Die Revolution von 1848 aus weiblicher Sicht

Brunck, Helma, Clotilde Koch-Gontard (1813 – 1869): Salonnière, Unternehmerin und Zeugin einer bewegten Zeit, Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 189, Darmstadt 2023, 212 Seiten, fest eingebunden, zahlr. Abb. s/w, 978-3-88443-344-7, 28 Euro.

Vom 30. März bis zum 16. Dezember schrieb Clotilde Koch-Gontard ein Tagebuch. Sie schuf damit eine einzigartige Quelle, denn es war nicht irgendein Jahr, nicht irgendein Ort. Frankfurt am Main 1848, das Revolutionsjahr! Und es waren auch keine beliebigen Aufzeichnungen – die Frau, die in der alten Kaiserstadt am Main einen politischen Salon in ihrem Haus betrieb, die auch als Unternehmerin in Erscheinung trat, schrieb ein politisches Tagebuch, ein Parlamentstagebuch. Die Frankfurter Wissenschaftlerin Helma Brunck hat nun eine Biographie für Clotilde Koch-Gontard vorgelegt. Ein Desiderat!

Die Autorin, die im Genre der Biographie über eine große Expertise verfügt, nähert sich in diesem gelungenen Band dem Phänomen des Salons Stück für Stück an, beginnend, wie könnte es anders sein, bei Bettina von Arnim und ihren Töchtern. Doch bald schon tritt sie als „Parlamentsmutter“ auf, wobei Madame Koch-Gontard dieser Titel durch keinen Geringeren als Heinrich von Gagern verleihen wurde, den Präsidenten des Paulkirchenparlaments und höchst profilierten Burschenschafter. Es folgt eine höchst profunde, die großen Linie souverän nachzeichnende Schilderung der Vorgeschichte und der Hintergründe der Revolution von 1848.

Fesselnd wie ein Krimi sind dann Passagen wie die von der Sitzung des Vorparlaments, in die sie sich hineinschmuggeln konnte, denn Frauen waren nicht zugelassen. Nicht minder faszinierend der Eindruck, den sie uns vom Präsidenten des Parlamentes übermittelt: „Was Gagern angelangt, so steigt er täglich in den Augen all derer, mit denen ich in Berührung komme. Die Würde, mit welcher er auftritt, ist außerordentlich. Wenn er da oben steht, habe ich immer ein Gefühl von Furcht und Schüchternheit vor dieser geistigen und sittlichen Größe.“ (Seite 87 f.) Und so geht es durch die ganze Revolution von 1848 – alles betrachtet mit den Augen einer Zeitzeugin, kundig erläutert und sortiert von Helma Brunck.

Auch die Jahre nach 1848, diesem so entscheidenden Jahr, dokumentiert die Autorin. Denn die Wirkungen, die vom Frankfurter Paulskirchenparlament ausgingen, reichten bis weit in die Zeit des Wilhelminischen Kaiserreiches, ja, sie waren für die Gründung des Bundesrepublik höchst wirkmächtig. Und auch im amerikanischen Bürgerkrieg waren sie mehr als prominent präsent, die „48ers“ – wohlmöglich entschied ihr mehrheitliches Eintreten für den Norden, häufig in hohen Offiziersrängen aufgrund der Erfahrung mit der Revolution von 1848, dieses bislang größte Kriegsereignis auf dem Boden der USA.

Helma Brunck bringt neben Clotilde Koch-Gontard viele Frauen zu Ehren, deren Rolle während Revolutionszeit bislang fast völlig im Schatten blieb, während die männlichen Protagonisten, häufig aufgrund der guten Quellenlage in den Archiven, aber auch in ihren jeweiligen Studentenverbindungen, deutlich präsenter sind. Anhand einschlägiger Quellen und Literatur kann hier nun nachgewiesen werden, dass Frauen im 19. Jahrhundert selbstverständlich kein bisschen weniger politisch interessiert und engagiert waren als Männer. Sie gaben sich nicht mit der Rolle der Zuschauerinnen und Dulderinnen der Ereignisse zufrieden, sondern griffen entsprechend ihrem tatsächlichen Handlungsvermögen ein.

Bei dieser Biografie handelt sich um eine gendergerechte Aufarbeitung der Geschichte der Revolutionszeit, wobei der ansonsten weit verbreitete unangenehm-fordernde, quengelnde und bisweilen unverschämte Ton der Gender-Diskussion komplett vermieden und umgangen wird. Helma Brunck wird deutlich, bleibt aber sachlich und immer höflich – stark! Sie trägt dazu bei, die von Frauen geführten Salons in ihrer Bedeutung als Forum nicht nur für Deutschland, sondern auch europaweit zu erkennen. Das betrifft ebenso die Zeit nach der Revolution, es betrifft Männer wie Frauen gleichermaßen, es betrifft überhaupt en ganzen Weg zu einer Demokratie in Deutschland, die mit dem – verspäteten – Frauenwahlrecht erst ihren Namen verdiente.

Die Historische Kommission für Darmstadt und die Historische Kommission Hessen, die diesen Band herausgeben, haben wieder auf ihre bewährte, solide Form eines fest eingebundenen, schön und dezent gestalteten Buches zurückgegriffen. Der Rezensent freut sich, nimmt einen solcherart kompakt und bescheiden, dabei aber höchst soliden Band gerne zur Hand und kann dieses Buch nur wärmstens empfehlen!

Brunck, Helma, Clotilde Koch-Gontard (1813 – 1869): Salonnière, Unternehmerin und Zeugin einer bewegten Zeit, Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 189, Darmstadt 2023, 212 Seiten, fest eingebunden, zahlr. Abb. s/w, 978-3-88443-344-7, 28 Euro.

Brunck, Helma, Clotilde Koch-Gontard (1813 – 1869):

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Über Sebastian Sigler 104 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.