Peter Pragals bemerkenswertes Buch über eine ostdeutsche Provinz
Peter Pragal, der sich selbst als linken Journalisten betrachtet, hat ein Buch über Schlesien geschrieben, das jeder Diskussion wert ist! Anders als in seinem ersten Buch „Der geduldete Klassenfeind“ (2008), das seinen Ostberliner Jahren als DDR-Korrespondent für die „Süddeutsche Zeitung“ in München 1974/79 und für die Hamburger Illustrierte „Stern“ 1984/90 gewidmet war, geht er in seinem zweiten Buch autobiografisch noch einige Jahre zurück und versucht, nach einem langen, erfahrungsreichen Berufsleben als Journalist, sein Verhältnis zu seiner Geburtsstadt Breslau, zur Heimatprovinz Schlesien und zu den 1945 verlorenen Ostgebieten Deutschlands überhaupt zu klären.
In der schlesischen Hauptstadt Breslau wurde er als Sohn eines Arztes am 8. Juni 1939 geboren, mit Mutter, Großmutter und zwei jüngeren Brüdern, der Vater stand an der Front, ging er schon im Dezember 1944 auf die Flucht, zunächst nach Hartenberg ins Riesengebirge, von dort im März 1945, als die Front näher rückte, nach Böhmen, wo eine Irrfahrt begann, die am 22. Mai 1945 vorerst in Görlitz endete. Der Breslauer Arztfamilie Pragal ist es damals nicht anders ergangen als Hunderttausenden von Schlesiern, die aus der Heimat geflohen waren, aber westlich von Oder und Lausitzer Neiße voller Hoffnung ausharrten, um nach Kriegsende zurückkehren zu können. Die Pragals erhielten am 25. Mai ihren Passierschein nach Hirschberg , kamen dort aber nie an, sondern blieben unterwegs im Städtchen Liebenthal/Kreis Löwenberg hängen, wo sie von Juni 1945 bis Juli 1946 lebten, bis sie endgültig vertrieben wurden und schließlich über das Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm ins Siegerland kamen.
Dort, wo sein 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassener Vater eine Arztpraxis übernommen hatte, dort, wo er das Gymnasium besuchte und das Abitur ablegte, dort, wo er Freunde fand und erste Liebschaften, wuchs ihm das Heimatgefühl zu, das er für Schlesien damals nicht empfinden konnte. Noch im September 1980, als er eine Delegation westdeutscher Bischöfe begleitete und im Mietwagen von Trebnitz nach Breslau fuhr, empfand er Fremdheit, als er das Ortsschild „Wroclaw“ las, womit seine Geburtsstadt Breslau gemeint war: „Das Bild, das ich von ihr im Kopf hatte, war eine Idylle, zusammengesetzt aus den Erzählungen meiner Eltern, aus Büchern mit Fotos aus der Vorkriegszeit und aus einigen Kindheitserinnerungen…Ich war nicht in Breslau, ich war in der Realität angekommen…“.
Hier wird in klaren Worten die Erfahrung jener Generation umschrieben, die während der bitteren Jahre von Flucht und Vertreibung 1945/48 noch Kinder waren und heute Rentner sind. Obwohl ihnen die alte Heimat aus Kinderjahren noch vertraut war, zeigten sie wenig Verständnis für Eltern und Großeltern, die unter diesem Verlust fast zerbrachen. Sie wollten, was durchaus verständlich ist, ihr Leben im verkleinerten Nachkriegsdeutschland nicht immer nur am verlorenen Schlesien ausrichten, das ihnen, je weiter die Zeit voranschritt, von ihren Eltern in den leuchtendsten Farben geschildert wurde. Sie fügten sich vielmehr widerspruchslos ein in die neue Umgebung, sie nahmen Gebräuche und Mundart an, ihre Freunde und Ehepartner waren Einheimische, sie waren angepasst und als Schlesier fast nicht mehr erkennbar. Heute, 68 Jahre nach Kriegsende, weiß kaum noch jemand in Deutschland, dass 1945/46 rund 900 000 Flüchtlinge aus Hinterpommern und Ostpreußen nach Schleswig-Holstein gekommen sind, was damals fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachte. Heute kann man nur noch an manchen Nachnamen erkennen, dass ihre Träger ostpreußischer Abstammung sind.
Nicht anders verhielt sich Peter, der älteste der drei Söhne der Breslauer Arztfamilie Pragal. Auch er konnte das ständige Reden seines Vaters von Schlesien nicht mehr hören und vermied politische Gespräche, wenn er seine Eltern besuchte; auch er heiratete eine einheimische Siegerländerin. Erst 1980, als er nach Schlesien reiste, merkte er an seiner Reaktion auf die Ausführungen einer polnischen Museumsführerin in Breslau, dass noch in Rest von Heimat, wenn auch vom Verstand geleugnet, in ihm schwelte: „Ich hörte ihr höflich zu, aber innerlich war ich empört über ihre Geschichtsklitterung und die verzerrte Darstellung der Stadtgeschichte…Irgendwann konnte ich nicht mehr an mich halten und widersprach der Museumsführerin. Was folgte, war ein heftiger Wortwechsel. Wir schieden im Streit.“
Im Sommer 1945 waren die aus Liebenthal ausgewiesenen Schlesier fast zwei Wochen in Güterzügen unterwegs bis sie am 15. Juli im niedersächsischen Uelzen eintrafen und von dort in die spätere Kreisstadt Siegen in Westfalen überführt wurden, später wurde die Familie ins Sauerland eingewiesen, wo sie, um zu überleben, Reisig im Wald sammelte und auf den Feldern Ähren, wo sie Kaninchen züchtete und die Söhne dankbar waren für die aus amerikanischen Heeresbeständen zubereitete „Schulspeisung“ und wo sie sich vonden einheimischen Bauern als „Polacken“ beschimpfen lassen mussten, nur weil sie Schlesier waren. Dann wurde der Vater Dr. Heinz Pragal (1910-2000) aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen und begann, seine drei Söhne seiner autoritären Erziehung zu unterwerfen, wie es damals üblich war. Im Januar 1950 verzog die Familie nach Krombach im Siegerland, Sohn Peter besuchte jetzt als Fahrschüler das 1886 gegründete Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium in Weidenau bei Siegen.
