Diese Überschrift mag zunächst recht seltsam erscheinen, denn man verbindet den Namen Arnold Schönberg eigentlich nur mit einem Komponisten und einem Musiktheoretiker. Daß und in welcher Art er durch sein Werk jedoch auch gesellschaftlichen Einfluß ausgeübt hat, beabsichtige ich in diesem Aufsatz zu zeigen. Schönberg selbst war sich der gesellschaftlichen Wirkung von Kunst und Musik bewußt, denn für ihn war der Ausdruck der Persönlichkeit und auch der Menschheit der Zweck von diesen Tätigkeiten. Jedoch lag es nicht in seinem Interesse die Zivilisation und besonders auch den Nihilismus zu fördern, was er, wie ich zeigen werde, trotzdem getan hat.
Schönberg hat natürlich den Nihilismus und die Zivilisation nicht zur gleichen Zeit gefördert, da dies grundsätzlich verschiedene kulturelle Ordnungen sind und jede durch eine andere Art von Musik gefördert wird. Ich weise in diesem Aufsatz nach, daß Schönbergs mittlerer Stil, den er zwischen den Jahren 1908 und 1913 inne hatte1, den Nihilismus unterstützt, und sein reifer Stil, in dem er zwischen 1923 und 1933 komponierte, die Zivilisation. Ich gehe bei meiner Untersuchung wie folgt vor. Zunächst wende ich mich einer abstrakten Kurzanalyse von Schönbergs Werk dieser beider Schaffensperioden zu (1.) und dann erläutere ich kurz das dieser Abhandlung zugrunde liegende Kunstverständnis (2a. & 2b.), was mir wiederum ermöglicht, auf die gesellschaftlichen Konsequenzen von seinen Kompositionen einzugehen (3.).
1. Analyse von Schönbergs Werken
Ich konzentriere mich in diesem Zusammenhang ausschließlich auf die beiden oben angeführten Phasen. Zunächst gehe ich auf die wichtigsten Kennzeichen von Schönbergs mittlerem Stil ein. Die beiden Konzepte, die für die Beschreibung von diesem am wichtigsten sind, sind die „freie Atonalität“ und die „Emanzipation der Dissonanz„. Unter der „freien Atonalität“ ist zu verstehen, daß statt des diatonischen Leitersystems auf die chromatische Skala zurückgegriffen wird, in der alle 12 Töne gleichberechtigt sind. Das Gefühl einen Grundton zu haben entfällt, ebenso wie das einen Zentralton zu haben. Die „Emanzipation der Dissonanz“ bedeutet, daß die vorhandenen Akkordfolgen, die aus Stimmführung und Horizontalspannung entstehen, nicht mehr funktionell deutbar sind, die Akkordformen nichts mehr den traditionellen, tonalen entsprechen und ein harmonisches Bezugssystem nicht länger vorhanden ist2. Jeder Ton oder Klang kann fortan mit jedem beliebigen anderen verbunden werden. Diese Haupteigenschaften von Schönbergs mittleren Still sind zum Beispiel in den 3 Klavierstücken op. 11 (1909), in dem Drama „Die glückliche Hand“ op. 18 (1910/1913), sowie auch in „Pierrot lunaire“ op. 21 (1912) vorzufinden.
Als nächstes möchte ich noch eine Kurzbeschreibung der Hauptmerkmale von Schönbergs reifen Stil vornehmen. Dieser ist in besonders ausgeprägter Form in seiner Klaviersuite op. 25 enthalten. Ich zitiere das Gesetz der Zwölftonreihe, welches seinen reifen Stil ausmacht, nach Georg Nester3, der es sehr kurz und prägnant formulierte:
„1. Kein Ton darf wiederholt werden, bevor nicht die übrigen Elf erklungen sind. Kommentar: würde ein Ton wiederholt (ausgenommen unmittelbare rhythmische Tonwiederholungen), so entstünde ein Übergewicht eines Tones über die anderen, mit anderen Worten, eine Grundtonbezogenheit der Reihe. Gerade aber diese soll vermieden werden. Aus dem gleichen Grunde ist auch die Oktave verpönt.
