
Tugenden sind ethisch und moralisch gut. Sie befähigen jederman, nützliche und rettende Taten zu vollbringen. Ihr Gegenteil wären Laster und Sünde, die gleichwohl ständige Verlockungen darstellen. Jedwede tugendhafte Handlung ist daher stets von der Versuchung bedroht sowie mit Mühen verbunden – mit wahrlich großen Mühen zuweilen. Eine Würdigung der Tugend in ihren vielen Handlungsformen suchte man indessen vergebens. Daniel Zöllner schließt daher mit „Mut zur Tugend“ eine große Lücke.
Zugegeben – die Tugend, als Terminus verstanden, mutet durchaus ein wenig verstaubt an. Ihre Verteidigung bedeutet, ein Kontrastprogramm zum aktuellen Weltgeschehen zu entwickeln. „Krasser Kontrast!“ – so könnte die umgangssprachliche Reaktion ausfallen, nimmt man das Buch von Daniel Zöllner zur Hand. Auch rein äußerlich ist keinerlei Mühe zu erkennen, jedweden Zeitgeistern zu folgen. Ein spätmittelalterlicher ein Ritter zu Pferd, begleitet von Tod und Teufel, ist der einzige Bildschmuck des gleichwohl stilvoll-gediegenen Covers. Der berühmte Stich, der hier wiedergegeben ist, er stammt von Albrecht Dürer, passt indessen recht gut zu Inhalt und Anliegen des Buches – soviel vorweg.
Ein Blick in die Tagespresse genügt. Weltweit drohen gnadenlose Rohstoffkriege und wachsende Zollschranken. Ein bethlehemitischer Kindermord durch vielerorts legitimierte Abtreibungen sowie ein moslemischer Kain, der seinen christlichen Bruder Abel hunderttausendfach erschlägt, bilden den globalen Rahmen. Doch so groß diese Anfechtungen und Kränkungen der Tugenden auch ist – dem Autor gerät die Individualethik nie aus dem Blick. Um diese individuelle Sicht auf den Menschen geht es ihm offenkundig.
Nichts ist aktueller als eine Neubelebung des Konzepts der Tugend, das erfahren wir bei Daniel Zöllner. Natürlich sind diese altertümlichen sechs Buchstaben in unsere Lebensrealität „zu übersetzen“, das ändert aber nichts an ihrer Gültigkeit. Diejenigen, die uns in der modernen Medienöffentlichkeit als Helden und Vorbilder begegnen, werden zumeist nach dem beurteilt, was sie sagen oder schreiben, und nicht nach dem, was sie sind. Zwar kommen einige von ihnen zu Fall – ihr Stoppschild ist hierzulande, um eine fast schon verblassende Metapher zu bemühen, über einer ausgefallenen Ampel angebracht.
Dieses Buch ist geeignet, den Sprachmissbrauch – auch die verfälschende Verkürzung der Botschaften – als propagandistisches Machtmittel zu entlarven. Was schon oft geschah, erleben wir trotz oder gerade wegen unserer online jederzeit sichergestellten, technischen Erreichbarkeit derzeit wieder – die Errichtung großer Weltreiche durch Lüge und Täuschung. Ob es die Ausbeutung von Rohstoffen oder die ungebremste Überwachung durch heimtückische Manipulation ist – alles könnte derzeit auf einen „gewaltlosen Totalitarismus“ oder, im schlechteren Fall, auf eine globale Rohstoffdiktatur hinauslaufen. Diese düstere äußere Beschaffenheit der Welt schildert Zöllner, seine Wirksamkeit bezieht er aus der biblischen Überlieferung.
Vor dem Welttheater, das düstere Kulissen aufziehen lässt, breitet Zöllner kundig eine theologische Folie aus. Vor ihr erscheint dem Leser die heute gleichfalls erkennbare Tendenz zur immer mehr ausgreifenden Psychologisierung mehr als fraglich. Indem er die diesseitsbezogene seelische Erforschung ausblendet, ändert er den Blickwinkel deutlich. Die immer neuen und sich vielfach überlagernden Wahrnehmungen, die die Kontemplation ersetzen, werden nun als heillose Ablenkung vom Eigentlichen überdeutlich. Die Zersetzung des Eros in eine banale, hemmungslose Sexualität wird als geistige Grundlage für den hunderttausendfachen Kindermord, „Abtreibung“ genannt, entlarvt.
