Seit über zehn Wochen wird gerätselt, warum die Taten von Olaf Scholz so wenig den Worten seiner Zeitenwendenrede vom 27.02.2022 entsprechen. Bremst ihn die eigene Partei, bekam er schon am Tag danach Angst vor der eigene Courage oder hat es einen anderen Grund? An eine Erklärung hat bisher niemand gedacht.
Ich muss mich von Anfang an an die Spitze der Bewegung setzen, um sie von dort permanent bremsen zu können
Ich hatte diese These bereits am 26. April auf Facebook geäußert und mir scheint, dass sie noch immer eine nicht geringe Erklärungskraft besitzt. Die These lautet wie folgt.
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24.02.2022 war Scholz klar, dass es durch diesen ungeheuerlichen Rückfall der Russen ins 19. Jahrhundert, ins Zeitalter des Imperialismus, unmöglich sein würde, darauf nicht scharf zu antworten. Zugleich wollte er aber von Anfang an, Russland, dem jahrzehntelangen engen Partner nicht nur der SPD, aber in Bezug auf sie gilt das quasi doppelt und dreifach, so wenig wie möglich schaden. Gar nicht schaden war aber nicht möglich, das war klar. Das wäre weder der deutschen Bevölkerung noch der westlichen Weltgemeinschaft vermittelbar gewesen. Also wählte er folgende Taktik:
Ich muss versuchen, mich von Anfang an an die Spitze der Bewegung zu setzen, um sie von dort dann permanent bremsen zu können, denn dies ist von vorne viel leichter möglich als von hinten, wenn einem der Zug davonfährt. Ich muss der Lokomotivführer dieser Bewegung sein, um so die Kontrolle zu haben über die Geschwindigkeit. Dann kann ich immer so viel tun, dass insgesamt kein allzu großer Unwille entsteht, und zugleich so wenig wie nur irgend möglich.
So kann ich durch allerlei Tricks, Kniffe und Winkelzüge – zum Beispiel Dinge ankündigen, die erst viele Wochen später wirksam werden – immer wieder ganz unmerklich bremsen und weiter bremsen, bis das Tempo so gering wird, dass der Unmut in Teilen der Bevölkerung und bei den Alliierten ein bestimmtes Level übersteigt. Dann beschleunige ich sofort wieder ein wenig, bis sich die Gemüter wieder beruhigen, um dann bei nächster Gelegenheit gleich wieder zu bremsen. Auf diese Weise kann ich erreichen, dass der Zug so langsam wie nur irgend möglich voran- und so wenig wie möglich in der Ukraine ankommt.
Durch die überraschende Stärke der Ukrainer und ihren unglaublichen Widerstandswillen brach Scholz‘ Plan in sich zusammen
Deswegen hielt Scholz die wirklich bemerkenswerte Rede vom 27.02.2022, über dies sehr viele sich wunderten – auch ich -, auf die aber niemals halbwegs adäquate Taten folgten. Mit dieser Rede setzte er sich in die Lokomotive, was insofern ein geschickter Schachzug war, dass man ihm die nächsten Tage und Wochen erstmal abnahm, dass er es tatsächlich ernst meint. Bis man dann merkte, dass dem gar nicht so war, waren gerade für die Ukraine und für Russland bereits sehr wertvolle Wochen ins Land gegangen.
Dummerweise reichten diese Wochen den Russen aber nicht, ihre Kriegsziele zu erreichen, weil die Ukrainer in ihrem Widerstandswillen und ihrer Widerstandskraft sowie ihrem Durchhaltevermögen alle überrascht haben. Damit aber brach Scholz‘ Plan in sich zusammen, denn nun ist klar, dass dieser Krieg mindestens viele Monate, wenn nicht noch länger dauern wird. Nun zerreißt es Scholz quasi zwischen einerseits der Mehrheit der Bevölkerung, der Union, der Grünen, der FDP und der Alliierten und andererseits den Linksradikalen und Lumpenpazifisten in der SPD, die rund die Hälfte der Parteispitze ausmachen dürften und die er ebenso wenig verlieren darf und will, sowie den Russen, denen er sich traditionell näher fühlt als den US-Amerikanern.
Durch ihre Erfolge haben die Ukrainer Scholz und der SPD einen Strich durch die Rechnung gemacht
So lange kann dieser Scholzsche Kniff, sich in die Lok zu setzen, um dort permanent zu bremsen, aber nicht unbemerkt bleiben. Die Ukrainer haben ihm und der SPD quasi einen Strich durch die Rechnung gemacht, so dass der Unmut der SPD auf die Ukrainer immer mehr zunimmt, zumal gerade Selenskyj und Melnyk die Unaufrichtigkeit von Scholz und der SPD gnadenlos offenlegen. So wird nun von Woche zu Woche sichtbarer, dass diese Rede vom 27.02.2022 zumindest primär vor allen eines war: Zwar sehr schön klingende, aber letztlich vor allem taktisch eingesetzte leere Worte oder zumindest solche, die nicht wirklich von einer entsprechenden inneren Haltung und von entsprechenden Taten getragen und gedeckt sind.
Quelle: Jürgen Fritz