Schopenhauer: Kunst und Wille


Gleich zu Beginn ist es wesentlich darauf hinzuweisen, dass Schopenhauers´ Konzeption von Ästhetik untrennbar mit seinen epistemologischen Konzepten verwoben ist, wobei Schopenhauer mit der Kantschen Erkenntnistheorie größtenteils konform geht. Wie dieser unterscheidet Schopenhauer phaenomenon, d.h. Erscheinung, von noumenon, d.h. dem Ding an sich oder dem Wesen. Zwischen diesen existiert eine unüberbrückbare Kluft. Während Kant der Meinung ist, dass uns zwar die “Welt der Erscheinungen” zugänglich ist, das “Wesen der Welt” für uns allerdings unkenntlich bleiben muss, stellt Schopenhauer heraus, dass es durchaus möglich ist, einen Zugang zum “Wesen” zu finden.
Wie geht Schopenhauer nun vor?
Schopenhauers´ Philosophie stellt den Versuch dar, eine Verbindung zwischen phaenomenon und noumenon herzustellen. Dies gelingt ihm mit seiner Konzeption des blind-waltenden Weltwillens als Basis dieser Brücke. Dieser objektiviert sich in allen Dingen der Welt; er ist das überempirisch-metaphysische Weltprinzip. Der “Wille” ist erkenntnis- und grundlos während die “Welt als Vorstellung”, das heißt als Erscheinung, dem Satz vom Grunde unterworfen ist.
“Der Wille als Ding an sich ist von seiner Erscheinung gänzlich verschieden […]. Der Wille als Ding an sich liegt […] außerhalb des Gebietes des Satzes vom Grund in allen seinen Gestaltungen, und ist folglich schlechthin grundlos, obwohl jede seiner Erscheinungen durchaus dem Satz vom Grunde unterworfen ist: er ist ferner frei von aller Vielheit, obwohl seine Erscheinungen in Zeit und Raum unzählig: er selbst ist Einer: […].”[1]
Wie können diese zwei verschiedenen “Welten” vereint werden?
Das kontemplative Betrachten, welches Schopenhauer als ästhetische Lösung und damit neben der ethischen Lösung im Konflikt des leidenden Individuums vorschlägt, ist ein Fluchtweg aus der unauflösbaren Zerrissenheit zwischen der Welt als (grundlosem) Willen und der Welt als (dem Satz vom Grunde unterworfenen) Vorstellung. Diese Kluft ist, wie oben angedeutet, der Ursprung des Leidens in der Welt. Das kontemplative Betrachten bietet die Möglichkeit zur Erkenntnis der Ideen. Unter “Ideen” versteht Schopenhauer im platonischen Sinn, das heißt als Urbilder, als Muster aller Einzelgestalten.
Interessant ist, dass Schopenhauers´ Begriff des kontemplativen Betrachtens eine starke Affinität zu Kants´ Begriff des interessenlosen Wohlgefallens aufweist, wobei darunter am ehesten ein Wohlgefallen ohne alles (anderweitige) Interesse zu verstehen ist. Kontemplatives Betrachten kennzeichnet sich durch das Versenken in die Betrachtung des jeweiligen Gegenstandes aus, ohne Grund und ohne weitere Intentionen als die Versenkung. Als Gegenstände dieser Art der Betrachtung kommen sowohl das Naturschöne wie auch das Kunstschöne infrage.
“Nach Kant ist nur die Kunst schön, die wie Natur scheint. Hegel behauptete in seiner Einführung zur Ästhetik, dass schöne Kunst die Dinge in der Form natürlicher Gegenstände darstelle. Und Nietzsche setzte in seiner Wagner-Kritik (in Der Fall Wagner) Schönheit einer Art organischen Ganzheit gleich. […] Burke […] sprach von einer “Liebe”, die sich “von Begierde” unterscheide. Kant prägte den Ausdruck “uninteressiertes Wohlgefallen” und meinte damit ein Gefallen, das selbst von dem Wunsch unabhängig ist, den schönen Gegenstand zu besitzen.”[2]
Im Gegensatz zur objektiven Richtung des Geistes, die sich rein anschauend verhält, existiert auch die subjektive Ausrichtung, die im Dienste des Willens steht.
“Nur durch die […] im Objekt ganz aufgehende, reine Kontemplation werden Ideen aufgefaßt, und das Wesen des Genius besteht eben in der überwiegenden Fähigkeit zu solcher Kontemplation: […] so ist Genialität nichts Anderes, als die vollkommenste Objektivität, d.h. objektive Richtung des Geistes, […].”[3]
Trotz aller kritischen Analyse des kantischen Werkes begeistert sich Schopenhauer mutatis mutandi für Kants Versuch der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. In Kritik der kantischen Philosophie schreibt Schopenhauer:
