Fin de Siècle und Aufbruch: Heinrich Friedjungs politische Vision

Vivanco Friedjung, De Gruyter Oldenbourg

Unsere deutsche Geschichte kennen wir – das lange 19. Jahrhundert ist uns vertraut. Was aber ging ab 1848 bei unseren Nachbarn vor sich, in Österreich? Aber halt, damals gab es noch kein Wilhelminisches Reich! Die Politik in Wien vor 1871 betrifft den Deutschen Bund direkt. Sie betrifft damit die Bayern, die Sachsen, die übrigen Rheinbundstaaten wie übrigens auch die Tschechen und die Ungarn als eine zumindest indirekte Art der Innenpolitik. Vor diesem Hintergrund wird plötzlich eine Studie höchst interessant, die jetzt bei de Gruyter erschienen ist: „Liberale Öffentlichkeit, Kultur und säkularisiertes Judentum nach 1848“.

Pablo Vivanco ist der Autor des druckfrischen Werkes. Er arbeitet feine Veränderungen im gesellschaftlichen Geschiebe der Donaumonarchie heraus, die – eine nach der anderen – im 20. Jahrhundert schließlich in die Katastrophe führen sollten. Wenn für kurz nach 1850 von einer mehr oder weniger überall vorhandenen Separierung jüdisch-liberaler und konservativ-katholischer Milieus in den Ländern Deutschösterreichs die Rede ist, dann vermeldet er das sachlich. Die Zeitgenossen dachten sich vielleicht nicht einmal viel dabei – in der Rückschau aber sieht man, das hier bereits die Fundamente schwinden, daß hier bereits die teuflische Saat des Antisemitismus treibt. Innerlich macht das den Leser erschauern. Das klare Signal, das dann, in ein Fin de Siècle hineinweisend, von dem jungen Publizisten Heinrich Friedjung kam, gewinnt vor diesem Hintergrund erst seine Bedeutung.

Sehr wohl war der Wiener Liberalismus, ausgehend von einem wohlhabender werdenden und durchaus die Stimmung in Stadt und Land prägenden Bürgertum, eine Erfolgsgeschichte. Vivanco nennt die Eckpunkte, und schon dies interessant, weil die Agenda doch ein wenig von der preußischen Geschichte abweicht, die sich heute als Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik, von Preußen ausgehend, durchgesetzt hat. Nach dem Scheitern der Revolution von 1849, bei der immerhin „Schwarz-Rot-Gold“ in Wien wehte, ist die Februar-Verfassung des Jahres 1861 der nächste Einschnitt. 1867 verglichen sich die gesellschaftlichen Antagonisten, gemeint ist ein finanzieller Ausgleich innerhalb der Donaumonarchie zugunsten der wirtschaftlich deutlich nachhinkenden Ungarn, den man in den westlichen Landesteilen nur zähneknirschend hinnahm; auf Wien wirkten einerseits die habsburgisch-jesuitischen Kräften und andererseits die liberale, stark jüdisch geprägte Seite. Das Jahr 1871 war in Wien nicht prägend, die Reichsgründung unter preußischer Hegemonie wurde nach Königgrätz höchstens indigniert „hingenommen“. Wichtig für das liberale, aufstrebende Bürgertum war dagegen der Börsenkrach von 1873, derselbe übrigens, der auch das Deutsche Kaiserreich in eine Krise stürzte.

1851 erst wurde Friedjung geboren, und gerade 26jährig veröffentlichte der Historiker und Journalist seine Schrift „Der Ausgleich mit Ungarn“. Er repräsentierte die zweite Generation liberaler jüdischer, aufstrebender Bürger einer sich ständig modernisierenden Wiener Doppelmonarchie. Den Finanzausgleich mit Budapest prangert er an, er sieht in der für ihn aktuellen Finanzmisere ein abermaliges Versagen Österreichs. Das durch diesen Ausgleich erzielte – besser: abgeänderte – Bankenstatut prangt denn auch auf dem Titelbild des insgesamt schön gestalteten Werkes: als doppelköpfiger Drachen. Eine böse Karikatur auf den Doppeladler ist hier unschwer erkennbar.

Friedjung stellte heraus, daß sich innerhalb der aus geschichtlicher Perspektive wie selbstverständlich als Einheit wahrgenommenen Doppelmonarchie nicht nur Risse, sondern wahre Abgründe in der Finanz-, Fiskal- und Haushaltspolitik aufgetan hatten. Der Grund für diese Zerreißprobe unter dem Doppeladler war, daß die beiden größten – und namensgebenden – Teile des Vielvölkerstaates wirtschaftlich sehr ungleich waren. Deutschösterreich war der ungarischen Reichshälfte wirtschaftlich um ein Mehrfaches überlegen. Wenn nun aus Ungarn nach mehr Krediten, mehr Förderung und einem unbegrenzten Zugang zur Wiener Nationalbank gerufen wurde, ist völlig klar, was geschehen mußte.

Haben im „langen 19. Jahrhundert“ Bürgertum und die Liberalen insgesamt versagt? Diese Frage wird in der Geschichtswissenschaft vielfach gestellt, und Vivanco berührt sie mit seinen Ausführungen mehr als einmal. Schon die Hinführung zur Persönlichkeit eines Heinrich Friedjung, der einem größeren Publikum eher nicht bekannt gewesen sein dürfte, birgt deutliche Hinweise darauf, daß eine liberale, gern auch linksintellektuelle, jedenfalls bürgerliche Richtung in der Zeit der sterbenden Dynastien schlichtweg keine Chance hatte. Zwischen großen Dynastien, rastlosen Revolutionären, entstehenden Volksparteien und immer wieder gestört durch Diktaturen konnten sie sich nicht entfalten. Die Gedanken des jungen Journalisten und Historikers Friedjung stehen dafür beispielhaft. Er bemühte historische Vergleiche, und zwar durchaus virtuos. Dazu verweist er zurück bis in die Zeit der Vertreibung der Lutheraner, die wenig später im Ermland – ausgerechnet in Preußen! – als „Salzburger“ eine neue Heimat finden sollten. Seine Schrift, historisch argumentierend, aber im Ton einer Skandalisierung abgefasst, entfaltete auch bei seinen Zeitgenossen durchaus Wirkung.

Doch es gibt auch eine Art zweiter Wirkung. Friedjung wird – jung, scharf, jüdisch – zu einem Vorläufer Theodor Herzls. Seine fiskal- und staatspolitische Überlegungen bilden eine Hinführung zu dem, was ab 1896 mit „Der Judenstaat“ bei Theodor Herzl als Vision vollendet war – und Wirkung erzielte. Vision Friedjung aber war einer der Ersten, der so klar Roß und Reiter nannte, der damit auch in Erinnerung geblieben ist. Mit gutem Recht hat ihm Pablo H. Vivanco eine gewichtige Schrift gewidmet, der das Verlagshaus de Gruyter einen sehr adäquaten fest eingebundenen Rahmen gegeben hat. Fachleute werden um dieses Buch, die Buchfassung einer sehr gelungenen Promotionsschrift, nicht herumkommen.

Vivanco, Pablo H., Liberale Öffentlichkeit, Kultur und säkularisiertes Judentum nach 1848:  Heinrich Friedjung und die konstitutionelle Linke in der Habsburger Monarchie, Hardcover, Berlin / Boston 2024, ISBN 978-3-11-139069-7, 79,95 Euro.

Vivanco Friedjung, De Gruyter Oldenbourg
Über Sebastian Sigler 94 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.