Nexus – eine Aufforderung zum eigenständigen Denken

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Yuval Noah Harari ist ein gefeierter Historiker dieser Tage, bei der Frankfurter Buchmesse 2024 wurde er als Stargast gehandelt, bei Sandra Maischberger hatte er einen vielbeachteten Fernsehauftritt, in dem natürlich die gesamte Weltgeschichte der Menschheit abgehandelt wurde, die er in Kurzform erzählte – historisches Daumenkino, sozusagen. Darum soll es hier nicht gehen, sondern um den Netzwerkgedanken, der so alt ist wie die denkende Menschheit. Mit „Nexus“ legt Harari ein Buch vor, das die Information an sich, ihre sich stets wandelnde Bedeutung und ihre immer neue Weitergabe aus einem objektiven Blickwinkel beleuchtet.

Diese „Information an sich“ und ihre Verbreitung sind deswegen eines der zentralen Themen des frühen 21. Jahrhunderts, weil sie sich immer weiter in den Vordergrund schiebt. Wer hier an Facebook denkt, der steht erst am Anfang. Speziell der informationelle Lebensbereich wird, nachdem er sich über Jahrtausende parallel zum mehr oder weniger schnell fortschreitenden Wissen entwickelte, durch die Elektronik und die mit ihr einhergehenden Möglichkeiten – die Abkürzungen IT und KI mögen dafür stehen – auf exponentielle Weise bedeutender. Ob Harari die Darstellung dieser sozusagen explosiven Entwicklung vollständig oder mindestens zufriedenstellend gelingt, soll hier gefragt werden – denn an und für sich war ein Darstellung des vernetzten Denkens jedenfalls ein Desiderat.

Fulminant ist auch gleich der Einstieg. Gekonnt, fast spielerisch jongliert Harari mit den Begrifflichkeiten der Philosophie – speziell der Rechtsphilosophie. „Was ist Information?“ Diese Frage führt sofort weiter: „Was ist Wahrheit?“ Die Antwort ist nicht eindeutig – sogar  beim Evangelisten Johannes, der in seinem 18. Kapitel den Pilatus fragen lässt, was Wahrheit sei, bleibt diese Frage offen. Jesus von Nazareth, des Hochverrats angeklagt, dem der Statthalter Roms diese Frage stellt, schweigt. Und so, wie dem Bibelleser die Erkenntnis kommt, dass Pilatus hier unversehens vom Ankläger zum Ratsuchenden wird, de facto also „gläubig“, merkt der Leser, das eine Menge dran ist an Hararis Fragestellung.

Dieses Buch legt man so schnell nicht weg, weil es um die Fragen geht, nicht etwa um die Antworten. Wer an biblischen Themen interessiert ist, dem sei das vierte Kapitel in Teil 1 ausdrücklich empfohlen. Neu daran ist, dass die Eigenschaften eines sich wandelnden Netzwerkes auf den Komplex der jüdisch-christlichen Glaubenswelt angewandt werden. So innovativ und objektiv wurde dieses Thema selten behandelt – das mag natürlich daran liegen, dass der Autor aus dem Kontext des talmudisch geschulten Judentums heraus schreibt, es tut der Darstellung indessen keinen Abbruch, sondern es stützt sie. Nicht weniger spannend ist das Folgekapitel, in dem es um die Demokratie und ihre Grenzen geht. Harari wirft die Frage auf, ob sich der Wettstreit um die Hoheit über das Gut „Information“ auch in Zukunft zwischen konkurrierenden Systemen abspielt. Oder ob nicht vielmehr alle menschlichen Akteure miteinander gezwungen sind, mit überbordender künstlicher Intelligenz in Wettstreit zu treten.

Überraschend, aber doch sehr einleuchtend ist es, wie Harari die biblische Überlieferung und die Existenz der Demokratie verknüpft. Und wie er dann, kaum dass die Demokratie ins Spiel kam, den Totalitarismus als Gegenentwurf behandelt. Eine Lehrstunde, die schließlich, zum Ende von Teil II, auch zu Aussagen über die neuen Netzwerke für, die per Computer generiert werden und sich vielleicht schon bald selbst ergänzen und immer weiter ertüchtigen. Harari: „Das neue Computernetzwerk wird also nicht zwangsläufig gut oder schlecht sein. Mit Sicherheit wissen wir lediglich, dass es andersartig und fehlbar sein wird.“

Harari geht in diesem Buch von einer Einzigartigkeit des Menschen aus – allein schon deswegen, weil er in der Lage sei, Informationsnetzwerke zu bilden. Das ist trügerisch – ein Blick in Richtung einer Elefantenherde oder auch zu den Walen in den Weltmeeren genügt. Und zukünftige künstliche Intelligenzen wären hier auch zu bedenken. Wäre es da nicht sinnvoller gewesen, danach zu fragen, wie sich die Inhalte dieser Netzwerke unterscheiden? Das würde sich der Leser wünschen, der Rezensent jedenfalls ertappte sich mehrmals bei diesem Gedanken. Dann käme die Rede allerdings bald auf Inhalte und Meinungen – in Kultur, Religion, sogar die Transzendenz müsste Thema sein. Doch dieses Buch sollt abstrakt bleiben, so ist es vom Autor gewollt – aus einem ganz bestimmten Grund. Es geht ihm offensichtlich darum, das Feld auszuloten, auf dem sie die KI, die künstliche Intelligenz kommender Tage also, bewegt.

Im Johannes-Evangelium schweigt Jesus auf die Frage des Pilatus. Er bleibt, um im Bild zu bleiben, „abstrakt“. Harari erkennt diesen Mechanismus ganz offensichtlich, und er setzt damit ein Gegenbild zur KI. Diese Intelligenz erscheint ihm offenbar eher als eine Gefahr als eine Chance. Daher wäre es untunlich, von diesem Buch klare Antworten zu erwarten. Die Annäherung an die Erklärung, was Information und was ein Netzwerk eigentlich ist, liefert Harari natürlich trotzdem – letztlich ging es ihm aber nicht um eine endgültige Antwort. Ein Buch zu schreiben, das keine Antwort liefert und trotzdem Relevanz entfaltet, ist mutig. Doch das gelingt Harari, ja, dies ist gerade die Stärke dieses zum eigenen Denken anregenden Buches.

Ein wenig schade ist es lediglich, daß immer wieder Textpassagen mit Floskeln beginnen oder enden. „Der Mensch hat die Wahl“ – eine Zwischenüberschrift, die kaum zum Lesen einlädt, und dennoch lohnt die an diese Plattitüde anschließende Passage zur realen Machtpolitik, die sich im Bezug auf intelligente Netzwerke und KI stark verändert, ganz besonders. Doch dann kommt wieder einer dieser Sätze: „Das einzige Konstante in der Geschichte ist der Wandel“ – ja mei, das hätte uns Harari nicht ins Stammbuch schreiben müssen. Trotzdem bleibt das Fazit positiv. Harari wird seinem Ruf als Autor zeitgemäßer, großer Werke zu den weltbewegenden Themen heutiger Tage einmal mehr gerecht.

Cover Nexus

Yuval Noah Harari, Nexus, übersetzt von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn, München 2024, Geb. mit SU, 656 Seiten, 978-3-328-60375-7, 28,00 €.

 

 

 

 

Über Sebastian Sigler 105 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.