„Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren…“

Bilder: Bernhard Grün (Karzer)

Millionen von Touristen hat dieser unvergleichliche Heidelberg-Schlager, gedichtet im Jahr 1927 von Fritz Löhner-Beda, Mitglied der J.A.V. Kadimah Wien, ermordet 1942 im KZ Dachau, in eine kleine Spätbarockstadt am Neckar gelockt. Von den Bomben der Weltkriege verschont, ein Stück Biedermeier-Idyll, aber trotzdem von einer monströsen Ruine überragt – denn nichts anderes ist, nüchtern betrachtet, das Heidelberger Schloß.

Gerade hier, zwischen den Ruinen frühneuzeitlicher Franzosenkriege und der unverfälschten Biedermeier-Szenerie, treibt sich bevorzugt eine Spezies von Akademikern herum, die argwöhnisch betrachtet wird. Ganz nebenbei und vorweg – das Misstrauen ist berechtigt! Allerdings nicht, weil unter denen, die da mit Band und Mütze sich schmücken, auch eine Handvoll politisch irregeleiteter Radikalinskis wäre – oder jedenfalls nicht nur. Denn schon immer waren Verbindungsstudenten, und um diese Spezies Akademiker geht es hier, schon immer „verdächtig“. Zu Zeiten absoluter Fürsten waren sie unbequeme Demokraten, im Wilhelminismus waren sie Exponenten überschäumenden Nationalstolzes, heutzutage hängen manche einem überkommenen Menschenbild nach. Alles richtig, alles korrekt beobachtet.

Aber da waren immer auch andere „Verdächtige“. Da waren die überzeugten Katholiken, die im Kulturkampf ihren akademischen Halt in sehr stark wachsenden CV-Verbindungen suchten und fanden. Da war Rahel Goitein, im Jahre 1900 die erste ordentliche Medizinstudentin Heidelbergs, die 1901 nichts besseres zu tun hatte, als zunächst mal eine ordentliche Verbindung für Damen zu gründen. Da waren die Studenten um Theodor Herzl, die den Zionismus auf ihre Fahnen schrieben – natürlich waren sie korporiert! So wie Herzl selbst ja auch. Auch sei darauf hingewiesen, daß auch diejenigen unter den politisch heterogen aufgestellten Burschenschaften, die heute teils bestens nachvollziehbar als „rechts“ geschmäht werden, einstmals die frühesten wirksamen Vorkämpfer für etwas waren, das wir heute als unverzichtbar und konstitutiv genießen: die Demokratie.

Und nun liefen sie also wieder durch Heidelberg, diese „Verdächtigen“ mit ihren Bändern und ihren Mützen. Wie sie das seit 1924 tun, unterbrochen durch den Nationalsozialismus, dem sie natürlich höchst konkret verdächtig waren, denn sie traten immer für Demokratie und Freiheit ein, weswegen auch etliche Verbindungsstudenten in deutschen Gestapokellern und Konzentrationslagern ermordet wurden. Doch nach der Diktatur gelang die Fortsetzung, und zum nunmehr 84. Mal trafen sich die Studentenhistoriker zur Tagung ihres Arbeitskreises, kurz AKSt, in Heidelberg zu einer europaweiten Tagung, turnusgemäß gemeinsam mit dem Österreichischen Verein für Studentengeschichte (ÖVfStG) und der Schweizerischen Vereinigung für Studentengeschichte (SVSt).

