Das mit sächsischem Knowhow miterrichtete Seilbahnnetz in Boliviens Metropole La Paz nützt auch den weniger Begüterten – zugleich offenbart es, wie tief gespalten der katholisch geprägte Andenstaat weiterhin ist.
La Paz / El Alto. – Immer morgens um vier. Da endet für Doña Gloria Mancheca im bolivianischen El Alto die Nacht, bevor für die verwitwete 57-Jährige ein neuer, oft entbehrungsreicher Tag beginnt. In ihrer kleinen Lehmbehausung zieht es durch mehrere Ritzen, derweil sich die Töchter in der Küche an die Zubereitung des Frühstücks machen. Es gibt heiße Milch mit pürierten Bananen, dazu Kekse, Maisbrei und Pulverkaffee. Ein kleiner Ofen sorgt für etwas Wärme, gleichwohl der Wollpullover hier oben, auf mehr als viertausend Metern Andenhöhe fast schon zur Standardkleidung gehört. Im Glorias Wohn-Esszimmer hängen ein Kruzifix, Heiligenfiguren und das vergilbte Konterfei Karol Wojtylas, des 2005 verstorbenen Papst Johannes Paul II., den sie sehr verehrt habe, sagt sie. Früher waren wir hier oben unter uns, sagt Gloria, ohne Ausländer und noch weniger Touristen und mussten unsere Waren mühsam zu Fuß oder im Eselskarren ins Tal nach La Paz schaffen, wo wegen der deutlich höheren Kaufkraft auch höhere Gewinne locken. Seit knapp zwei Jahren steht den Alteños, wie die Bewohner El Altos genannt werden, für den Warentransport ins Tal eine hochmoderne Seilbahn, der Teleférico zur Verfügung; gebaut von einer österreichischen Firma, wobei die Kabinen aus der Schweiz und die Stahlkonstruktionen aus Deutschland, unter anderem von der Firma Lüttewitz im sächsischen Döbeln stammen.
Fragiles Sozialsystem
Zusammen mit Paco will sich Doña Gloria heute auf den Weg zum Teleférico machen. Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln und vor allem Salat, angebaut in selbst gefertigten Gewächshäusern, haben sie geladen. Die Plastikplane für die Gewächshäuser stammt aus einem Entwicklungsprogramm der deutschen Regierung, die Streben mussten sie sich selbst besorgen, sagt Paco. Gearbeitet werde zu jeder Jahreszeit, ob Winter oder Sommer, oft bei Temperaturen nur knapp über dem Gefrierpunkt. Rund 380 Euro verdient Doña Gloria im Monat für sich und ihre mehrköpfige Familie und gehört damit rein statistisch zur Mittelschicht, also jenen, die nicht hungern müssen und auch mal kleinere Arztrechnungen begleichen können. Das Problem: Krankenversichert ist in Bolivien nur, wer über eine feste Anstellung verfügt. „Zwischen 70 und 80 Prozent aller Bolivianer arbeiten im so genannten ‚informellen Sektor‘“, sagt Juan Carlos Núñez von der bolivianischen Nichtregierungsorganisation El Jubileo, was heißt, dass sie sich irgendwie durchschlagen und keinerlei soziale Absicherung genießen. Wiederholt hat die katholische Kirche Boliviens das Problem angeprangert und soziale Verbesserungen vor allem für Familien gefordert, worauf die sozialistische Regierung unter dem jetzigen Präsidenten Luis Arce auch tatsächlich eingegangen ist. Bedürftige Familien erhalten seit einigen Jahren einen staatlich festgelegten Warenkorb, um nicht zu verhungern. Auch kleinere Angestellte kommen in den Genuss dieses Korbes, der canasta básica, wobei es immer wieder Streit um dessen Zusammensetzung gibt, sagt Jubileo-Direktor Núñez. Der Zusammenhalt in den katholischen Basisgemeinden ist daher in ganz Bolivien groß, woran auch die laizistisch-antikirchliche Politik der Regierung nichts ändern konnte. Seit mehr als fünfzig Jahren unterstützen zudem die deutschen Bistümer Trier und Hildesheim die Arbeit dieser Basisgemeinden, wozu neben Geld und Sachspenden auch Freiwilligendienste gehören. Was auffällt: Viele Minderjährige, die sich früher im Zentrum von La Paz als Schuhputzer und Bonbonverkäufer verdingten, sind aus dem Straßenbild verschwunden, wofür sich die Regierung regelmäßig feiern lässt. Auch der 2019 nach Wahlfälschungsvorwürfen aus dem Amt gejagte Präsident Evo Morales wurde inzwischen rehabilitiert.