2. Man kann einen Hut von vorn, von hinten, von oben oder unten betrachten, es bleibt doch ein Hut (Schönbergs Formulierung).
Kommentar: Auch die Grundgestalt der Reihe hat verschiedene Ansichten: a) die Umkehrung: Intervalle, die nach oben gehen, kehren sich nach unten um und umgekehrt, b) der Krebs: die Reihe läuft rückwärts von hinten nach vorn ab, c) der Krebs der Umkehrung: beide Manieren verbinden sich.“4
Ausgehend von diesen beiden Kurzanalysen von Schönbergs mittlerem und reifen Stil werden im dritten und letzten Teil die gesellschaftlichen Wirkungen seiner Kompositionen erläutert. Zunächst gehe ich jedoch kurz auf das Kunstverständnis ein, das dieser Arbeit zugrunde liegt.
2a. Was ist Kunst?
Kunst ist die beste Möglichkeit für die Kommunikation von Werturteilen5, wozu sowohl der formelle, als auch der inhaltliche Aspekt jedes Kunstwerkes genutzt wird. Der Künstler stellt durch sein Kunstwerk bestimmte Werte als gut oder schlecht dar. Das Bewußtsein und teilweise auch nur das Unterbewußtsein des Rezipienten wird dadurch auf den behandelten Werte – Bereich fokusiert. Nur wenn der jeweilige Bereich für den Rezipienten von großer Bedeutung ist, wird das Werk ihn in stärkerer Form ansprechen. Jedoch hat die Kommunikation von Werturteilen durch die Kunst noch die weitere Wirkung, daß jeder Rezipient, der sich auf ein Kunstwerk einläßt, durch dieses geprägt wird, solange dieses etwas verführerisches an sich hat. Falls eine Werk etwas verführerisches für jemanden besitzt, verändert sich die Einstellung des Rezipienten in Bezug auf den jeweiligen Bereich entsprechend der Position, die der Künstler bezieht. Verführt werden kann man auch von Werken, deren Gesamtaussage einen nicht stark anspricht, da Verführung durch einen Teilbereich stattfindet, der nicht notwendigerweise für den vermittelten Werte – Bereich von großer Bedeutung ist.
Auf die Nähe dieses Kunstverständnisses zu dem von Platon und Tolstoi gehe ich nun kurz ein. Für Tolstoi fängt die Kunst an, „wenn ein Mensch in der Absicht, den anderen Menschen das von ihm empfundene Gefühl mitzuteilen, dasselbe von neuem in sich hervorruft und es durch gewisse äußere Zeichen ausdrückt“6. Dem ist entgegenzusetzen, daß nicht nur Gefühle, sondern auch Ideen, Intuitionen, Vorstellungen, Erinnerungen und Sinnesempfindungen durch ein Kunstwerk kommuniziert werden können, und in jedem künstlerischen Ausdruck sind Bewertungen bezüglich aller dieser Bereiche enthalten, denn ein Künstler kommuniziert eine Sache bloß, weil er ihr eine besondere Bedeutung beimißt.
Platon steht der hier angewendeten Definition von Kunst noch näher als Tolstoi, denn für ihn haben alle Kunstwerke eine stark prägende Wirkung7. Genau aus diesem Grund verbannte er alle Künstler, die bloß den momentanen Genuß der Rezipienten ansprechen, aus seinem Staat.
