Buchrezension von Sebastian Sigler: Ist Wokeness der neue Tugendterror?

Alexander Marguier / Ben Krischke, Die Wokeness-Illusion – Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet, Freiburg / Basel / Wien 2023, 127 S., geb., ISBN 978-3-451-39556-7, 16 Euro.

Nein, Rechtspopulisten sind sie wahrlich nicht, die Autoren des bemerkenswerten Bandes „Die Wokeness-Illusion“, der jetzt bei Herder erschien. Auch die Parteipolitik ist ihnen fremd. Sie beobachten lediglich, was hierzulande derzeit geschieht. Grandios die Analysen der Herausgeber Alexander Marguier und Ben Krischke, messerscharf den Zeitgeist zerschneidend die Schlussplädoyers von Stefan Laurin und Ralf Hanselle. Aber der Reihe nach.

„Mein Sozialismus ist nicht dein Sozialismus!“ Auf Seite 19 kommt dieser Satz mitten im Fließtext – und trifft unmittelbar. Dies ist eine Kernbotschaft, denn sie erklärt, wieso es einerseits sozialistische Parteien in den Parlamenten gibt, andererseits aber linke Extremisten an Deutschlands Straßen kleben und sich nur mit Mühe zurückhalten können, jahrhundertalte Kulturgüter unwiederbringlich zu vernichten. So, wie es der Islamische Staat exerzierte. – Aber der Rezensent schweift ab, zurück also zum Text.

Was heute als Wokeness daherkommt, hat mit der Frage nach Gerechtigkeit, nach Teilhabe, nach Respekt angefangen. Und diese Frage ist prinzipiell berechtigt. Doch dann wurden die Fragen lauter, radikaler, drehten schließlich die Beweislast um. Für Menschen, die ab ihrer Geburt ohne ihr Zutun eine weiße Hautfarbe hatten und deren Geschlecht männlich ist, gibt es keine Unschuldsvermutung in der neuen Welt der Wokeness, und schwer verdächtig werden diese Menschen, wenn sie über 50 Jahre alt sind, wenn sie erkennen lassen, dass sie christlich denken, wenn in ihrem Privatleben keine sexuellen Perversionen vorkommen. Wer also derart verdächtig ist, der lese dieses Buch aus der Feder kritischer Analysten, die objektive Maßstäbe anlegen und dabei zu erschreckenden Diagnosen für die heutige deutsche Gesellschaft kommen.

Woher die „woken“ Verirrungen kommen, ist in diesem knappen, wundervollen Band natürlich klar aufgeschlüsselt. Der Name Judith Butler muss gar nicht erst erwähnt werden, aber wussten Sie, dass die Gender-Historikerin Joan Walach Scott fordert, dass Historiker nicht mehr „treu gegenüber vergangenen Fakten“ sein sollen, sonder stattdessen treu „gegenüber zukünftigen Zielen“? Wohin könnte solches Denken führen? Wohin hat solches Denken im letzten Jahrhundert in Deutschland geführt? Schon nach diesem ersten Aufsatz, ebenfalls von Ralf Hanselle, ist klar, dass dieses Buch eine Millionenauflage verdient hätte.

Mathias Brodkorb beschäftigt sich sodann mit dem, was heutzutage „Rassismus“ genannt wird. Er geht dabei von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus, die unter dem unmittelbaren Eindruck des Nationalsozialismus entstand, und erklärt, warum spätere, kritische Sichtweisen genau zum alten Rassismus im neuen Gewand zurückführen, anstatt ihn dauerhaft zu beseitigen. Insbesondere nennt er die Critical Race Theory (CRT), nach der nur Menschen mit weißer Hautfarbe Rassisten sein können: „Der neueste Schrei der kritischen Antirassisten läuft somit darauf hinaus, selbst in rassistischen Theorien zu denken – und es nicht einmal zu merken.“ Brodkorb bringt angstmachende Beispiele, legt in seiner überzeugenden Conclusio aber dar, daß der rassistische Antirassismus letztlich auf eine Tautologie hinausläuft und somit wirkungslos wird. Wie viele Persönlichkeiten, wie viele Gesellschaften zerstört sein werden, bis es endlich soweit ist, sagt er nicht.

Viel ließe sich schreiben über dieses Buch – jeder Satz ein Treffer, jeder Gedanke nachvollziehbar, jede Schlussfolgerung eine Erkenntnis. Das gilt auch für Ben Krischke, der zur Debatte um die Geschlechter festhält, dass erstens 99,98 Prozent der Bevölkerung ein klar und eindeutig zuzuordnendes Geschlecht haben, das „männlich“ oder „weiblich“ heißt, und dass die vielbeschworene „Intersexualität“ nach Auskunft von Medizinern ausnahmslos durch Gendefekte hervorgerufen wird. Jawohl, Defekte. Punkt. Die Lektüre lohnt speziell hier ganz besonders.