Hotspot El Alto
Erst vor knapp 80 Jahren begannen sich auf der westlich von La Paz gelegenen Hochebene, dem Altiplano, wovon sich der Name „El Alto“ (die Höhe) ableitet, die ersten Familien in Behelfsunterkünften anzusiedeln, auf der Suche nach Arbeit, Perspektiven und Bildung für die Kinder, kurz gesagt: nach einem besseren Leben. Doch aus dem Vorort ist längst eine selbstständige Stadt geworden, ein buntes Völkergemisch mit eigener Verwaltung, Radiosendern, Kinos, Kultur und regem Handel, und mit der erst 34-jährigen Eva Copa einer ambitionierten Bürgermeisterin an der Spitze. Zuvor war Copa, studierte Sozialarbeiterin und zweifache Mutter, Senatspräsidentin gewesen, hatte sich aber mit dem bis 2019 regierenden Staatspräsidenten Evo Morales überworfen und macht seither als parteilose Politikerin von sich reden. Viele sehen in ihr eine Hoffnungsträgerin in dem allgemein als korrupt geltenden Land.
Venezolaner und leichte Mädchen
El Alto mag sich verändert haben, allein die Suche der Menschen nach einem besseren Leben ist geblieben. Denn der Zuzug ist ungebrochen. Neuerdings stranden dort auch Flüchtlinge aus Venezuela, junge Männer, die tagsüber für ein paar Münzen Windschutzscheiben putzen, nachts in Absteigen hausen und manchmal ihre Mädchen zum Anschaffen losschicken. „El Alto und La Paz sind im Wandel“, meint auch Doña Gloria, während sie ihr Bündel knotet, schnell noch einen Schluck aus der Tasse nimmt und dann zu Paco eilt, der im klapprigen Mitsubishi-Bus schon auf seine Mutter wartet. „Wir müssen zeitig da sein, denn ab fünf sind auch schon die ersten Einkäufer da“, zeigt sich Gloria besorgt und schaut nervös auf die Uhr, was für Bolivianer eher ungewöhnlich ist. Hinten hupt es, während sich vorne Stoßstange an Stoßstange drängt. Nur schrittweise geht es weiter, woran auch die fliegenden Händler ihren Anteil haben, da sie zwischen den Autos süße Speisen und heiße Getränke anbieten. Vorbei geht die Fahrt an stählernen Masten, zwischen denen in knapp dreißig Metern Höhe die bunten Kabinen über die Dächer von La Paz und El Alto schweben. „Innerhalb von zehn Jahren wurden die Einzelteile der Seilbahn aus Europa per Schiff angeliefert“, wird ein Sprecher der Stadtverwaltung später erklären. Rund drei Milliarden Euro soll das Projekt gekostet haben, was wohl nur durch Erlöse aus dem wachsenden Rohstoffexport möglich war, gleichwohl die bolivianische Landwirtschaft noch immer deutlich zur Leistungsbilanz beiträgt.
Analog im digitalen Zeitalter
„Einen Teil unserer Ware haben wir schon am Vorabend aufgeladen“, sagt Paco, während er den Kleinbus weiter durch den Morgenverkehr lenkt. „Den hat uns mein Mann hinterlassen“, erklärt Doña Gloria, traurig und auch ein wenig stolz. Denn mit dem fahrbaren Untersatz gehört sie in El Alto fast schon zu den Begüterten; jenen, die über regelmäßige Einkünfte verfügen und zur Not auch mal Taxisdienste anbieten können, um das Familienbudget aufzubessern. Während Paco den Tag über in El Alto mit seiner Schwester auf dem Markt verbringt, wird sich Doña Gloria im Teleférico hinunter nach La Paz begeben und dort an ausgewählten Straßenecken, in den Villenvierteln der Reichen, Weißen und Begüterten ihre Ware anbieten. Denn was hierzulande meist internetbasierte Lieferdienste erledigen, geschieht in Bolivien oft genug noch analog auf der Straße.