Bereits am Donnerstagabend versammelten sich die Teilnehmer zum Begrüßungsabend im dichtbesetzten Saal des unterhalb des Heidelberger Schlosses im Barockstil erbauten Mittermaier-Palais, seit 1822 bis zu seinem Tod bewohnt von dem Heidelberger Rechtsgelehrten und liberalen Paulskirchen-Politiker Karl Joseph Anton Mittermaier, selbst seinerzeit als Corpsstudent ein Träge von Band und Mütze, das sich seit 1958 im Besitz der Turnerschaft Ghibellinia befindet. Am darauffolgenden Vormittag stand die Besichtigung des historischen Studentenkarzers mit seinen humorvollen Wandzeichnungen, die die meist nur wenige Tage inhaftierten Adepten früherer Studentengenerationen dort hinterließen, auf dem Programm. Dort zu sein, sich umzuschauen und zu verstehen – ein Schlüsselmoment nicht nur für Studentenhistoriker. Hier kreuzen sich die kulturellen Perspektiven. Wer in früheren Jahrhunderten stigmatisiert wurde, indem er im Karzer einsitzen musste, wird heute anders gebrandmarkt: durch soziale Ausgrenzung, durch Missachtung. Auch die Universität Heidelberg, die sich sehr fortschrittlich gibt, muss sich fragen, wie sie es mit der Toleranz hält. Denn ihren Festakt zu ihrem 100jährigen Bestehen durften die Studentenhistoriker nicht in der Großen Aula feiern. Die Absage, die nach vielem Nachfragen eintraf, enthielt keine inhaltliche Begründung. Ein Armutszeugnis für eine akademische Einrichtung!

Doch versierte Studentenhistoriker haben immer eine Lösung parat. Und so fand der große Festakt in der Heiliggeist-Kirche statt. Feierlich gedachten über 120 Studentenhistoriker ihrer Toten und blickten in ihre wissenschaftliche Zukunft. Kongenial die musikalische Begleitung durch Dr. Harald Pfeiffer, VDSt Heidelberg, abwechselnd an der großen Orgel, am Flügel und auf der Trompete, überleitend zu den Grußworten der Vertreter der verschiedenen Vereinigungen. Lieder der alten Studenten, allen voran das Gaudeamus igitur, umrahmten den Festvortrag des Rechtsprofessors und Alten Herrn der Burschenschaft Frankonia, Klaus-Peter Schroeder, der über das „Heidelberger Studentenleben am Vorabend des Ersten Weltkriegs“ sprach und allgemeinen Beifall erhielt. Angetan im purpurrot besetzten Talar wechselte der Redner nach seiner Begrüßung zur allgemeinen Erheiterung der buntbemützten Schar effektvoll das Barett seiner Fakultät gegen den dunkelroten Stürmer aus Studententagen.

Am Samstag standen auf dem 1904/05, ebenfalls anstelle eines ehemaligen Ausflugslokals, als eines der prächtigsten seiner Art, errichteten Haus des Corps Suevia insgesamt sechs Vorträge auf dem ehrgeizigen Programm. Als Apercu sei angemerkt, dass der Saal, in dem man tagte, von 1945 bis 1955 eine Synagoge war, und dass dort der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet wurde – dies ist eines der Ergebnisse dieser Tagung, der dazugehörige Aufsatz folgt im wissenschaftlichen Tagungsband. Gesellschaftlicher Höhepunkt der Tagung war am Samstagabend die Festveranstaltung „100 Jahre AKSt“ im Großen Saal des Hauses der Burschenschaft Frankonia. Ein Heidelberger Chor brachte zur Begrüßung Lieder des Dichters Viktor von Scheffel dar, zur Studentenzeit war der selbst Mitglied Frankonias. Für viele Teilnehmer in Band und Mütze, die gerade auf den Geschmack gekommen waren, endete die Tagung am Sonntagvormittag mit einer Matinee auf dem Haus des Corps Thuringia viel zu früh. Bis 1933 war dies der Sitz der farbentragenden und durchaus mensurbeflissenen jüdischen Verbindung Bavaria im Kartell-Convent. Dann wurde die Bavaria verboten, das Haus – zum Glück zu einem fairen Preis – verkauft.

Freud und Leid, das Glück der Tüchtigen und das Unheil des Schicksals, revolutionäres Fortschrittsdenken und rückwärts blickende Melancholie – all das findet sich bei diesen Verdächtigen in Couleur, die vom 10. bis 13. Oktober in Heidelbergs Straßen zu sehen waren. „Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren“ – so textete Fritz Löhner-Beda, von dem im übrigen auch unzählige andere Lieder und Libretti sind, darunter Lehárs Operetten „Die lustige Witwe“ und „Das Land des Lächelns“. Und im nächsten Jahr zur selben Zeit werden sie wieder auftauchen, die Studenten mit ihren bunten Mützen – wo, wird noch nicht verraten.

Ruth Cadosch (Kirche)

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Über Sebastian Sigler 104 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.