Mit der Einführung des berühmten Rufes „Wir sind das Volk“ in die gegenwärtige Debatte um multikulturelle Gesellschaft und Identität und Integration hat Bundespräsident Christian Wulff in unverantwortlicher Weise einer Beliebigkeit und Relativierung der deutschen Geschichte das Wort geredet. Gerade einmal zwei Jahrzehnte sind vergangen seit der Ruf „Wir sind das Volk“ so lange gegen die Mauer geschleudert wurde, bis diese sich heute vor genau 21 Jahren öffnete. Auch Christian Wulff zitierte in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung die berühmte Vokabel der Freiheit, um sie dann mit den Worten zu interpretieren: „Dieser Ruf der Einheit muss heute eine Einladung sein an alle, die hier leben.“ Muss er nicht, und darf er auch nicht. Denn der seit dem Herbst 1989 immer stärker gewordene berühmte Ruf nach Einigkeit und Recht und Freiheit, der sich im Verlaufe der Demonstrationen von „Wir sind das Volk!“ in „Wir sind ein Volk“ zuspitzte, kann nicht aus seinem damaligen historischen Kontext gelöst und heute in einem Sinne verwendet werden, wie es Christian Wulff auslegt. Man kann nicht genug an die Ereignisse der Wendezeit von 1989 erinnern. Wer damals vor dem Fernseher saß oder selbst dabei gewesen ist, als sich immer mehr Menschen gegen ein erbarmungsloses diktatorisches Regime erhoben, wird heute noch eine Gänsehaut bekommen und sich mit Tränen und Dankbarkeit an jenen Mantel der Geschichte erinnern, der damals die beiden deutschen Staaten mehr als nur streifte. Die Mauer wurde zwar, in verknappter Form, nur aus Versehen geöffnet. Doch ohne den zunehmenden Druck der Straße wäre es erst gar nicht zu jener Pressekonferenz gekommen, auf der Politbüromitglied Günter Schabowski die von den SED-Diktatoren beschlossenen Reiseerleichterungen verkündete und – auf Nachfrage – stammelte „Das tritt nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich.“
Der Freiheitswille hatte gesiegt und brachte den antifaschistischen Schutzwall zum Einsturz. Aus Untertanen waren Bürger geworden, wie es Joachim Gauck einmal formulierte. Diesen Bürgern ging es um jene Rechte und Werte, wie sie im Grundgesetz verankert sind, und es ging ihnen um die Einheit von Ost- und Westdeutschland – sie hatten die Freiheit errungen. Darin liegt die historische Leistung und Bedeutung. Damit aber wird die Verschiedenheit zu Menschen anderer Herkunft und anderen Glaubens auch nicht aufgelöst – wie es der Bundespräsident so missverständlich in seiner Definition von Einheit ausdrückte. Heute muss niemand mehr in Deutschland auf die Straße gehen, um die Freiheit zu erringen. Mehr noch: Menschen fremder Herkunft haben hierzulande sogar die Freiheit, auf die Straße zu gehen, wenn in ihren Ländern die Freiheit bedroht ist. Das zeitgeschichtliche deutsche Erbe der Freiheit ist weit von den eher praxisorientierten und sicherlich notwendigen und richtigen Debatten über die Versäumnisse und Perspektiven der Integrationspolitik oder speziell über die Zugehörigkeit von Menschen muslimischen Glaubens entfernt. Diese Trennung muss beibehalten und darf nicht durch missverständliche Interpretationen der deutschen Einheit verwässert werden, um daraus vorschnell eine einheitliche staatsbürgerliche Gemeinsamkeit zu formen, die sich eben auch im Umgang mit den Verschiedenheiten und dem Fremden bewährt.
Im Gedankengang des Bundespräsidenten ist es indes folglich konsequent, zu sagen „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ So wird dieser Satz seiner Rede dann zum beherrschenden Zitat, wird zum Kern eines wohl lange währenden Diskurses inmitten eines wiedervereinigten Deutschland. Auf der anderen Seite zeigt aber genau diese lebhafte Debatte darüber auch, wie sehr diese Aussage, gerade einmal zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer, die immer noch so notwendigen Arbeiten an der Vollendung der inneren Einheit von Deutschen in West und Ost beschwert – und möglicherweise dabei zu einer zusätzlichen Hypothek wird.
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