Ein Jahr nach dem größten Massaker an jüdischen Menschen seit 1945 steht Israel militärisch halbwegs erfolgreich da. Die Terroristen, die am 7. Oktober 2023 wehrlose Menschen erschlugen, verschleppten, vergewaltigten, grausam zu Tode quälten – sie sind zur Rechenschaft gezogen worden. Ihre Anführer wurden in teils spektakulären Aktionen zur Strecke gebracht, die Strukturen der Hamas dürfen als komplett zerstört betrachtet werden, im Libanon gleiches zu erwarten. Das ist das, was man sieht. Doch einer wie Saul Friedländer blickt tiefer.
Der Überraschungsangriff der Hamas ist ein Trauma. Die vielen grausam getöteten, verstümmelten, um ihres Glaubens willen getöteten Menschen lasten als unendlich schwere Trauerbürde auf allen Israelis, die immer noch verschleppten Geiseln, über 100, sind eine offene Wunde, in der die mitleidlosen Terroristen täglich das Messer herumdrehen. Aber da ist dieses Unverständnis darüber – im Lande, wohlgemerkt! – darüber, dass die Geheimdienste nichts merkten, dass die Regierung unvorbereitet war. Dass, ganz praktisch gesprochen, fast kein militärisches Gerät in der Nähe der Gaza-Streifens präsent war. Dass niemand auf eine ganz einfache Symbolik kam, die einer teuflisch böse gesinnten, feindlichen Macht in den sinn kommen könnte: „50 Jahre nach Jom Kippur greifen wir an.“ Saul Friedländer dokumentiert die Wirkung dieses Jahrhundertverbrechens ebenso wie das erschreckte Versagen derer, die es traf. Unmittelbar, schnörkellos, ohne falsches Pathos, in meisterhaftem Duktus, und gerade darum unglaublich bewegend.
Ja, was 1973 passierte, war nach Friedländers Meinung sogar weniger schlimm als das, was exakt 50 Jahr später, an Rosh Hashana 5784, also dem 7. Oktober 2023, über Israel hereinbrach. 203 schmucklose Seiten, nur nach Monaten unterteilt, in zweimal drei Monaten geschrieben, zwischen Oktober 2023 und Mai 2024, mit einer Pause vom Jahresbeginn 2024 bis zum jenem 25. März, an dem die USA mit einer Resolution im UN-Sicherheitsrat der Regierung Netanjahu das verpassten, was allerorten – auch in Israel selbst – als „schallende Ohrfeige“ wahrgenommen wurde. Atemlos kleben nun wieder die Augen an den Seiten. Die Tage sind notiert, sie bilden schmale Unterbrechungen, dann geht der Alptraum weiter. Nachricht folgt auf Nachricht, das tiefe Dilemma Israels wird mit jeder Seite fassbarer, lähmender. Da sind die Söhne aus ultraorthodoxen Familien, die vom Wehrdienst befreit sind. Da ist die tiefe spaltung innerhalb der Regierung. Da ist diese Kluft zwischen Regierung und Mehrheitsmeinung des Volkes. Und da sind die angehörigen der israelischen Geiseln in der Hand der Hamas.
Hart geht Friedländer mit der Regierung Netanjahu ins Gericht. Beschönigt wird nichts. Schon gar nicht die Verfehlungen, die sich der Regierungschef wohl zurechnen lassen muss – oder müsste, wenn da nicht der Krieg wäre. Er zitiert den amerikanischen General Petraeus, der die militärische Herausforderung für Israel größer sieht als die für die USA nach dem 11. September 2001 – womit Friedländer zugleich einen Maßstab setzt. Und schon im Oktober 2023 notiert er, wie sehr deutlich der Israelhass in Europas Städten in Israel wahrgenommen wird. Er notiert im übrigen auch, was die Hisbollah im Norden Israels vorbereitet. Schon damals war ein kommender Krieg im Libanon unausweichlich – Friedländers Aufzeichnungen sind völlig nüchtern niedergeschrieben, in einer Nüchternheit, die fast schon wehtut. Das macht sie enorm glaubwürdig.
Dieser schmale, schlichte Band ist heute höchst aktuell. Er sollte zu diesem Tag – oder recht bald – auf den Schreibtischen all derer liegen, die sich für Israel interessieren, und mehr auf den Nachttischen derer, die dieses Land lieben und die dieser höchst gefährliche und brutale Krieg schlichtweg um den Schlaf bringt. Der Beck-Verlag gibt tagesaktuell das heraus, was jetzt, was an diesem Tag zu sagen ist. Und es sei die Prognose gewagt: Noch in vielen Jahren wird dieses Buch zitiert werden als die eine Quelle, in der dokumentiert ist, was wirklich für die Nachwelt festzuhalten war.
Saul Friedländer. Israel im Krieg. Ein Tagebuch. Aus dem Englischen übertragen von Andreas Wirthensohn. München 2024, gebunden, SU, 203 Seiten, ISBN 978-3-406-82456-2.