„Wenn nun ein Mann, der infolge seiner Klugheit alles mögliche sein und alles nachahmen kann, in unsern Staat käme, sich selbst und seine Gedichte zur Schau zu stellen, dann würdigen wir ihn als einen heiligen, bewundernswerten und angenehmen Menschen zutiefst verehren. Aber wir würden ihm sagen, einen solchen Mann gebe es nicht in unseren Staate, noch dürfe er einwandern; dann würden wir ihn in einen anderen Staat geleiten, Myrrhenöl auf sein Haupt gießend und es mit Wolle bekränzend“8
Jedoch sollten alle die Kunstwerke, die mit den Richtlinien seines Staates im Einklang stehen, für die Erziehung genutzt werden.
„Wie sieht nun diese Erziehung aus? Es läßt sich wohl schwer eine bessere finden als die seit uralter Zeit erprobte? Es ist dies für den Körper die Gymnastik, für die Seele die Kunst der Musen.“9
Beide Regelungen basieren auf dem Grundverständnis, daß Rezipienten sich sehr leicht durch Kunstwerke beeinflussen lassen. Die hier angewandte Auffassung kann man als zeitgemäße Neuformulierung von Platon Kunstphilosophie auffassen. Dabei ist zu betonen, daß die Kommunikation der Werturteile die primäre Wirkung der Kunst ist – die sich daraus ergebende Prägung ist die sekundäre Folge.
2b. Wie findet Prägung im einzelnen statt?
Ich werde hier zwei mögliche, zeitgemäße Beispiele für die Prägung durch Kunstwerke darstellen. Das erste ist das Beispiel eines Werkes zu dessen Werturteilen man heutzutage keinen Bezug mehr hat, wobei jedoch ein Aspekt seiner formellen Schönheit so verführerisch ist, daß man dem Werk trotzdem noch viel Zeit widmet. Das zweite Beispiel hingegen bezieht sich auf ein Werk. mit dessen grundsätzlicher Werte – Ausrichtung man sich identifizieren kann und welches einen heutigen Menschen daher in seiner speziellen Ausformung prägen könnte.
Das erste Beispiel bezieht sich auf Bachs Messe in H – Moll (BWV 232). Diese Messe ist eine der großartigsten Lobpreisungen des christlichen Gottes. Sie repräsentiert die vollendete Harmonie, die in der transzendenten Welt der christlichen Religion vorhanden sein soll und in die wir nach unserem Tod gelangen könnten, so wir entsprechend gelebt haben. Besonders durch das Gloria wird die Sehnsucht nach einer solchen Welt und einem solchen Leben wieder wachgerufen. Heutzutage hat man jede Hoffnung auf ein seliges, ewiges Leben bei Gott aufgegeben, und man sucht nach einer guten Rechtfertigung für das notwendige, irdische Leid, das man notwendigerweise ertragen muß. Die Möglichkeit auf ein Leben ohne Leid hat man ganz ausgeschlossen. Doch wenn die engelhafte Vollendung des Kyrie Eleison erklingt, verliert man seine sonst sehr stark durch den Intellekt beeinflußte Einschätzung von Kunstwerken. Das feierliche Gloria in Excelsis Deo mit seinen klaren Trompetenklängen, läßt die Frage aufkommen, ob es das erfüllte, ewige Leben nicht vielleicht doch geben könnte. Bachs H – Moll Messe verspricht uns dieses, sowie auch eine harmonische, transzendente Welt, denn diese Messe besitzt keine Ähnlichkeiten zu irgendwelchen irdischen Erscheinungsformen. Was geschieht also beim wahrnehmen dieses Werkes? Durch die harmonische, geordnete Komplexität in ihren verschiedensten Ausprägungen, werden unterschiedliche Aspekte des ewigen, harmonisch vollendeten Jenseits dargestellt. Im Gloria ist es die gütige, majestätische Erhabenheit Gottes und im Credo in unum Deum die gefestigte, glückliche Seele eines Christen. Die heute vorherrschende Weltvorstellung schließt die Möglichkeit der Existenz beider dieser Ideen aus. Jedoch aufgrund der einzigartigen musikalischen Formulierungen Bachs wird man erneut zu der Wahrscheinlichkeit der Existenz einer christlichen Nachwelt verführt. Dieser Zustand hält zwar nur solange an, wie man der H – Moll Messe zuhört, jedoch genügt dies um sich die prägende Wirkung von Kunst, die einen nur durch diesen einen Aspekt anspricht, zu verdeutlichen. Um auf eine länger anhaltende Weise von Kunstwerken geprägt zu werden, müßte man sich wiederholt Werken mit der gleichen Grundaussage zuwenden. Noch wirksamer ist die prägende Wirkung einer Werteordnung, wenn diese in der gesamten Kultur, die einen umgibt, enthalten ist.