“Bei weitem das Vorzüglichste in der Kritik der Kantischen Urteilskraft ist die Theorie des Erhabenen: sie ist ungleich besser gelungen, als die des Schönen und giebt nicht nur, wie jene, die allgemeine Methode der Untersuchung an, sondern auch noch ein Stück des rechten Weges dazu, so sehr, daß wenn siegleich nicht die eigentliche Auflösung des Problems giebt, sie doch sehr nahe daran streift.”[4]
An dieser Stelle ist es sinnvoll, zur Analyse und Besprechung von ausgewählten Paragraphen des Schopenhauerischen Werkes überzugehen. Gewählt werden hierzu die Paragraphen §39-48 der Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung, die im Folgenden über die ästhetische Konzeption Schopenhauers bzw. das Objekt der Kunst Aufschluss geben sollen.Die Analyse wird chronologisch durchgeführt, deshalb stellt sich sofort die Notwendigkeit einer Klärung des “Gefühls des Erhabenen”[5] und des “Schönen“.
Es wurde bereits auf den Begriff der kontemplativen Betrachtung hingewiesen. Die Frage ist nun, wie dieses kontemplative Betrachten evoziert werden kann. Schopenhauer gibt im §39 folgende Antwort, “[…] daß das Versetzen in den Zustand des reinen Anschauens am leichtesten eintritt, wenn die Gegenstände demselben entgegenkommen, d.h. Durch ihre mannigfaltige und zugleich bestimmte und deutliche Gestalt leicht zu Repräsentanten ihrer Ideen werden, worin die Schönheit, im objektiven Sinne, besteht.”[6]
Was versteht Schopenhauer unter dem Begriff des “Schönen”? Am hilfreichsten ist der Vergleich zum Gefühl des Erhabenen, denn während die im Zustand der Betrachtung des Erhabenen verweilende Person durch eben dieses Gefühl “über sein Wollen und alles Wollen hinausgehoben wird”7, gleich einem bewussten und gewaltsamen Losreißen,hat “beim Schönen […] das reine Erkennen ohne Kampf die Oberhand gewonnen.”[7] Die Erkenntnis, dass etwas “schön ist”, macht den Erkennenden erstens objektiv, zweitens zum Erkennenden einer Idee. Letzteres ist nur dadurch möglich, dass die Betrachtung des Gegenstandes nicht dem Satz vom Grunde unterworfen ist.
Interessant für Schopenhauers Theorie des Ästhetisch-Erhabenen ist seine Feststellung, dass der Mensch in seiner Polarität, einerseits der Pol des Wollens, andererseits der Pol des Erkennens, wie er für den Willen Wärme, so für die Erkenntnis Licht braucht. Diese Konzeption erinnert stark an die philosophischen Entwürfe Platons wie zum Beispiel das Sonnengleichnis etc. Für jegliche Rezeption des Schönen/erhabenen ist Licht notwendig, schon allein physikalisch. Eine wesentliche Rolle kommt dem Element des Lichts in der Architektur zu. Man denke nur an die Konstruktion der religiösen Gebäude der Gotik, die gezielt mit diesem Philosophem arbeiten (vgl. Basilique de Saint-Denis, Paris).
Konträr zum Gefühl des Erhaben steht in der schopenhauerischen Philosophie das “Reizende”. Das Reizende stimuliert (absichtlich) den Willen und macht somit eine kontemplative Betrachtung unmöglich. Als Beispiele anzuführen sind hier die Stillleben der Niederländer, die ihren Fokus auf lukullische Darstellungen richten und die Konzentration auf die laszive Darstellung nackter, menschlicher Körper. Ziel dieser Kunst ist die Anregung der Begierde, nicht die ästhetische Betrachtung. Im Gegensatz dazu sind die Antiken, “[…] bei aller Schönheit und völliger Nacktheit der Gestalten, fast immer davon frei, weil der Künstler selbst mit rein objektivem, von der idealen Schönheit erfülltem Geiste sie schuf, nicht im Geiste subjektiver, schnöder Begierde.” [8] Die ist das Positiv-Reizende; es gibt auch das Negativ-Reizende oder Ekelhafte. Beiden gemeinsam ist, dass sie den Willen erregen.
Schopenhauer erhebt mit seinem ästhetischen Entwurf universalen, d.h. allgemeingültigen Anspruch. In Anbetracht dessen stellen sich wichtige Fragen wie sie Gregor Paul in seiner Einführung in die interkulturelle Philosophie [9] formuliert:
1) Ist ein einheitlicher Begriff aller ästhetischen Urteile möglich?
2) Inwieweit gelten Schönheit, Erhabenheit, Hässlichkeit, Ekelhaftigkeit […] in allen oder verschiedenen Kulturen als ästhetische Merkmale und werden dabei auch ähnlich beurteilt?
3) Ist es möglich, allgemeine, kulturübergreifende Begriffe formulieren, die sich auf das Ästhetische […] in Kunst und Natur beziehen?