Wussten Sie, verehrter Leser, was „progressiver Neoliberalismus“ ist? Wenn mit einem Gendersternchen höhere – berechtigte – Lohnforderungen abgewiesen werden. Was hier wie ein bitterer Witz klingt, ist Realität. Beim weltgrößten Warenversender, der auch hierzulande den Einzelhandel zur Verzweiflung bringt – Bernd Stegemann stellt das fest, völlig korrekt im übrigen. Ganz nebenbei werden, so Stegemann weiter, die Gewerkschaften erledigt, weil sich das linke politische Spektrum in einen sozialen und einen identitätspolitischen Flügel spaltet. Wie praktisch! Jedenfalls für die neuen „woken“ Millionäre – nicht aber für die Millionen von ganz normalen Menschen, die entweder an ihrer Persönlichkeit zweifeln oder unterm Gendersternchen verarmen. Philipp Jess sekundiert sodann Stegemann mit einem Beitrag über „Woke Washing“, das er knapp und treffend als „Blendwerk für den politisch korrekten Konsum“ entlarvt.

Ein zentrale Botschaft hat Ingo Way: „Genus und sexus sind nicht dasselbe.“ Punktum. Ja, so ist es! Und leicht, ja, elegant entlarvt der Autor sodann die Verfechter der Gendersprache in Schrift und Worte als Erziehende – wobei dieser Begriff exakt richtig gesetzt ist, denn diese Verlaufsform bedeutet, dass unablässig weitergemacht wird. Der Operierende wird hoffentlich eine Pause machen, denn sonst sterben unweigerlich Patienten. Der Autofahrende ebenso, denn sonst erleiden seine Mitfahrenden den Unfalltod. Erziehende aber erziehen unablässig die Menschen, derer sie habhaft werden – gegen deren Willen zumeist, dafür aber umso penetranter. Bravo, Ingo Way!

Knapper und schärfer wird das Buch gegen Ende. Stefan Laurin schreibt auf Seite 107 im Bezug auf die postmodernen Fakten vom „Glauben, dass die Wirklichkeit durch Sprechakte geschaffen wird“. Meinungen wären damit die neuen Fakten, und sie sind es in zunehmendem Maße. Natürlich kann dadurch die eine oder andere Ungerechtigkeit abgemildert oder ausgeglichen werden, aber neuer Ungerechtigkeit ist zugleich Tür und Tor geöffnet. Früher nannte man (sic!) das „den Teufel mit dem Beelzebub austreiben“. Es ist alles schon einmal dagewesen – nur wurde es anders ausgedrückt.

Und dann, wie eingangs erwähnt, der Schlußaufsatz von Ralf Hanselle. Zwölf Seiten reichen ihm, um mit der Debatte um die „kulturelle Aneignung“ aufzuräumen. Unter dem Rubrum „romantischer Reinheitszwang“ dekliniert er die Zerstörung des kulturellen Menschheitskonsens, der sich zuerst bei Herder findet und der sich bis zum Nationalsozialismus immer weiter verschärft. Dort, genau dort wurde die Leistung von Kollektiven über die Leistung des Individuums gesetzt. Und wo stehen wir heute, wohin gehen wir? Diese Frage erklärt der Titel des Buches – was als Wokeness apostrophiert wird, ist alles andere als das, was es zu sein vorgibt. Wer eine Befreiung erwartet, unterliegt einer Illusion. Diese Wokeness ist vielmehr die konkrete Drohung, ein reaktionäres, ein freiheitsfeindliches Zeitalter heraufziehen zu lassen.

Sind die Vertreter der Wokeness-Illusion nun Machtbesessene, die unter dem Mäntelchen einer scheinbaren Gerechtigkeit alte Privilegien behalten beziehungsweise neue für sich selbst schaffen wollen? Ja. Schlicht und einfach – ja. Im übrigen spielt auch die Hybris eine große Rolle in der ach so „woken“ Genderdebatte, wie zum Beispiel an der Baerbockschen Maßgabe der „feministischen Außenpolitik“ deutlich sichtbar wird. „Am deutschen Wesen mag die Welt genesen!“ Wer hat diesen Satz vor etwa 160 Jahren geprägt, welche deutschen Staatenlenker haben ihn übernommen? Alle „woken“ Mitbürgernden, die’s nicht wissen, müssen die Googl*in fragen.

Fazit: Dieses Buch birgt wichtige Erkenntnisse. Es ist unbedingte Pflichtlektüre für alle Menschen, die für die teils verborgenen, teils bereits völlig offen zutage tretenden Gefahren für unsere Gesellschaft sensibilisiert werden möchten. „Nun seid ihr wohl gerochen an eurer Feinde Schar“ – eine Formulierung aus Bachs Weihnachtsoratorium. Alle, die das fühlen, werden in diesem Buch argumentative Stärkung erfahren. Klare Empfehlung: fünf Stück kaufen, vier verschenken! Oder das Monatsmagazin Cicero lesen, denn dort schreibt die Mehrheit der Autoren dieses wichtigen Buches.

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Über Sebastian Sigler 104 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.