Etwas anders ist die Wirkung des zweiten Kunstwerkes. Hierbei geht es um Koyaanisqatsi von Philip Glass. Die grundsätzliche Weltanschauung des Komponisten spricht viele der heutigen Zeitgenossen an, da Glass an keine Zwei-Welten-Metaphysik glaubt10. Diese Auffassung wird in allen Werken von Philip Glass durch die über lange Zeitperioden andauernde Wiederholung von kleinen, zellenartigen Phrasen, die die organischen Veränderungen der Welt widerspiegeln, deutlich. Bevor er zu seinen persönlichen Stil fand, machte er eine Reise durch Indien, das Himalaja Gebiet und Nordafrika, bei der er eine neue Form der immanenten Geistigkeit weit entfernt von den westlichen Zivilisationen, in denen gegenwärtig die Abwesenheit von Werten vorherrscht, entwickelte. Ein wichtiger Grund für diese Neuorientierung war Glass Begegnung mit dem Sitar Spieler Ravi Shankar Mitte der 60er Jahre, der ihn mit den Strukturen der indischen Musik vertraut machte. Für viele Menschen ist heutzutage die Notwendigkeit für eine neue geistige Ordnung der Menschen innerhalb der Immanenz offenkundig11. In welcher Ausprägung diese jedoch entstehen sollte, ist noch unklar. Somit ist zumindest der allgemeine Bereich, den Glass in seinen Werken behandelt, vielen Menschen sehr wichtig. Die Streben nach einer neuen Geistigkeit ist derzeit nicht bloß bei Glass vorhanden, sondern man kann es ebenso bei dem russisch-orthodoxen John Tavener oder der seltsamen Religiosität von Karlheinz Stockhausen vorfinden12. Deren Grundeinstellungen sprechen zwar einige Menschen an, jedoch lehnen viele die Verteidigung einer jenseitigen Welt, die in deren Werken enthalten ist, stark ab. Anders ist dies bei Glass Koyaanisqatsi. Dieses Werk verteidigt eine wunderbare immanente Geistigkeit. Sowohl in dem Abschnitt Koyaanisqatsi, als auch in Oragnic legt er die ruhige, verborgene Ordnung der Welt dar. Erst in The Grid geht er näher auf die Erscheinungsformen ein, zeigt aber, daß auch diese unter einem geordneten geistigen Aspekt betrachtet werden können, obwohl sie zumeist wild und leidenschaftlich sind. In diesem Werk von Glass, setzt er sich stark für ein Leben der Ausgeglichenheit jenseits der großen Leidenschaften ein. Unabhängig davon, ob man diese Einstellung mit dem guten Leben verbindet, kann Koyaanisqatsi einen dafür stark begeistern. Man kann auf diese Weise sogar eine große Wertschätzung dieser Konzeption des guten Lebens entwickeln.
Da ich jedoch in diesem Aufsatz nicht näher auf die Wirkung von Bach und Glass eingehen möchte, wende ich mich nun wieder Schönberg zu.
3. Warum prägen Schönbergs Werke die Rezipienten so, daß zum einen der Nihilismus und zum anderen die Zivilisation gefördert werden?