Während des Studiums der Zeitungswissenschaft, Geschichte und Politologie in München, das er in Münster fortsetzte, entfernte er sich innerlich immer weiter von Schlesien, seine Eltern im Siegerland hingegen verharrten in ihrer Heimatverbundenheit, pflegten schlesische Traditionen und besuchten die jährlichen Schlesiertreffen. Was an der Oberstufe des Gymnasiums der aus Ostpreußen stammende Geschichtslehrer Dr. Hugo Novak gewesen war, ein „leidenschaftlicher Patriot“ und „überzeugter Demokrat“, das wurde für ihn an der 1959 gegründeten „Deutschen Journalisten-schule“ in München Immanuel Birnbaum (1894-1982), Redakteur für Außenpolitik bei der „Süddeutschen Zeitung“. Er entstammte dem ostpreußischen Judentum, war in Königsberg/Preußen geboren, hatte in Schweden im Exil gelebt und galt als Altmeister linker Publizistik. Nach neun Jahren als Redakteur ging Peter Pragal als Korrespondent nach Ostberlin, weil niemand sonst sich für diesen Posten beworben hatte.
Beim Schreiben seines neuen Buches hat es sich der Autor nicht leicht gemacht! Er schöpfte nicht nur aus der Erinnerung, sondern besuchte Archive, wertete alte Zeitungen aus, befragte Zeitzeugen und schrieb an Behörden. Und er hat Familienbriefe einbezogen, die sonst unbekannt geblieben wären. Beim Abschied aus dem Elternhaus 1961 vertrat er folgende Position: „Meine Haltung zu den organisierten Vertriebenen war in dieser Zeit zwiespältig. Ich verstand, dass sie mit ihrem Schicksal haderten. Vertreibung war auch in meinen Augen ein Unrecht…Andererseits stieß mich die Militanz ab, mit der die Verbandssprecher ihre Forderungen öffentlich vortrugen. Auf Kritik reagierten sie mit Unverständnis und Polemik.“
Als Rentner in Berlin, der nach dem Mauerfall noch bis 2004 für die „Berliner Zeitung“ gearbeitet hatte, begann er, diesen Standpunkt zu differenzieren. Er besuchte eine Reihe ostdeutscher Verbände und Kultureinrichtungen, wie die Zeitschrift „Deutscher Ostdienst“ und ihren Redakteur Walter Stratmann, die er mit dem kritischen Blick eines „linken Revanchisten“ (so Sohn Markus über seinen Vater) beurteilt, wie in zwei Porträts von Herbert Hupka und Erika Steinbach ausgeführt. Einfühlsam schilderte er die vergeblichen Bemühungen der SED-Politiker, das 1945 untergegangene Ostdeutschland zum geschichtslosen Niemandsland zu erklären. In Görlitz, wo heute noch Schlesisch gesprochen wird, lebte er sichtlich auf, dort führte er auch ein Gespräch mit dem in Liegnitz geborenen Bischof Hans-Joachim Fränkel (1909-1996).
Das ganze Buch durchzieht eine allmählich wachsende Zuneigung zur Geburtsheimat Schlesien, die bewusst anders ist als die seiner inzwischen verstorbenen Eltern, weil er die heute in Schlesien lebenden Polen und ihre Aufbauleistungen in seine Betrachtungen einbezieht. Besonders deutlich wird das bei seiner Wanderung 2005 mit dem damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse durch Breslau, der 1943 auch dort geboren wurde. Das Buch ist voller Anregungen und Denkanreize, auch da, wo es zum Widerspruch herausfordert, was beispielsweise die „Charta der deutschen Heimatvertrieben“ (1950) und das 1999 gegründete „Zentrum gegen Vertreibungen“ betrifft. Dass er das „Haus Schlesien“ im Siebengebirge bei Bonn besucht hat und das „Schlesische Museum“ im Görlitzer „Schönhof“, hätte ihn ermuntern sollen, auch bei der Stiftung „Ostdeutscher Kulturrat“ in der Bonner Kaiserstraße vorzusprechen.
Was er nicht erwähnt, ist: Es gab auch in Schlesien und Ostpreußen eine Arbeiterbewegung, also linke Politik von unten, was heute fast vergessen ist. Ungeklärt bleiben zwei Fragen: Waren die Schlesier tiefer in den Nationalsozialismus verstrickt als die Bayern oder die Hessen, sodass sie mit dem Verlust ihrer Heimat bezahlen mussten? Haben die Polen die deutschen Ostgebiete 1945 tastsächlich gebraucht, um anderthalb Millionen Landsleute unterzubringen, die in Gebieten lebten, die erst 1920 von Marschall Jozef Pilsudski (1867-1935) erobert worden waren?
Peter Pragal „Wir sehen uns wieder, mein Schlesierland. Auf der Suche nach Heimat“, Piper-Verlag, München 2012, 400 Seiten, 22. 99 Euro
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