Lemberg – glanzvolle Metropole auf der Wasserscheide zwischen West und Ost

Buchrezension zu Gregor Gatscher-Riedls "Lemberg – k. u. k. Sehnsuchtsort und Weltstadt in Galizien"

Gregor Gatscher-Riedl: Lemberg – k. u. k. Sehnsuchtsort und Weltstadt in Galizien, Berndorf 2019, 2. Aufl. 2020, 300 Seiten, Hardcover mit SU, durchgehend reich bebildert, ISBN-13: 978-3-99024-777-8, 29,90 Euro.

Eine Weltstadt im östlichen Europa, zugleich mit einer direkten Anbindung in den Westen des Kontinents, angefüllt mit Schätzen der Baukunst, vor allem des Barock – das ist das historische Lemberg. Was davon die finsteren Zeiten des Kommunismus überdauerte, zeigt Greogor Gatscher-Riedl in einem wundervollen Band, in dem wohldurchdachte Texte mit einer opulenten Bilderpracht, die ihresgleichen sucht, kombiniert werden.

Am 17. Juni 1356 erhielt Lemberg, wie so viele Städte des östlichen Mitteleuropa, das Magdeburger Stadtrecht – bereits auf Seite 15 ist das zu erfahren; insgesamt umfaßt eine Schilderung der Stadtgeschichte, kompakt aufgearbeitet, knapp 40 Seiten. Bereits hier fällt die gute Bebilderung auf. Wahrlich eine Metropole war Lemberg, die „Stadt des Löwen“, dessen stilisiertes Abbild uns bereits im Frontispiz ganz dezent begegnet. Lemberg war die Perle im Osten der k.u.k.-Monarchie, solange diese bestand. Nach einer Zwischenkriegsepoche, in der die Stadt zur Zweiten Polnischen Republik gehörte, fiel sie unter Sowjetherrschaft. Heute, in der Ukraine, hat die Stadt alle Chancen, wieder ganz zu erblühen, falls Putins Raketen sie verschonen.

Wer eine Metropole erfassen und verstehen möchte, muß ihre Kathedrale studieren. Eine einzigartige Fusion aus Ost- und Westkirche stellt die Lemberger byzantinische St-Georgs-Kathedrale dar. Gleich die erste Einzeldarstellung seines Lemberg-Bandes widmet Gatscher-Riedl diesem Bau, damit setzt er ein ausgezeichnet plaziertes Zeichen. Sodann widmet er sich der römisch-katholischen Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale. Unter einer ganzen Reihe weiterer Kirchen, die gewürdigt werden, sei noch die baulich höchst bemerkenswerte armenische Kathedrale hervorgehoben – Lemberg als „das vierte Rom“? So ist das zweite Kapitel in Gatscher-Riedls Lemberg-Band übertitelt. Mit gutem Grund!

Ein Kapitel über das höchst bedeutende Lemberger Judentum schließt sich an, und von dort aus führt der Autor seine Leser direkt ins gelehrte, ins akademische Lemberg. Die jüdischen Studentenverbindungen bekommen eine eigene Doppelseite, auch alle übrigen Korporationen finden Erwähnung, denn erholsamerweise finden sich in diesem Band die Studenten mit ihren bunten Bändern und Mützen durchaus wieder – nicht im Mittelpunkt des städtischen Lebens, aber doch zweifelsfrei lebendig und vorhanden.

Ja, nun sind Sie neugierig, nicht nur auf Lemberg, sondern auch auf dieses Buch, liebe Leser? Völlig zurecht! Und die Neugier wird hier nicht gestillt, se müssen’s schon selbst lesen. Zwei Drittel dieses Bandes werden hier nur in Stichworten angerissen. Da ist dieses weltstädtische Stadtbild, das mit einer Altstadt voller enger Gassen einen reizvollen Kontrast bildet. Da ist dieser selbstverständliche internationale Blick, der von Wien bis Odessa reichte. Wer eine interkontinentale Reise plante, und das taten Viele, der buchte seine Schiffspassage ab Triest oder Odessa.

Und erst der Fortschritt! Das erste Straßenbahnnetz der Donaumonarchie wurde in Lemberg verlegt, elektrische Straßenbeleuchtungen gab es ebenso. Wen wundert es da, dass die Bilder aus der k.u.k.-Monarchie auch im Falle Lembergs aus heutiger Sicht wie ein verlorenes Paradies anmuten? Unter polnischer Herrschaft tat sich nicht mehr viel, und der Kommunismus hat danach quasi jeden Fortschritt blockiert, wie ein Pfropfen saß er auf der Stadtgeschichte. Manches wurde in beschädigten Zustand konserviert, enorm viel zerstört – weil Kommunisten die erklärten Zerstörer alles Schönen sind.

Doch die Auflösung von Gegensätzen ist das inoffizielle Motto der heute knapp eine dreiviertel Million Einwohner zählenden Metropole. Hier, an der Schnittstelle von West- und Osteuropa, sind Richtungs- und Regierungswechsel möglich gewesen. Quasi symbolisch steht der Hauptbahnhof, der einst als anerkannt schönster in der gesamten Donaumonarchie galt, exakt auf der Wasserscheide zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee. Galizien, die umgebende Landschaft, war ohnehin für ein vielfältiges Miteinander bekannt, bevor der Sozialismus in seiner schrecklichsten Ausprägung – als Nationalsozialismus – und dann der Kommunismus ihr Zerstörungswerk begannen. Was übrigblieb, ist der UNESCO immer noch den Titel „Weltkulturerbe“ wert. Und in diesem handlichen, aber doch kompakten Band wird exakt beschrieben, warum.

Ein überzeugendes, stimmiges und wegen der Bedrohung durch den Ukraine-Krieg höchst aktuelles Werk ist Gregor Gatscher-Riedl gelungen. Auch im vierten Jahr nach seinem Erscheinen hat es kein bisschen von seiner Aktualität und Relevanz eingebüßt. Hier ist der Beleg – Lemberg ist integraler Teil des europäischen Kulturraumes, gewissermaßen seine Mitte markierend. Unser Urteil: äußerst lesenwert!

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Über Sebastian Sigler 102 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.