Wie wir bereits bei den bisherigen Beispielen gesehen haben, waren es stets einige Elemente der musikalischen Werke, die ein analoges Abbild im Körper der Menschen gefunden haben, die für die Prägung verantwortlich waren. Unter „Körper des Menschen“ verstehe ich hier den gesamten Menschen. Wir sind ausschließlich unsere Körper und sonst nichts. Der Geist ist lediglich ein Aspekt des Körpers13.
Somit gilt es zu fragen welcher geistigen Grundhaltung und welcher Anordnung der Triebe im menschlichen Körper die Merkmale von Schönbergs mittleren und reifen Stil entsprechen. Zunächst konzentrieren wir uns auf den mittleren Stil. Dieser ist geprägt durch die freie Atonalität und die Emanzipation der Dissonanz. Die freie Atonalität erlaubt die unbegrenzte Nutzung eines jeden Tones, solange sich dabei kein Grundton und Zentralton herausbildet. Jeder Ton kann genutzt werden, wenn dies Schönberg im Moment für richtig hielt. Schönberg konnte, als er im mittleren Stil komponierte, jeder seiner momentanen Launen nachgehen, ohne auf irgendeine signifikante Beschränkung zu achten. Alles war erlaubt, solange sich dabei kein Grund- oder Zentralton und keine Konsonanz herausbildet. Wenn jemand stets seinem momentanen Willen folgt, dann ist die automatische Ausbildung etwa von Konsonanzen sehr unwahrscheinlich. Bei dieser Vorgehensweise konnte sich die Dissonanz und der damit verbundene Schmerz leicht emanzipieren, denn es wurde beim Komponieren nicht mehr länger auf irgendwelche zukünftigen Entwicklungen geachtet. Alleine der Moment zählte. Was vor kurzem passierte und was im nächsten Moment geschehen wird, war völlig egal. Diese Vorgehensweise findet sehr leicht eine Analogie in den Trieben der Menschen. Dieser mittlere Stil entspricht den Handlungen eines Menschen, der sich ganz seinen momentanen Trieben hingibt, nicht darauf achtet, was gestern war und was morgen sein wird. Alleine die Erfüllung des momentanen Triebes zählt, auch wenn dies bedeutet, daß man sich dadurch viel Leid einhandelt, was bei einer solchen Vorgehensweise unweigerlich der Fall sein muß. Genauso wie die Dissonanz sich emanzipiert, fördert und akzeptiert der so handelnde Mensch sein Leid. Die Folgen einer solchen Lebensweise werden am deutlichsten an Oscar Wildes Dorian Gray sichtbar. Denn dieser folgt stets alleine seinen Trieben und handelt ohne jede Selbstdisziplin. Die Einflüsse, die diese Art zu Leben auf einen Menschen haben, werden an dem auf dem Gemälde dargestellten Dorian Gray deutlich. Der freien Atonalität entspricht beim Menschen das uneingeschränkte Folgen der eigenen Triebe. Daß hierbei ein Grund- oder Zentralton entsteht ist genauso unwahrscheinlich, wie daß ein Mensch dem gleichen Trieb häufig hintereinander folgt und sich so ein tugendhafter, starker Charakter bildet – also sehr unwahrscheinlich. Die Emanzipation der Dissonanz korrespondiert beim Menschen darin, daß der Schmerz in den Vordergrund rückt und die Zeitlichkeit vergessen wird, weil nur noch der momentane Schmerz wahrgenommen wird. Somit bewirkt der mittlere Stil Schönbergs das freie Spiel der menschlichen Triebe, da es sich direkt auf die geistige Grundhaltung auswirkt, die in diesem Fall besagt: Alles ist erlaubt ungeachtet, von dem was bereits geschah, und dem, was geschehen wird.