Diese Fragen können in diesem Rahmen nicht annähernd diskutiert werden, sollen aber in den Katalog der Basisfragen aufgenommen werden. Vor allem da bekannt ist, dass Schopenhauer von (einigen) philosophischen Traditionen beeinflusst war, ist es zweckmäßig, dass interkulturelle (oder transkulturelle) Moment nicht außer Acht zu lassen oder zumindest einen Hinweis darauf zu geben. So erfährt man in Traktaten des indischen Denkers Abhinavagupta (um 1000):
Es geht “[…] beim Empfinden, der Gestaltung und Vermittlung von rasa um Gefühle, die prinzipiell alle Menschen haben oder nachvollziehen (können) […], die zudem aufgrund einer gewissen Distanz mit Gefallen empfunden werden (können) und die wegen dieses Abstands eine überindividuelle, transpersonale Erfahrung ermöglichen. Das “spezifisch Indische” liegt dabei in der Überzeugung, dass diese Erfahrung eine Art der Befreiung, ja Erlösung vom Leiden dieser Welt mit sich bringen kann und soll.”[10]
Dahinter steht jedoch immer der Anspruch auf Allgemeingültigkeit und damit kommt wieder der Begriff der schopenhauerischen “Idee” in Spiel. “Die Idee, in welcher der Wille den höchsten Grad seiner Objektivation erreicht, unmittelbar anschaulich darzustellen, ist endlich die große Aufgabe der Historienmalerei und der Skulptur.”[11]
Wobei jedoch die Darstellung des Menschen, der menschlichen Schönheit, die vollkommenste Objektivation des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit bezeichnet.
“Menschliche Gestalt und menschlicher Ausdruck sind das bedeutendste Objekt der bildenden Kunst, so wie menschliches Handeln das bedeutendste Objekt der Poesie.”[12] “Die äußere Bedeutsamkeit ist die Wichtigkeit einer Handlung in Beziehung auf die Folgen derselben für und in der wirklichen Welt; also nach dem Satz vom Grunde. Die innere Bedeutsamkeit ist die Tiefe der Einsicht in die Idee der Menschheit, welche sie eröffnet, indem sie die seltener hervortretenden Seiten jener Idee an das Licht zieht, dadurch, daß sie deutlich und entschieden sich aussprechende Individualitäten, mittelst zweckmäßig gestellter Umstände, ihre Eigenthümlichkeiten entfalten läßt. Nur die innere Bedeutsamkeit gilt in der Kunst: die äußere gilt in der Geschichte.”[13]

Ergo ist Schopenhauers Fazit: Der Zweck der Kunst bleibt letztendlich die Erkenntnis der Ideen.

[1] SCHOPENHAUER, Arthur: 1987. Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 1. Stuttgart: Philipp Reclam jun., S. 180ff.
[2] PAUL, Gregor: 2008. Einführung in die Interkulturelle Philosophie. Darmstadt: WissenschaftlicheBuchgesellschaft., S. 94ff.
[3] SCHOPENHAUER, Arthur: 1987. Die Welt als Wille und Vorstellung. Stuttgart: Philipp Reclam jun.,S. 274ff.
[4] SCHOPENHAUER, Arthur: 1987. Kritik der Kantischen Philosophie. IN: Die Welt als Wille und Vorstellung. Stuttgart: Philipp Reclam jun., S.S. 732.
[5] SCHOPENHAUER, Arthur: 1987. Die Welt als Wille und Vorstellung. Stuttgart: Philipp Reclam jun.,S. 294ff.
[6] ebda, S. 294.
[7] ebda, S. 296.
[8] ebda, S. 304ff.
[9] PAUL, Gregor: 2008. Einführung in die Interkulturelle Philosophie. Darmstadt: WissenschaftlicheBuchgesellschaft., S. 80ff.
[10] ebda, S. 85.
[11] ebda, S. 320.
[12] Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 307.
[13] ebda, S. 334.

Über Hirn Lisz 48 Artikel
Dr. Lisz Hirn (geboren 1984) studierte Geisteswissenschaften sowie Gesang und Kunst in Graz, Wien und Paris. Sie ist als Philosophin, Schriftstellerin, Consultant in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig und als freiberufliche Künstlerin an internationalen Kunstprojekten und Ausstellungen beteiligt.

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