Am Ende steht – Zöllner warnt deutlich – das Abgleiten in eine digitale Welt der Beliebigkeit, die mit harmlosen Katzenvideos beginnt und die in einem diffusen, digitalen Raum endet, in dem die Unterschiede zwischen realer und virtueller Welt verschwinden. Und in dieser Welt in einem geistigen Plasmazustand hat der Kinderwunsch keinen Platz, die Erziehung von Kindern noch weniger. Von einem tödlichen Sog der Selbstzerstörung zu sprechen, der mit dem Rückzug in digitale Welten angesichts einer hoffnungslos totalitären Weltwirklichkeit einhergeht, ist das nicht zu weit gegriffen? Durchaus nicht – wie uns Daniel Zöllner vor Augen hält.
Trotzdem einen Raum für „Lebenskunst“ zu sehen: das erfordert genau diesen „Mut“, den er einfordert. Und plötzlich wird die Einhaltung von Tugenden im althergebrachten Sinne zu einem Gebot des seelischen Überlebens. Damit aber der gefundene Standpunkt auch Wirksamkeit entfaltet, muss er den Ansprüchen der objektiven Wahrheit genügen. Daniel Zöllner gelingt es, hier Lösungen anzubieten. Er greift dazu immer wieder auf die Überlieferung der biblischen Botschaft zurück, formuliert auf Seite 20 zum Beispiel klar und unmissverständlich: „Tugend, also das objektive Gutsein eines Menschen, ist nicht dem subjektiven Belieben anheimgestellt. Es ist auch kein vages Empfinden, sondern klar definierbar.“
Damit kann der Buchtitel „Mut zur Tugend“ als ein verdichtetes Programm gelesen werden. Zöllners Ansatz funktioniert ausgezeichnet. Er stellt zunächst die vier Kardinaltugenden vor – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maßhalten. Es folgen die drei zentralen paulinischen Begriffe Glaube, Hoffnung, Liebe – hier nutzt Zöllner sehr elegant die Basis der Tugendethik, die der bedeutende Münsteraner Philosoph Josef Pieper gelegt hat. Diese sieben Säulen bilden das Fundament des Buches, und jeder Leser kann sie nahtlos auf sein eigenes Leben umlegen, denn sie sind gut und griffig formuliert, dabei alltagsnah – aber der Autor verlässt nie seine theologische Reiseflughöhe.
Es ist uralte Überlieferung, dass es sieben Todsünden gibt. Daniel Zöllner hat den Mut, seinen Lesern diese Sünden vorzuhalten und ihnen klar zu verdeutlichen, was sie eigentlich sind: Wurzeln des Bösen. Ursachen für Rohstoffkriege, für hunderttausendfachen Mord am ungeborenen Kind, für millionenfaches Abschlachten derer, die sich durch eine vor Gott empfangene Gnade den Todsünden, die sie abhängig machen würden, zu entziehen wissen. Der Leser bekommt schon jetzt eine Ahnung von Gesamtzusammenhängen, denn den Abhängigkeiten der Welt – symbolisiert in den sieben Todsünden – steht die zuvor ausgelegte Offenbarung einer Glückseligkeit in Gott entgegen, die sich in den drei paulinischen Grundbegriffen, durch die vier Kardinaltugend gestützt, verwirklicht.
Es ist nicht zuviel gesagt: Zöllner legt in seinem neuen Buch wesentliche Gedanken vor. Er beherrscht die Kunst des Überblicks. Auf dieser Grundlage, die er seinen Leser ausgebreitet hat – und unwillkürlich kommt dem Rezensenten eine gedankliche Übereinstimmung mit Dantes „Göttlicher Komödie“ in den Sinn –, wird es möglich, über bewegende Themen der Gegenwart nachzudenken, etwa über Tod, Urvertrauen und eine wohlverstande, d. h. in den Horizont einer höheren Ordnung gerückte Erotik.
Seinen gedanklichen Kreis erweitert Zöllner schließlich auf Fragen der Glaubenspraxis; damit bekommt auch die Zeitkritik ihren Platz. Das Buch kann daher ein wirksames Vademekum sein, das dem Leser in den gewaltig wachsenden Unsicherheiten der Gegenwart Halt schenkt. Das Vorwort steuerte die derzeit wohl bedeutendste Religionsphilosophin hierzulande bei: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Ein gewichtiges Werk ist entstanden, das in seiner schlichten äußeren Anmutung ganz hinter den Imperativ seiner Titelworte zurücktritt, Programm ebenso wie Hoffnung verheißend: „Habe Mut zur Tugend!“
Daniel Zöllner: Mut zur Tugend. Essays zur Lebenskunst in der Gegenwart. Mit einem Vorwort von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, erschienen in der Reihe „Bedenken und Besinnen“, Lepanto Verlag, Rückersdorf üb. Nürnberg 2024; 192 Seiten mit Abbildungen, Klappenbroschur, ISBN 978-3-942605-38-0; 19,50 Euro.