Wenn Schönbergs mittlerer Stil diese Auswirkungen auf das Leben eines einzelnen hat, dann fördert er damit den Nihilismus. Der Nihilismus ist nämlich eine Gesellschaftsform, in der jeder Mensch ausschließlich seinen eigenen momentanen Trieben folgt und darin das gute Leben sieht14. Schönbergs mittlerer Stil fördert genau diesen Lebensstil, und wenn er dies bei einer genügend großen Menge von Menschen getan hätte, dann würden wir in einer nihilistischen Gesellschaft leben. Die Frage, ob wir dies nicht vielleicht sogar tun, möchte ich an dieser Stelle nicht erörtern.
Genauso wie wir alle wohl diesen nihilistischen Lebensstil des ‚neuen Hedonismus‘ schon bald wieder ablegen würden, obwohl er anfänglich einen gewissen Reiz auf uns ausgeübt hat, hat auch Schönberg diesen Kompositionsstil schon bald wieder abgelegt und sich auf die Suche nach einem neuen Ordnungsprinzip begeben. Nach etwa 10 Jahren hatte er ihn in dem Gesetz der Zwölftonreihe gefunden. Auch diese Ordnung hat eine bestimmte Wirkung auf die Menschen. Weil ein Ton erst dann wieder auftreten darf, nachdem die anderen elf bereits erklungen sind, hat hierbei eine Demokratisierung der Töne stattgefunden. Und diese Demokratisierung prägt eine analoge Demokratisierung im Denken der Menschen. Sie erschafft eine neue Ordnung in der grundsätzlichen, menschlichen Denkstruktur. Es ist nicht länger so, daß man wahllos den eigenen Trieben folgt und somit unbedenklich sich und andere Menschen schädigt, sondern man wird dadurch unter anderem auf die Gleichwertigkeit der Menschen aufmerksam gemacht. Wenn jeder Ton das gleiche Grundrecht besitzt, dann besitzen dies die Menschen auch. Somit verteidigt dieser Kompositionsstil auch die unveräußerlichen Menschenrechte. Jeder Mensch hat die gleichen grundlegenden Menschenrechte, unabhängig davon wo und wann er lebt. Wenn man von der grundlegenden Gültigkeit der Menschenrechte ausgeht, dürfte ein Mensch auch keine Luxusartikel besitzen, solange einem anderen noch nicht alle grundsätzlichen Menschenrechte erfüllt wurden. Dies entspricht der Forderung, daß ein Ton erst dann wieder auftreten darf, nachdem das Existenzrecht der elf anderen erfüllt wurde. Jedoch nicht nur auf globaler Ebene spielt dieser Gedanke eine Rolle, sondern auch auf politischer, denn auf dieser entspricht dies dem Gedanken, daß jeder Mensch zumindest die gleichen politischen Rechte besitzt. Wie beim Gesetz der Zwölftonreihe die Töne, so haben in einer Demokratie alle Menschen die gleichen politischen Rechte. Durch die musikalische Form von Schönbergs reifen Stil entwickelt sich diese Denkweise bei den Menschen. Die Anordnung der zwölf Töne ist stets verschieden und verändert sich nach bestimmten Regeln, wie dem Krebs oder der Umkehrung. Genauso ist dies auch in einer Demokratie. Wenn die politische Führung nicht mehr gut regiert, wird sie abgewählt und die Opposition kommt an die Macht. Das was unten war, kommt nach oben und umgekehrt.
Wenn Schönbergs Werke das Denken in diese Richtung verändern können und der Einfluß von ihm groß genug wäre, dann könnte er durch sie eine Zivilisation erschaffen. Eine Zivilisation ist nämlich eine Gesellschaftsordnung, in der jeder Mensch seine eigene Vorstellung vom guten Leben verwirklichen darf, solange er die Menschenrechte der anderen dabei nicht verletzt. Dies entspricht dem Gesetz der Zwölftonreihe. Jeder Ton kann so lange, so hell und dort sein, wo er will, solange er erst dann wieder auftritt, wenn die anderen elf Töne bereis erklungen sind.
