Einer dieser sonnendurchfluteten Februar-Tage. Auf nach Burghausen! Auf dem Parkplatz am Anfang der Burg, Europas längster – jedes Kind lernt und weiß das hier – den Motor abgestellt. Mit ihm auch den inneren Motor, der immer treibt und sich dreht und Energie verbraucht. Ein lockerer Gang über das Burg-Gelände, hell beschienen von der frühen Nachmittagsleuchte am stahlblauen Himmel. Bringt er den „Treibauf“ zur Ruhe? Nur sehen und schauen. Über zinnene Mauern hinweg. Durch fenstergroße Löcher im geziegelten und gemörtelten Stein, harsch und schroff. Da ein Büschel schon grüner Grashalme, dort ein roter Ziegelschrund, den Efeu umspielt, die spitzen weiß geäderten Blätter emporgereckt wie lockend: Weiter. Weiter. Der Wöhrsee unten liegt noch winterstill. Marienberg: felsenfest sein helles Rokokojuwel auf dem Bergrücken drüben – die Konzerte des „Musiksommers zwischen Inn und Salzach“, von denen dort mindestens immer eines zu erleben ist, haben noch Zeit. Jetzt ist erst mal die bildende Kunst dran, die bleibende. Nicht die Kunst der Töne, die vergehende, die unfassbare.
Skulpturen sind fassbar. Harte Sachen. Rostig braun trotzt da ein Gebilde, auf dem Stück Burg-Wiese mit dem Uhrturm, Wetter und Wind. Wohl schon Monate lang. Sieht aus wie der Lindwurm aus Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, aus dem Fafner gleich kriechen und müde raunzen wird, dass er schlafen will. Schlafen. Nur schlafen.
Ein Kurier schellt am Eingang vom „Haus der Fotografie“. Drückt noch einmal den Glockenknopf. Wartet. Nichts rührt sich. Schlafen die da drin? Wie Fafner es sich so sehr wünscht? Ein Schild sagt dem Paketboten: „Winterpause“! O je. Das schwere Poststück, das er abliefern sollte, loshaben will. Er geht unverrichteter Dinge davon. Das Bedauern, das ihm geschenkt wird, bleibt auch dem nur, der sich vornahm, hier Fritz Wotruba zu sehen in dem kleinen bedeutenden Fotomuseum. Nicht den Österreicher, den man so oft sah, im Fernsehen, auf Zeitschriftenfotos, auch einmal in natura: Wie er, auf einem gefährlich locker zusammengebauten Brettergestell, den Steinmeißel in einen Marmorbrocken schlug, aus er schon einen halben Jüngling von selten gesehener Zartheit und Anmut herausgeschlagen hatte. Nein, den Wotruba zu sehen, ist sowieso unmöglich. Der starb schon vor fast bald vierzig Jahren. Seine „Sachen“ auf Fotos sehen – aber auch die sind nicht zugänglich. Nicht hier. „Winterpause“! Waren aber ausgestellt, voriges Jahr im Sommer: „Figur in Block und Röhre“ hieß die Schau im „Haus der Fotografie“. Schade. Versäumt.
Also weiter. Skulpturen. Nicht umzustoßen. Die wärmer strahlende Sonne leckt an Bronze und Stahl. Lässt Gebilde lebendig werden, die eigentlich starr dastehen. Auf den freien Wiesenflächen, die noch keine Ahnung eines Frischgrüns verraten. Ein Wotruba hier? Ach wo. Ein Hrdlicka. „Orpheus I“. Bronze nach Stein. Heiß früher mal „Golgatha“. Sagt das Heft, das irgendwo lag – zum Mitnehmen. Wann: früher? 1963? Könnte gut sein. Da war Alfred Hrdlicka 38 Jahre jung. Und noch Themen zugewandt, die sich dem Glauben verschrieben haben, in dem er aufwuchs. Hrdlicka war Wotruba-Schüler. Starb 2009. Lässt an Wien denken. Denkmäler von politischer Sprengkraft und Brisanz, die sich gegen Krieg und Gewalt, Faschismus und Machtgier wenden. So schnell ist man weg aus Burghausen, und in Wien… Aber Hrdlickas „Haarmann“ – oh! Da hat man zu tun, um sich zu erinnern, wer dieser Unmensch war. „Der Totmacher“. Götz George hat ihn uns so unsympathisch wie möglich gezeigt, im Film von 1995. Auf dem Schild fehlt ein a. Was tut das schon. Fritz Haarmann sorgte dafür, dass mehr fehlte. Fehlten ist richtig.
Im Nu ist man, mit Lothar Fischer, in Neumarkt in der Oberpfalz. Fast so weit weg wie Wien von Burghausen an der Salzach, aber noch in Bayern. In Neumarkt hat der Bildhauer Lothar Fischers ein eigenes Museum bekommen. Schön licht und hell und schlank gebaut. Fischers „große transparente Dreikantfigur“ von 1991 wird nicht gefunden. Oder ist sie es, die die„Große Wächterin“ heißt, die sich von der spätgotischen Hedwigkapelle abwendet und ihr „eines Auge“ – wieder kommt Wagners „Ring“ in den Sinn, diesmal ist es Wotan, der Göttervater mit dem „einen Auge“ – in unbestimmte Weiten richtet?
