Der 200. Geburtstag des aus Kreuzburg in Oberschlesien stammenden Schriftstellers Gustav Freytag (1816-1895) am 13. Juli ist im wiedervereinigten Deutschland kaum wahrgenommen worden. So trägt die Ausstellung im Spiegelsaal der Forschungsbibliothek im Gothaer Schloss Friedenstein denn auch den kaum zu widerlegenden Titel „Verehrt und vergessen“.
Gustav Freytag, ein mit seinen mehrbändigen Romanen „Soll und Haben“ (1855) und „Die Ahnen“ (1872/80) bis in die Weimarer Republik vielgelesener und hochgerühmter Autor, ist heute so gründlich vergessen, dass Ausgaben seiner Werke nur noch antiquarisch greifbar sind. In Thüringen gibt es zwischen Mühlburg und Wachsenburg den Gustav-Freytag-Weg, in Berlin-Reinickendorf die Gustav-Freytag-Oberschule und in Gotha-Siebleben das Gustav-Freytag-Gymnasium. Sollte das alles sein, was noch an ihn erinnert?
Immerhin gab es, übrigens in beiden deutschen Staaten, den Versuch, diesen vergessenen Autor des 19. Jahrhunderts zurückzuholen in die Gegenwart, auch wenn er nach 1945 wegen seines Antisemitismus im Roman „Soll und Haben“ gescholten wurde. Die DDR-Germanistik hat es zumindest vermocht, 1960 eine, wenn auch stark gekürzte Fassung der „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ (1859/67) zu edieren, obwohl ihr dabei das negative Urteil des marxistischen Literaturkritikers Franz Mehring (1846-1919) im Wege stand, der Autor wäre ein „übler Schleppenträger der Reaktion und des Klerikalismus“ gewesen. Im Leipziger „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“ (1972) wurde diese schroffe Einschätzung allerdings abgemildert und der Verfasser zum „literarischen Repräsentanten des gebildeten, wirtschaftlich aufstrebenden und begüterten Bürgertums“ erklärt. In Westdeutschland dagegen wäre es fast zu einer Renaissance des Schriftstellers gekommen: So erschienen 1977 der Roman „Soll und Haben“ bei Carl Hanser in München mit einem klugen Nachwort des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer (Taschenbuchausgabe 1978) und 1979 eine dreibändige Auswahl der „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ (1152 Seiten) bei Albrecht Knaus in Hamburg, vorgenommen durch den Würzburger Historiker Heinrich Pleticha.
Es gibt noch weitere Bezugspunkte des vergessenen Oberschlesiers ins verkleinerte Nachkriegsdeutschland, beispielsweise das 1951 gegründete „Gustav-Freytag-Museum“ mit angeschlossenem Archiv in Wangen/Allgäu, das die Eheleute Margret und Karl Fleischer 1945 aus Kreuzburg gerettet und in Wangen wiederaufgebaut haben. Hier lagern noch rund 1000 Briefe an seine drei Verleger Salomon (1804-1877), Heinrich (1836-1894) und Georg Hirzel (1867-1924) , die ihm nicht nur Geschäftspartner, sondern auch Freunde waren, denen er sich anvertrauen konnte. Eine dreibändige Auswahl dieser „Briefe an die Verlegerfamilie Hirzel“ ist in Berlin 1994,1995 und 2003 erschienen. Im Dorf Siebleben bei Gotha, das 1922 in die Kreisstadt eingemeindet wurde, hatte sich Gustav Freytag, ein an der Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität 1839 habilitierter Literaturwissenschaftler, zusätzlich zu seinem 1847 erworbenen Haus in Leipzig, 1851 ein Landhaus gekauft, wo er die Prosawerke, die ihn berühmt machen sollten, schrieb. Im Gartenpavillon des „Gustav-Freytag-Parks“ gibt es seit 2009 eine Gedenkstätte, in der Nähe liegen das einstige Wohnhaus des Dichters und auf dem Friedhof an der Kirche St. Helena die Grabstätte.
Im hessischen Wiesbaden hatte Gustav Freytag seit 1876, neben denen in Leipzig (bis 1880) und in Siebleben bei Gotha einen dritten Wohnsitz. Wiesbaden war seit 1806 Hauptstadt des Herzogtums Nassau, das im Deutschen Krieg 1866 mit dem Kaiserreich Österreich-Ungarn verbündet gewesen und deshalb vom Königreich Preußen annektiert worden war. Hier in der Kurstadt Wiesbaden wohnte der Autor, dessen erste Frau Emilie am 18. Oktober 1875 in seinem Sommerwohnsitz Siebleben verstorben war, mit seiner früheren Haushälterin Marie Kunigunde Dietrich (1846-1896), mit der er die Söhne Waldemar (1876-1961) und Willibald (1877-1884) gezeugt hatte. Für diese inoffizielle Familie, von der niemand erfahren durfte, mietete er eine kleine Wohnung in der Biebricher Allee. Am 22. Februar 1879 heiratete er Marie Dietrich in zweiter Ehe, allerdings erkrankte seine Frau wenige Jahre später und wurde 1884 in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Drei Jahre zuvor, 1881, hatte er im Hainerweg (heute: Gustav-Freytag-Straße) ein Haus gekauft.
Im Herbst 1883 bekam Gustav Freytag in seinem Wiesbadener Haus Besuch des aus Ungarn stammenden Schauspielers und Rezitators Alexander Strakosch (1848-1909) und seiner Ehefrau Anna (1852-1911). Sie wollten ihm Grüße des ehemaligen Burgtheaterdirektors Heinrich Laube (1806-1884) überbringen, der aus Sprottau in Niederschlesien stammte. Anna Strakosch, die Jüdin war, begann 1884 einen Briefwechsel mit Gustav Freytag, besuchte ihn 1806 für zwei Monate in Wiesbaden und fuhr mit ihm 1887 für vier Monate nach Wien, wo ihre Eltern lebten, sie wurde so seine Vertraute und schließlich seine Geliebte. Nach ihrer Scheidung von Alexander Strakosch und seiner Scheidung 1890 von Marie, die in geistiger Umnachtung in einer psychiatrischen Anstalt lebte, heiratete er Anna am 10. März 1891. Sie brachte drei Kinder mit in die Ehe mit einem Mann, der 36 Jahre älter war: Mika-Maria (1875-1959), Hermance (1878-1956) und Hans (1882-1918). Die beiden Töchter wurden als Jüdinnen 1933 Opfer des aggressiven Antisemitismus der NS-Machthaber: Hermance war etwas geschützter dadurch, dass sie mit dem nichtjüdischen Sänger Gustav Matzner verheiratet war; Mika-Maria wurde 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt in Böhmen, der Vorstufe zum Vernichtungslager Auschwitz, verschleppt und 1945 von amerikanischen Truppen befreit. Sie kehrte nach Siebleben in Thüringen zurück, wo sie 1959 hochbetagt starb. Das alles kann man ausführlich nachlesen in der neuen Biografie von Bernt Ture von zur Mühlen „Gustav Freytag“ (Göttingen 2016).
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