Wie wir an den vorangegangenen Schlußfolgerungen gesehen haben, haben die Stilmerkmale aus den verschiedenen Schaffensperioden von Schönberg unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die Stilmerkmale seines mittleren Stils beeinflussen die Menschen so, daß der Nihilismus gefördert wird, und die Stilmerkmale seines reifen Stils beeinflussen die Menschen so, daß die Zivilisation gefördert wird. Die Entwicklung vom Nihilismus zur Zivilisation, so wie sie bei Schönberg stattfand, kann man außerdem auf vielen anderen Ebenen wiederfinden. Zum einen auf der gesellschaftlichen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Nihilismus in Europa sehr stark, was man an den zahlreichen politischen Streitereien, Unruhen und Kriegen, den ständig neuen staatlichen Ordnungsversuchen und den häufigen zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen sehen kann. Jedoch waren die Menschen mit diesem Zustand sehr unzufrieden. Deshalb wurde er durch die Zivilisation abgelöst. Zivilisation zeigt sich in den verschiedenen demokratischen Staatsformen, die man heute in Europa vorfindet. Ich versuche mit diesem Beispiel nicht aufzuzeigen, daß Schönbergs Werke alleine diese Veränderung hervorgebracht haben. Jedoch gehe ich aufgrund der im zweiten Teil gemachten Beobachtungen auch nicht davon aus, daß er an den geschehenen Veränderungen unbeteiligt war. Es scheint sogar so, daß das Werk Schönbergs die Vorhut der Entwicklung war, die sich auf geschichtlicher Ebene im 20. Jahrhundert in Europa abgespielt hat.
Weiterhin ist zu bemerken, daß der Wandel vom nihilistischen Chaos zur einfachen, zivilisatorischen Ordnung ein auf vielen Ebenen stattfindender Prozeß ist. Nämlich nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene ist dieser Wandel vorzufinden, sondern auch auf persönlicher Ebene ist ein analoger Vorgang zu beachten15. Beispiel: Während der Teenager – Zeit gibt man sich häufig alleine den eigenen Trieben hin: Alles ist egal! Wozu man Lust hat, muß gemacht werden! Man probiert alles mal aus! D.h. Man lebt den Nihilismus. Irgendwann bemerkt man jedoch, daß die Abwesenheit von jeder Ordnung einen nicht das Überleben sichern kann. Aus diesem Grund beginnt man sich neu zu orientieren und einen für einen selbst gültigen Lebensstil zu erschaffen, der dem der anderen nicht entgegensteht, was wiederum der typischen Ausformung eines in einer Zivilisation lebenden Menschen entspricht. Somit kann man an den Auswirkungen, die das Werk Schönbergs aus den beiden angesprochenen Abschnitten auf die Menschen hat, auch eine ganz normale Entwicklung des Menschen Arnold Schönberg beobachten.
Aus den gestellten Überlegungen können wir nicht nur folgern, daß Schönberg die Vorhut der kulturellen Entwicklung im 20. Jahrhundert in Europa darstellt, eine fördernde Wirkung ausübte und somit tatsächlich ein Förderer des Nihilismus und der Zivilisation war, sondern außerdem können wir die folgende noch viel weiterreichende Schlußfolgerung ziehen. Spenglers Organismustheorie der kulturellen Entwicklung16 wird durch die hier angestellten Überlegungen bekräftigt, denn auf allen unterschiedlichen Ebenen hat sich uns ein organismusähnliches Wachsen und Vergehen dargeboten, wie es von Spengler beschrieben wurde. In diesem Fall repräsentiert Schönberg nicht nur die Vorhut der kulturellen Entwicklung im 20. Jahrhundert, was impliziert, daß er diese Entwicklung mitgefördert hat, sondern es wurde auch deutlich, daß die kulturelle Entwicklung im 20. Jahrhundert selbst eine ganz natürliche Entwicklung darstellt.
