobie seine unheilvolle Rolle?
O.: Leider deutlich. Die Wut in Lagos ist besonders groß, denn die APC soll bei den Präsidentschaftswahlen ganz, ganz knapp gewonnen haben – aber jeder sagt, er habe die Labour-Partei gewählt. Die Leute glauben der Walkommission nicht. Die Xenophobie wird hier sehr stark genutzt. Ich blicke mit größter Sorge auf den 18. März und die Wochen danach.