Schräg, schrill und schelmenhaft

Martin Paar - Venice

Dem Namen nach könnte Martin Parr Deutscher sein. Doch er bleibt sich seiner Herkunft (Epsom, Surrey, 1952) als durchtriebener, grundehrlich kommentierender Engländer in allen Bildern treu, die er (sich und uns) mit der Kamera von der Welt macht. Schräg sind seine Fotos, schrill viele von ihnen, allesamt schelmenhaft und frappierend. Parr, dessen Werkschau endlich in München angelangt ist, nimmt den Betrachter keineswegs behutsam an der Hand, um ihn von Foto(-Serie) zu Foto(-Serie) zu führen. Im Gegenteil: Er packt ihn hart an und verlangt ihm zuallererst dies ab: seine gewohnte Betrachtungsweise des gemütlichen Album-Blätterns aufzugeben und sich völlig ungewöhnlichen, frechen Szenerien zu stellen. Parr ging nicht im Geringsten zimperlich mit denen um, die er auf seiner „Photographic Journey“ ablichtete. Und den Betrachtenden hält er grausam den Spiegel vor.

Bei Parr gibt es nur eine Art des journalistischen Fotografierens: die der Aufdeckung von Wahrheiten. Die muss der Betrachter erdulden. Dem, der genügend Humor und Verständnis für das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen vorweist, bringt das kein Leiden, sondern Vergnügen. Das mag jedem, der vor Parrs Fotos im weitläufigen Kunstfoyer der Münchner Versicherungskammer an der Maximilianstraße 53 bereit ist, sich auf die queren Seltsamkeiten menschlichen Zusammenlebens rückhaltlos einzulassen, gelingen, wenn er beim Rundgang immer deutlicher erkennt: Ja, so sind wir. Ja, so bin ich. Ja, so sind nicht nur Parrs Landsleute, mit deren Lebensgewohnheiten gnadenlos abgerechnet wird, sondern alle westlichen Wohlstandsgenießende. Alle, ohne Ausnahme: junge wie alte, streng gläubige wie lasche, reisende wie daheim gebliebene. Nicht einmal vor sich selbst als „Autor“ macht Parr mit seiner bissigen, kritischen Sichtweise halt – seine Selbst-Porträts sind voller Ironie und gehen bis ins Sarkastische. Stets bleibt der Blick des ein Stück Geschehens Einfangenden liebevoll, auch wenn manch Eingefangenes zum Himmel schreit.

Das Banale ist bei Parr dem Grotesken und Absurden nah. Tageslicht auf die Szenarien genügt Parr nicht, er verstärkt es gerne noch durch Blitze. Und richtet die Kamera rücksichtslos auf pralle halbnackte Leiber Badender, auf poppig bunte, mit Heiligenbildern dekorierte Süßwaren, auf karnevalesk gekleidete Oxford-Universitäts-Größen, auf hysterische Venedig-Touristinnen, denen die Tauben auf Kopf und Kamera flattern. Schon in den 1970-er Jahren richtete Parr als Schwarz-Weiß-Fotograf seine Schnappschüsse auf bigotte „Non-Conformists“ der Kleinstadt Hebden Bridge in West Yorkshire, später auf „Bored Couples“, also auf „gelangweilte Paare“, die einander beileibe nicht zu- sondern abgewandt gegenübersitzen. Parr selbst schließt sich da nicht aus, er fotografiert sich mit seiner Frau Susie als gedankenverloren und scheinbar ohne Interesse am Gegenüber.

Alltag ist wohl für Parr Feiertag. Seine Fotos tauchen tief in dessen Abgründe ein, scheuen nicht vor starker Überzeichnung und greller Inszenierung zurück. Das Triviale und Ordinäre unseres übersättigten Lifestyles prangerte Parr bereits in seiner 1999 entstandenen „Enzyklopädie der globalen Konsumkultur in Nahaufnahme“ an. Mit dieser dichten Wand-Installation von nicht weniger als 270 Farbfotos beginnt der durchaus unterhaltsame Rundgang durch die Schau, die einen ebenso schmunzeln wie oft genug (innerlich) laut auflachen lässt, Selbsterkenntnis inklusive. – „Marin Parr. Souvenir. A Photographic Journey“, Kunstfoyer, Versicherungskammer, täglich 9 – 19 Uhr, Eintritt frei, bis 28. Januar 2018)

Foto (Hans Gärtner): Martin Parrs Konkurrentin? Eine sichtlich überforderte Venedig-Touristin, 2005, im Fokus eines gnadenlosen Meisterfotografen

 

Über Hans Gärtner 499 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.

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