Bibliographie:
*Jung, Carl G.: Gesammelte Werke. 20 Bd., herausgegeben von M. Niehus-Jung, L. Hurwitz-Eisner, F. Riklin, L. Jung-Merker, E. Rüf und L. Zander, Walter Verlag, Düsseldorf 1995
*Lovisa, Fabian R.: minimal-music – Entwicklung, Komponisten, Werk. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996
*Nester, Georg: Die Geschichte der Musik. C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1962
*Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht – Versuch einer Umwertung aller Werte. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1964
*Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, de Gruyter, Berlin 1967-1977 & 1988
*Platon: Werke. 8 Bd., Griechisch/Deutsch, herausgegeben von Gunther Eichler, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, Band 4, „Der Staat“
*Platon: Der Staat. Ins Deutsche übersetzt von Karl Vretska, Reclam, Stuttgart 1958
*Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. dtv, München 1923
*Stevens, Anthony: On Jung. Penguin Books Ltd., London 1990
*Tolstoi, Leo N.: Was ist Kunst?. Eugen Diederichs Verlag, München 1993
*Vattimo, Gianni: Glauben – Philosophieren. Ins Deutsche übersetzt von Christiane Schultz, Reclam, Stuttgart 1997
*Vetter, Hans Joachim: Die Musik unseres Jahrhunderts. B. Schott’s Söhne, Mainz 1968
1 Ich greife bei dieser Einteilung auf Hans Joachim Vetters Analyse von Schönbergs Schaffensperioden zurück [Vetter, Hans Joachim: Die Musik unseres Jahrhunderts. Mainz 1968, S. 60 – 61].
2 Auch in der Spättonalität waren die Akkordfolgen zum Teil nicht mehr funktionell deutbar, jedoch wurden zu dieser Zeit noch die traditionellen, tonalen Akkordformen verwendet.
3 Nester, Georg: Die Geschichte der Musik. Gütersloh 1962.
4 Ebd.: S. 601 – 602.
5 Der „Wert“ ist hier jede mögliche Grundlage für menschliches Handeln. Das Wertespektrum umschließt den gesamten Bereich zwischen Ethos und Pathos, also von den bestimmten Eigenschaften oder Tugenden, die einen stabilen Charakter ausmachen, bis hin zu den Leidenschaften und Begierden, von denen man beherrscht werden kann.
6 Tolstoi, Leo N.: Was ist Kunst?. München 1993, S. 73.
7 vgl. Platon: Werke. Darmstadt, 1990, Band 4, „Der Staat“, 401b-d.
8 Platon: Der Staat. Stuttgart 1958, S. 178; „Der Staat“ 398a.
9 Ebd.: „Der Staat“, 376 e.
10 Lovisa, Fabian R.: minimal-music – Entwicklung, Komponisten, Werk. Darmstadt 1996, S. 101.
11 Gianni Vattimo hat klar herausgestellt, daß in der letzten Zeit Religionen wichtiger geworden sind, die Frage nach Gott wieder laut wird und einem auch das Recht zugestanden wird, diese Frage zu stellen. Dies scheint eine Abkehr von der in den vergangenen Jahrzehnten dominierenden antireligiösen Haltung aufzuzeigen [Vattimo, Gianni: Glauben – Philosophieren. Stuttgart 1997, S. 7].
12 In diesem Zusammenhang ließen sich noch viele weitere Namen nennen, etwa: Arvo Pärt oder Henryk Görecki.
13 vgl. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, de Gruyter, Berlin 1967-1977 & 1988, Vol. 4 „Also sprach Zarathustra“, ‚Von den Verächtern des Leibes’.
14 vgl. Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht – Versuch einer Umwertung aller Werte. Stuttgart 1964, „Der Wille zur Macht“ Aph. 1-2.
15 vgl. Jung, Carl G.: Gesammelte Werke. Düsseldorf 1995, 8. Band, Paragraph 795 & Stevens, Anthony: On Jung. London 1990.
16 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 1923, Tafeln nach Seite 71.
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