Von Lothar Fischer zu Heinrich Kirchner ist ein kleiner Sprung. Beide Künstler strecken ihre Langbeinigen gegen die Wolken, rank und fest und unbeirrt. Kirchner, der an die Fraueninsel im Chiemsee denken lässt, wo seit nunmehr 30 Jahren seine Grabstätte im Schatten des Münsters liegt, hat sich mit „Prometheus“ an den Anfang des Burg-Skulpturen-Weges gestellt. Wie ein riesiger Wächter. Und Weiser. Ein heiterer Weiser. Denn seine Arme streckt er von sich, wie wenn er nicht aus Bronze wär, sondern aus Fleisch und Blut. In beide Richtungen. Auch Kirchners geschweißter Bronze-Abzug von 1979/80 steht gegen eine kleine Kirche. Stimmt nicht, stellt man erheitert fest. Das an eine Kirche gemahnende Türmchen ist der ehemaligen Rentmeisterei, scheint`s, nur zum Spaß aufgesetzt. Dem jetzigen „Haus der Fotografie“, wo der Rundgang begann, steht ein Türmchen gut. Ob der „Prometheus“, von dem man so schnell nicht loskommt, für immer hier stehen bleibt? Sieht so aus, als ob er wieder wandern dürfte. Er gehört, eine Ausnahme, der Stadt Burghausen. Die darf mit ihm tun und lassen, was sie will.
Josef Baiers Spiralen und Knoten, Hrdlickas schrecklicher Totmacher, Hermann Peters mit seinem „Dreiteilig“ betitelten Eisenvollguss von 1985, Erwin Reiters glänzende „Menschheitsfamilie“, Michael Croissants mächtig schwere, regelrecht polternde Eisengüsse, Makoto Miuras dahinstolpernde Stahlblöcke, die wie ein Riesenkinderspielzeug aussehen, das immer so fort rollt und sich stößt und neckt und da und dort aneckt, bis es – – – ach, der Motor. Er meldet sich wieder. Der innere Motor, der zwar nicht still stand bei dem Rundgang der vielen Begegnungen, aber eine Wendung nahm. „Winterpause“?
Bevor ins Auto gestiegen wird, um ein Café in der Altstadt zu suchen, eins, das Tische auf dem Stadtplatz stehen hat, an denen sich noch ein halbes Stündchen Resttagessonne einfangen ließe – bevor das Ausatmen nach so viel Wuchtigkeit und Stämmigkeit und Übergröße und Monumentalität sein Recht fordert, muss doch noch einmal …
Da, eine Gruppe Jugendlicher, angeleitet durch Zwanzig-, Dreißigjährige, alle im Trainings-Dress mit schlabberigen T-Shirts, Schlagstöcke als Schwerter schwingend und gegeneinander schlagend, tummelt sich, drischt, aber im Guten, zum Lernen, aufeinander ein. Ein ebenso rauflustiges wie beruhigendes Bild. Sehr bewegt. Und bunt. Jemand hat Hans Wimmers „Wagenlenkerin in der Biga“ mit einer gelben Vereins-Fahne bedeckt. Von der fast verdeckten schönen Schlanken sind es wenige Schritte nur zu Heinrich Kirchners „Der 7. Schöpfungstag“. 1963 entstanden. Da war der etwa fünf Jahre später in seinem Bauernhof-Atelier in Pavolding im Chiemgau aufgesuchte, schon damals bewunderte und später immer mehr „umarmte“ Bildhauer aus Erlangen auch schon gut 60 Jahre alt. Wer steht da neben dem Pferd und hebt beide Arme und ruft: „Mann! Ich hab`s geschafft. Da steht ein Riesentier auf vier Beinen! Wie klein bin doch ich gegen diese massive Statur!“ Dreimal rund um das Tier gegangen, die Embleme betrachtet, die Kirchner da in Bronze goss. Nicht alle sind zu verstehen. Sonne, Mond und Sterne – klar. Aber das andere alles? Wellen und Strahlen. Wasser und lustige Kringel …
Die „Hockende“ von Wilhelm Uhlig, des 1930 geborenen Schülers vom großen Hans Wimmer, schaut weg, beachtet den Vorübergehenden nicht. Der sieht, schon von weitem, den Linken Schächer. Noch einmal ein heftiger Hrdlicka. Der drängt sich zu sehr auf mit seinen gedrungen-verbissenen Kolossen. Mit dem Linken Schächer – warum der (allein) und nicht (auch) der Rechte? Es reicht schon der eine. Hrdlicka hat Recht. Der eine schon haut einem, vielleicht nicht jedem, Schuld um die Ohren. Gnadenlos. Was kannst du denn dafür, dass der Linke Schächer, großgeschrieben, den leidenden Christus …?
Es reicht. Belastet ins Auto steigen? Mit schweren Gedanken? Auch die Sonne macht sich rar. Wird fahl und ihre Strahlen sind nur noch fahrige Fetzen. Streifige. Regen liegt in Wolkensträhnen verpackt und drückt schon auf die Windschutzscheibe. Der siebte Schöpfungstag. Der Linke Schächer. Die Große Wächterin. Ob sie im nächsten Traum vorkommen und zu einer Einheit verschmelzen: Bronze, Stahl, Eisen, Chromnickelstahl, Stein und – Bein?
Die „Weggefährten auf der Burg“ von Burghausen stehen noch bis 21. April. Sie warten. Ohne etwas zu sagen. Und doch reden sie. Zu dem, der Ohren hat zu hören.
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